"Gesagt ist nicht gehört, gehört ist nicht verstanden, verstanden ist nicht einverstanden, einverstanden ist nicht angewendet, angewendet ist nicht beibehalten." (Konrad Lorenz)
Jeder, der in den Bergen unterwegs ist, kennt die Situation, sich entscheiden zu müssen, einen Hang zu befahren, oder zu verzichten, weiterzugehen oder umzudrehen. Diese scheinbar unwichtige Entscheidung kann im schlimmsten Fall über Leben und Tod entscheiden. Folglich könnte man denken, dass diese Entscheidung so vernünftig und rational wie möglich getroffen wird. Treffender wäre, zu schreiben, dass die Entscheidung vernünftig getroffen werden SOLLTE. Jeder kennt den Spruch, mit dem sich selbst die grottenfalscheste Entscheidung schönreden lässt, "des paasst scho". Dieser Ausspruch (in seinen verschiedenen Versionen) ist genau das Gegenteil, von dem, was wir Freerider und Freeskier im Winter machen müssen: Nämlich eigenverantwortlich die richtige Entscheidung zu treffen. "Des paasst scho" bedeutet eine existierende Gefahr klein zu reden, nach dem Motto, "es ging immer gut, warum soll es also ausgerechnet jetzt schief gehen und gerade mich treffen."
"Da wir die Tendenz haben, an unseren Bildern und Vorstellungen festzuhalten, suchen wir bevorzugt nach Informationen, die diese bestätigen, und blenden Informationen, die wir entweder nicht einordnen können oder die ihnen widersprechen aus. Unsere Wahrnehmung ist also subjektiv und selektiv." (Alle Zitate stammen von Bernhard Streicher (Psychologe, Mitglied des OEAV-Lehrteams Erlebnispädagogik, (Quelle: BergUndSteigen, Ausg. 3/04, S. 17ff.)
Dieser Hang ist sicher?
Wenn wir davon überzeugt sind, dass genau
d i e s e r Hang lawinensicher ist, weil wir ihn schon 300mal befahren haben und weil es hier noch nie eine Lawine gegeben habe, dann blenden wir Hinweise systematisch aus, die für eine instabile Schneedecke und Lawinengefahr sprechen – und nehmen bevorzugt Informationen wahr, die für unser "Fiktion" vom lawinensicheren Hang sprechen. "Dieser Vorgang der selektiven Informationssuche findet nicht bewusst statt und ist besonders groß bei starken Überzeugungen und nach getroffenen Entscheidungen. Wenn wir uns also zwischen zwei oder mehreren Alternativen entschieden haben und z.B. noch eine Gratüberschreitung trotz heftiger Quellwolkenbildung unternehmen, sind wir besonders gefährdet, nur noch die Informationen wahr zu nehmen, die für die gefällte Entscheidung sprechen. Dies ist alles kein Problem, so lange die Entscheidung richtig ist. Ist sie aber falsch oder sehr risikoreich, laufen wir Gefahr, warnende Hinweise auszublenden. Ein weiterer Irrtum, dem wir oft im Alltag erliegen, ist die Vorstellung, dass wir in der Lage seien, optimale, zweckrationale Entscheidungen zu treffen. Um rationale Entscheidungen treffen zu können, müssten wir zunächst in der Lage sein, alle relevanten Informationen aufzunehmen. (Aber) wir (sind) gar nicht in der Lage, überhaupt alle Informationen wahr zu nehmen. Selbst wenn wir dies könnten, hätten wir nicht die geistigen Möglichkeiten, diese Informationen zu verarbeiten. Hinzu kommt aber noch ein weiterer entscheidender Faktor: Wir sind keine vollständig rationalen Wesen. Unsere Gefühle, Wünsche und aktuellen Bedürfnisse wirken immer auf unsere Entscheidungen mit ein. So kommt es, dass wir uns für die riskante Abfahrt über einen lawinengefährdeten Hang entscheiden, anstatt einen unangenehmen, aber dafür sichereren Umweg in Kauf zu nehmen.
