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Safety-Themen

Kein Schnee von gestern

Mit dem Lawinenwarndienst Tirol beim ersten Kontrollflug der Saison

von Eliane Droemer 22.12.2018
Wintersportler, die gern im freien Gelände unterwegs sind, profitieren enorm von dem kostenfreien Service des täglichen Lawinenlageberichts (LLB). Wie während der Wintermonate täglich aus über 200.000 Daten und Beobachtungen im Gelände der Lagebericht entsteht, welche News es aus der Forschung gibt und welche Erlebnisse das Team verbindet, erfuhr Eliane Droemer Mitte Dezember beim ersten Kontrollflug der Saison 18/19 mit dem LWD Tirol.

In der Bell 412 von Heli Tirol bei Imst wird’s gemütlich. Eigentlich fasst der Hubschrauber 13 Personen, aber mit dem Team vom LWD Tirol, österreichischen Journalisten samt Kameraausrüstung und mir bekommen wir den fliegenden Kleinbus schnell voll. Der Anblick der weißen Gipfel und einladenden Hänge nach dem ersten größeren Schneefall des Winters ist atemberaubend. Wir fliegen über das Pitz- und Ötztal ins Stubaital.

Dreamteam mit internationalem Renommee

Vorn beim Piloten sitzt Paul Kössler, gelernter Elektrotechniker und seit 15 Jahren technischer Leiter des LWD. Er wird heute zwei der 200 Wetterstationen warten, die dem LWD täglich 288.000 Daten liefern. Rechts neben mir sind Rudi Mair und Patrick Nairz längst mit ihrer Arbeit beschäftigt und beobachten genau das Gelände unter uns.

Dr. Rudi Mair leitet seit 1999 den Lawinenwarndienst Tirol: „Als ich 1990 mit meiner Arbeit für den Lawinenwarndienst begonnen habe, gab es noch keine einzige Messstation,“ erzählt Mair. Heute sind die Tiroler führend bei der Entwicklung und Umsetzung neuer Technologien und Kommunikationswege. So waren sie die ersten, die im Internet und später über eine App den Lawinenlagebericht herausgaben, haben diesen Winter mit avalanche.report den weltweit ersten grenzüberschreitenden LLB mit Südtirol und Trentino auf den Weg gebracht, der zudem schon am Vortag um 17 Uhr erscheint (Mehr dazu HIER) und benutzen seit diesem Winter als einziger Warndienst außer den Schweizern den vom Schweizer SLF entwickelten SnowMicroPen© - ein spannendes Gerät, doch dazu später mehr.

Patrick Nairz sein zeitlich befristetes Volontariat beim LWD eigentlich schon beendet, als im Februar 1999 die Lawinenkatastrophe in Galtür geschah und Mair dringend Unterstützung benötigte. Seitdem sind die beiden ein eingespieltes Team.

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1000 Quadratkilometer auf einen Blick

Bei unserem Flug können sie großräumig die Windtätigkeit der letzten Tage erfassen, die Verfrachtungsstärke des Schnees sowie die Lawinenaktivitäten. Rund 1000 Quadratkilometer können wir aus der Adlerperspektive auf dem Weg bis zur Franz-Senn-Hütte im Stubaital einsehen. Wie die Experten später auf der Hütte berichten, haben sie weit weniger Selbstauslösungen gesehen als erwartet. Mair: „Wir haben derzeit die klassische Situation, bei der Lawinen vorwiegend von Tourengehern oder Variantenfahrern ausgelöst werden.“

Der Lawinenlagebericht für diesen Tag.

Wesentliche Inhalte des neuen ALBINA Lageberichts von Tirol, Südtirol und Trentino:

Beim Klick auf eine Region in der Karte öffnet sich der jeweilige LLB. Die durchdachten Symbole sind schnell zu erfassen, daher sehen Wintersportler hier auf einen Blick:
Was ist das Problem? An diesem Tag: Triebschnee und Altschnee, siehe Symbole links. In Europa werden 5 Lawinenprobleme symbolisiert.
Wo ist das Problem? Hier: Triebschnee in allen Expositionen oberhalb der Waldgrenze. Altschnee an Hängen mit der Exposition NNW bis NNO oberhalb von 2400 m.
Warum besteht das Problem? Dieser Teil weist im Fließtext auf die Gefahrenmuster hin, die mehr ins Detail gehen und die Vorgänge erklären. Vom LWD Tirol etabliert, werden von vielen Warndiensten inzwischen 10 Gefahrenmuster unterschieden.

