Eine dreitägige Skitour inmitten der bestens erschlossenen Schweizer Alpen ohne eine einzige andere Spur zu kreuzen – totale Einsamkeit. Fernab von Modeskitouren, komfortablen Hütten und belagerten Gipfeln gibt es sie noch, die stillen, beinahe unberührten Flecken in den Schweizer Bergen. Bepackt mit Zelt und Verpflegung führt die Suche nach Einsamkeit ins Unterengadin.
Endlich! Nach der Unbeständigkeit der letzten Tage prophezeien die Wettervorhersagen die ersehnte Besserung. Auch der angekündigte starke Nordostwind kann uns nicht beunruhigen. Ich treffe Salome und Jürg noch am selben Abend in Davos, um das Material zu packen. Beinahe knietief stehen wir zwischen Seilen, Zelten, Schlafsäcken, Essensvorräten und sonstigen Ausrüstungsgegenständen. Ein Blick genügt und wir wissen alle: Weniger wird auch dieses Mal mehr sein müssen. Das ohnehin schon spartanisch kleine Zweierzelt wird uns alle drei aufnehmen müssen und auch das Essgeschirr wird bis auf einen Löffel pro Person ausgemustert, da wir sämtliches Material mitschleppen müssen und unser Nachtlager jeden Tag an einem anderen Ort aufschlagen.
Jürg hat bei der Vorbereitung ganze Arbeit geleistet. In den geplanten vier Tagen stehen drei einzigartige Gipfel auf dem Programm. Piz Laschadurellas, Piz Plavna Dadaint und Piz Foraz heißen diese wunderschönen, jedoch wenig befahrenen Berge an der nördlichen Grenze des Schweizer Nationalparks. Der Skitourenführer bringt es auf den Punkt: "Piz Laschadurella: Prächtiger, aber nur selten besuchter Skigipfel; Piz Plavna Dadaint: Zählt zu den schönsten Berggipfeln des Unterengadins, doch alle Zustiege sind lang; Piz Foraz: Prachtvoller, freistehender Felsgipfel, aber allzu langer Zustieg".
Ein gelber Punkt im weißen Meer
Alle drei sind wir mehr Freerider als Tourengeher, weshalb uns vor allem auch die spannenden Abfahrten im jungfräulichen Schnee reizen. Leichte Tourenski sind deshalb kein Thema. So machen wir uns am nächsten Morgen mit unseren breiten Freerideski an den ersten Aufstieg durch das Val Laschadura östlich von Zernez. Erst will das Wetter nicht so richtig mitspielen. Bald jedoch lichtet sich die Wolkendecke und die ersten Sonnenstrahlen gesellen sich zu uns. Am Fuße des Piz Laschadura erwartet uns eine märchenhafte, vom Wind modellierte Schneelandschaft. Auf einer kleinen, windgeschützten Kuppe errichten wir unser erstes Lager. Da unser Gipfelziel erst noch bevorsteht, lassen wir sämtliches nicht benötigtes Material im Zelt zurück. Mit den nun deutlich leichteren Rucksäcken ist der Piz Laschadurella schnell erreicht.
Weit unten verliert sich ein unscheinbarer gelber Punkt im weißen Wellenmeer. Verschwindend klein scheint unser Zelt von den mächtigen Schneemassen verschluckt zu werden. Nicht nur der einzigartige Rundblick auf die wunderschöne Bergwelt des Engadins und der benachbarten italienischen Alpen rauben uns schier den Atem. Der starke und eisig kalte Nordostwind zerrt und rüttelt an unseren Körpern. Weiße Flecken an Wange und Nase sind erste Warnsignale und lassen uns schleunigst die Abfahrt durch die felsdurchsetzte Nordwestflanke in Angriff nehmen. Der Schnee ist stark verweht und die möglichst sichere Routenwahl erfordert unsere ganze Erfahrung. Ich versuche noch einige Fotos von Jürg und Salome zu schießen, doch mein Objektiv hat vor Wind und Wetter bereits kapituliert. Zurück beim Zelt bleibt noch einiges zu tun. Und obwohl wir drei noch nie in dieser Zusammensetzung in den Bergen unterwegs waren, ist unser kleines Team schnell eingespielt. Die Kältegrube will ausgehoben, eine Windschutzmauer geschaufelt, das Zelt verankert und schaufelweise Schnee geschmolzen werden. Unser kleines Zelt muss sowohl als Schlafplatz wie auch als Küche herhalten. Jürg und Salome erweisen sich als wahre Meister im Umgang mit dem Kocher und zaubern auf kleinstem Raum einen Mehrgänger aus dem Kochtopf.
Aufgrund der tiefen Temperaturen sind wir peinlichst darauf bedacht, alle feuchten Kleidungsstücke mit in den Schlafsack zu nehmen. Ein Zweierzelt ist für drei Personen ohnehin schon eng bemessen, mit unseren Schuhen, den Steigfellen, Kleidern und Handschuhen im Schlafsack ist an Komfort nicht wirklich zu denken. Zumindest hält uns die körperliche Nähe einigermaßen warm.