Tipp: Jeden morgen den LLB für das gleiche präferierte Gebiet lesen. So gewöhnt man sich an die Terminologie, bekommt über den Winter hinweg ein Gefühl für die Gefahrenquellen und Gefahrenmuster und kann die Empfehlungen mit der eigenen Erfahrung vergleichen, was spannend sein kann. Zur konkreten Tourenplanung dann die Daten mit der entsprechenden Landkarte abgleichen. Die Fachbegriffe und Definitionen sind mit Fotos erläutert unter avalanches.org/

Büro auf 2750 Meter

Unser Flug dient an diesem Tag dazu, das Gesamtbild für den Lagebericht zu vervollständigen. Mair spricht hier von Synoptik als Zusammenschau, die aus vielen verschiedenen Daten und Erfahrungen die Analyse für das Gesamtbild ergibt. Und wie passen da die 288.000 Daten am Tag hinein? „So leistungsfähig ist mein Bio-Prozessor“, scherzt Mair. „Hier geht es darum, den Verlauf der Messwerte zu erfassen und Messfehler auszusortieren, sowas sehen wir auf einen Blick und können zusammen mit unserer Erfahrung daraus eine flächige Kartendarstellung entwerfen. Deshalb wird ein Prognostiker auch niemals durch einen Computer ersetzt werden können“.

Zur Datensammlung landen wir bei der Wetterstation im Kleinen Horntal auf 2.750 Meter Höhe, nachdem wir bei der Franz-Senn-Hütte noch LWD Mitarbeiter Christoph Mitterer aufgelesen haben. Der einzige Deutsche im Team koordiniert das Interreg Projekt ALBINA. „Duck and cover“ heißt es gleich nach dem Aussteigen aus dem Heli, die Wucht der Rotorblätter ist jedes Mal umwerfend, dann hebt er wieder ab. Andächtige Stille, strahlend blauer Himmel und knackige minus 18 Grad – willkommen am Arbeitsplatz des LWD.

cold place - hot shit

Die kalte Temperatur tut der guten Laune keinen Abbruch und auch der Chef sorgt für gute Stimmung: Routiniert steht Rudi Mair dem ORF für eine Langzeitdokumentation Rede und Antwort und amüsiert die Crew zusätzlich mit Rezitationen wahlweise griechischer Sagen oder Weisheiten von Heinz Erhard. Paul klettert auf die Messstation um einen Fühler zu reparieren. Später wird er noch zusammen mit Harald Riedl, dem Ausbildungsleiter der Tiroler Lawinenkommissionen, zu einer weiteren Wetterstation fliegen, die am Gipfel liegt. Hier kann Pilot Andrä nicht landen, sondern setzt im Schwebeflug nur mit einer Kufe auf. Paul klettert mit Skischuhen auf die Station, die direkt an einen 300 Meter tiefen Abgrund grenzt.

Im kleinen Horntal gräbt Patrick ein rund ein Meter tiefes Loch, um auf klassische Weise ein Schneeprofil zu erstellen. Klassisch deshalb, weil drei Meter weiter Christoph die neue „Wunderwaffe“ des LWD auspackt: den SnowMicroPen©, kurz SMP. Das rund 30.000 Euro teure Gerät wurde vom renommierten Schweizer WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF in Davos entwickelt und ist bisher auch nur bei diesem und beim LWD Tirol im Einsatz und in der Weiterentwicklung.

Handwerk versus Hightech

Das SnowMicroPen© misst innerhalb von Sekunden mit einer hochempfindlichen elektrischen Sonde, die gleichmäßig in den Schnee fährt, wie hart die Schneeschichten in bis zu 1,25 Meter Tiefe sind, ohne dass man Schnee schaufeln muss. Genauer gesagt, misst sie 250mal pro Millimeter den Eindringwiderstand. Das SMP besteht aus einem langen Sondenelement sowie der Steuer- und Datenaufzeichnungseinheit. Die Messung erlaubt Rückschlüsse auf die Schneedichte und Schneestruktur und damit auf die Schneeschichtung – ein wichtiger Faktor für die Lawinenbildung. Die Vorteile sind eine schnelle und objektive, damit vergleichbare Analyse der Schneedecke.