Schneebericht hautnah
Am nächsten Morgen folgt die Überraschung, die eigentlich gar keine ist: Es hat geschneit! Nicht draußen, dafür aber in unserem Zelt. Der Wasserdampf, den wir drei in unserer engen Behausung während der Nacht produziert haben, reicht für "Pulver, gut" auf unseren Schlafsäcken! Der warme Frühstücksporridge weckt jedoch schnell unsere Lebensgeister und so machen wir uns dennoch erstaunlich ausgeruht auf die folgende Etappe. Über die Fuorcla Laschadurella wollen wir heute unser Hauptziel, den majestätischen Piz Plavna Dadaint, erreichen. Hinter der Passhöhe tauchen wir kurzzeitig unter die Hochnebeldecke, doch schon beim Aufstieg zu unserem zweiten Biwakplatz entwischen wir der grauen feuchten Masse. Langsam wandert der mächtige Piz Plavna Dadaint in unser Blickfeld, seine schroffe Spitze ragt erhaben in den tiefblauen Himmel. Gleich neben einer großen Schneeverwehung finden wir den perfekten Standort für unser Lager. Die Zeit drängt. Wir müssen schleunigst los. Beim steilen Aufstieg sind auch die Harscheisen bald einmal keine Hilfe mehr und wir binden unsere Ski auf den Rucksack. Der Atem pfeift, der Schweiß dringt aus allen Poren. Eine wahre Plackerei. Jürg bricht beim Spuren durch das 40° steile Westcouloir immer wieder knietief durch die Schneedecke. Als wäre dies noch nicht genug, ringt Salome mit heftigen Darmkrämpfen und Übelkeit. Die hinterhältigen Grippeviren lassen nicht locker. Dennoch lässt sie sich kaum etwas anmerken und steigt zusammen mit Jürg noch bis ganz oben zum Gipfelkreuz. Doch nach den Anstrengungen dieses langen Tages sind unsere Thermosflaschen leer und der Durst treibt uns sehnsüchtig hinunter zu unserer Schmelzpfanne und dem Benzinkocher.
Rein in die gute Stube
Während Jürg kräftig einheizt, schaufle ich in unserer benachbarten Schneewelle eine kleine Esszimmer/Küchenkombination aus. Salome hat es leider voll erwischt. Sie muss sich eine kurze Auszeit gönnen und pendelt zwischen Schlafsack und Abort. Durch Jürgs Kocherei ist es in unserer Schneehöhle schon fast gemütlich warm geworden und wir Jungs schlagen uns die Bäuche mit Salamistücken verfeinerter Polenta voll. Auch Salome gesellt sich zu uns, es geht ihr mittlerweile wieder etwas besser. Beim üppigen Dinner hält sie sich verständlicherweise zurück.
Als Schlafplatz wäre unser Schneeloch dann doch etwas zu klein und so verkriechen wir uns rasch ins Zelt. Da ich aber noch die obligaten langzeitbelichteten Nachtaufnahmen in den Kasten bringen möchte, schäle ich mich zähneknirschend wieder aus dem warmen Schlafsack. Der Nordostwind leistet erneut ganze Arbeit, draußen ist es empfindlich kalt. Zieht man die Handschuhe aus, verabschiedet sich binnen einer Minute sämtliches Gefühl aus den Fingern. Wie der Name schon verrät können Langzeitbelichtungen eine ganze Weile dauern und die Kälte schleicht erbarmungslos durch die feuchten Innenschuhe in die Zehen. So versuche ich die Belichtungszeit mit ziemlich ungelenken Gymnastikübungen zu überbrücken. Springend und hüpfend bestaune ich das Sternendach über uns. Unglaublich, wie intensiv die vielen kleinen Lichter den klaren Nachthimmel erstrahlen lassen. Nach einiger Zeit kann mich auch der schönste Sternenhimmel nicht mehr im eisigen Wind halten und ich schlüpfe wieder zu den anderen ins Zelt.
Powder zum Dessert
Am frühen Morgen des dritten Tags, verschlechtert sich das Wetter zusehends. Dichte Wolken ziehen auf und die Temperatur ist merklich angestiegen. Wir müssen unser ursprüngliches Vorhaben, auch noch den Piz Foraz zu befahren, überdenken. Da es in dieser Ecke der Schweiz keinen Mobilfunkempfang gibt, ist die weitere Entwicklung der Wetter- und Lawinensituation nun das große Fragezeichen in der Planung unseres weiteren Vorhabens. Schweren Herzens entschließen wir uns daher, den Piz Foraz auszulassen. Dennoch steigen wir weiter ostwärts hinauf zum breiten Sattel der Fuorcla Pedrus.
Voller Vorfreude auf die weiten Osthänge hinunter ins Val Plavna ziehen wir Schritt für Schritt unsere einsame Spur in den Schnee. Flugs folgt die herbe Enttäuschung: Windgepresster Harschdeckel der übelsten Sorte macht das Fahren mit dem schweren Rucksack zu einer Kräfte raubenden Angelegenheit. Doch wer hätte es gedacht: Schon nach 100 Höhenmetern zeichnen wir weite Kurven in den traumhaften Tiefschnee! Satte 700 Höhenmeter geben wir uns dem Rausch hin, dann stehen wir mit breitem Grinsen im Gesicht zuhinterst im Talboden des Val Plavna. Warm ist es geworden, zu warm. Bestätigt in unserem Entschluss auf den Piz Foraz zu verzichten, nehmen wir die letzten 10 Kilometer talauswärts nach Tarasp unter die Ski. Während unserer ganzen Tour hat keine einzige Menschenseele unsere Spur gekreuzt. Nun stehen wir etwas verloren inmitten der Touristenmassen am Bahnhof Scuol. In Gedanken wird uns die Einsamkeit der Engadiner Berge aber nicht so bald wieder loslassen.
Text und Fotos: Simon Starkl
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