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Christoph nimmt an zwei Stellen Messungen mit dem SMP vor und vergleicht die Ergebnisse später mit denen von Patricks klassischem Schneeprofil. Als die beiden zusammen im Schneeloch bei der Analyse des Profils stehen, schaut sich Patrick eine harte Schicht in Bodennähe genauer an. Ich frage, ob es die im LLB benannte Altschneeschicht ist. „Ja, von Oktober“, bestätigt Patrick. Altschnee ist ein besonders tückisches, da schwierig einzuschätzendes Problem. Und es kann den gesamten Winter über anhalten. Der LWD empfiehlt in dem Fall große Steilhänge zu meiden und besonders vorsichtig zu sein in schneearmen Bereichen sowie an Übergängen von schneearm zu schneereich.

Erfahrungen

Pilot Andrä war zwischenzeitlich tanken und als er uns wieder aufliest und zur Franz-Senn-Hütte bringt, sind alle froh um die warme Stube. Wir werden von Horst Fankhauser und seinem Sohn Thomas freundlich empfangen und bewirtet, obwohl die Hütte erst im Februar öffnet. Die beiden gehören zum zuverlässigen Beobachter-Zirkel des LWD und liefern auf der Website www.franzsennhuette.at genaue Infos für die Tourengeher, die zur Hütte aufsteigen.

Allein die Vita und Erlebnisse von Horst sind legendär und verfilmt. U.a. war er Seilpartner von Reinhold Messner. Als Rudi und ich feststellen, dass wir beide unsere Erfahrungen mit Spaltenstürzen gemacht haben, zeigt er auf Horst: „Und er schaut 12 Stunden nach meinem Sturz in die Spalte und ruft dann zu seinen Kollegen: Der lebt ja noch!“ Für den damals 19-jährigen Mair war diese Erfahrung der Auslöser, sein Medizinstudium hinzuwerfen und sich seinen wahren Leidenschaften zu widmen: Meteorologie und Glaziologie.

Gleich nachdem wir wieder sicher in Imst gelandet sind, gibt Patrick noch im Hangar die Ergebnisse der Schneeuntersuchungen in den Lagebericht für den Folgetag ein, während er telefonisch Rücksprache mit seinen Kollegen in Südtirol und Trentino hält.

Fazit

200 Messstationen liefern dem LWD 288.000 Daten am Tag – das dichteste Netz weltweit. Bis zu 20 Schneeprofile und bis zu 50 Berichte werden von externen Beobachtern pro Tag geliefert. Hinzu kommen in der Woche rund drei Geländegänge der LWD Mitarbeiter und rund zehn Kontrollflüge in der Saison, die mit der Wartung der Messstationen verbunden werden.

Der hohe technische Aufwand, verbunden mit der Akribie und Motivation des Teams vom Lawinenwarndienst Tirol machen eine derart hohe und zutreffende Genauigkeit des Lawinenlageberichts möglich: Laut Horst Fankhauser liegt der Warndienst höchstens zweimal in der ganzen Wintersaison nicht ganz richtig. Der Erfolg gibt ihnen Recht: „Heute gibt es zehnmal so viele Tourengeher wie vor 20 Jahren, aber die absoluten Unfallzahlen sind konstant geblieben“, so Mair.

Wichtig ist für die Nutzer des LLB, ihn zu verstehen und die oft wiederkehrenden Probleme und Muster in der Natur zu erkennen, um entsprechend zu handeln. Das aktuelle (Dez 2018) Altschneeproblem kann sich laut Mair in diesem Winter noch entschärfen, daher ist es zu früh, ein Grundgerüst bzgl. Schneedeckenaufbau und Wetter zu formulieren…

Mehr Details mit Fotos und Analysen nach Lawinenunfällen in Tirol findet Ihr im Blog

Auch der Bayerische LWD veröffentlicht ab dieser Saison den Lagebericht um 17.30 Uhr für den Folgetag.

Lesetipp: lawine. Das Praxis-Handbuch von Rudi Mair und Patrick Nairz. 6. Auflage 2018.
Mit anschaulichen Bildern konkreter Unfallsituationen und natürlich Erklärung der entscheidenden Probleme und Gefahrenmuster. Spannend und lehrreich zugleich, ohne belehrend zu sein.

Fotogalerie

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