Falsche Entscheidungen – falsche Schlüsse
Bei der Beurteilung der Lawinengefahr kann man lange Zeit so ziemlich alles falsch machen – trotzdem sind die Überlebenschancen nicht schlecht. Allerdings sinkt die Chance, dass das gut geht, je mehr Zeit man in den Bergen verbringt. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Sportler ihres hochriskanten Verhaltens oft gar nicht bewusst sind. Im Gegenteil: Sie glauben, richtig zu handeln! Schließlich betreiben sie schon seit X-Jahren "sicher" ihren Sport – und bis jetzt ist noch nichts passiert, – anderen allerdings schon. Was passiert also in solchen Situationen in unserem Gehirn Unabhängig von unserer Intelligenz ziehen wir aus unserem falschen Verhalten die falschen Schlüsse: Bis jetzt war ich nie in einer Lawine, also habe ich immer alles richtig gemacht!? Und ehrlich: Wer kennt die Situation nicht: Ein genialer Tag, Mega-Schnee – und irgendwann steht man mit den Kollegen oberhalb eines Hanges, und weiß nicht, ob man diesen Hang befahren soll oder nicht. Was passiert jetzt in vielen Fällen? Na klar: Die Gruppe fängt an zu diskutieren – und wenig später wird der Hang befahren. Und nichts passiert, keine Lawine. Also, alles easy, die Entscheidung war ja richtig.
Nein, falsch! Häufig wird in solchen Gruppen-Diskussionen die Gefahr klein geredet bzw. zerredet, anstatt die vernünftige und richtige (Umkehr-)Entscheidung zu treffen. Fast immer ist es so, dass, wenn gegen einen Hang Bedenken bestehen, diese Bedenken ihren Grund haben. Aber die Entscheidung "NEIN" zu sagen, fällt uns extrem schwer. Und das JA ist so verlockend. Spritzender Powder – und dazu noch Endorphine. Dabei ist das NEIN-sagen können, eine der zentralen Fähigkeiten, die ein Mensch im Gebirge zum Überleben braucht. Häufig können wir das auch sehr gut: Zum Beispiel gibt es nicht viele Rider, die kurz nach 8 Uhr beim ersten Run freiwillig ein 10 Meter Cliff springen (ich gehöre nicht dazu.) Mittags – man ist gerade richtig schön im Powder-Rausch – fällt einem die Entscheidung, einen lawinengefährdeten Hang zu befahren, um so vieles leichter, als der vielleicht nur 7-Meter-tiefe Sprung am Morgen. Gründe hierfür sind, dass wir uns – nachdem wir warm gefahren und inzwischen völlig Powder-geil sind – viel mehr zutrauen, als wenn wir uns unsicher fühlen. Dieser Mechanismus ist richtig. Aber nur in Bezug auf den Cliff-Drop! Er ist lebensgefährlich in Bezug auf den Lawinenhang. Denn der Lawine ist es egal, ob wir uns gerade so richtig gut fühlen oder ob wir noch ein bisschen den Muskelkater vom Vortag spüren. Jetzt muss ich nochmals auf das Entscheiden in der Gruppe zurückkommen: Überleg mal, wer sich in Gruppen, die du kennst, besonders oft durchsetzt. Ich vermute stark, dass das ganz oft die gleichen Leute sind: die sog. Top-Dogs oder Alpha-Tiere. Das ist in Ordnung, solange die Alphas die Entscheidungen in Bereichen treffen, wo sie sich extrem gut auskennen, oder es nicht um Leben und Tod geht. Was aber, wenn sie nur entscheiden, weil sie so gut Skifahren können? Was aber, wenn sie nur entscheiden, weil sie besonders selbstsicher sind? Was aber, wenn sie entscheiden, weil sie gewohnt sind, zu entscheiden? Was dann? Scheiße dann!? Was hilft dagegen? Jetzt kommt das Pädagogen-Gelaber, aber es hilft nichts anderes: Gehe nur mit Leuten ins Gebirge, die auch – selbst wenn die Gefahr nicht offensichtlich ist – NEIN sagen können, die bereit sind, zu verzichten.
Die Risikospirale des weißen Rauschs
Die positive Rückkoppelung ist alles andere als positiv! Sind wir am Anfang des Tages oft noch vorsichtig und zurückhaltend, riskieren wir im Laufe des Tages immer mehr, schließlich sind wir ja bis jetzt für unseren Wagemut belohnt worden aber irgendwann ist die Grenze (weit) überschritten!
Wichtige Grundregeln
Gehe nicht mit Leuten ins Gebirge, die ständig für andere mitentscheiden – oder mit solchen, die in eine, oft unausgesprochene, Konkurrenzsituation verwickelt sind, wer denn nun der bessere/radikalere Freerider sei.
Versuche generell Konkurrenzsituationen und Leistungsdruck beim Freeriden zu vermeiden.
Mache dich nicht zum Sklaven deines Egos und des Powder-Wahns! Die Einstellung, dass ein Tag nur perfekt wäre, wenn du die oder die Abfahrt gemacht hast, erhöht dein Risiko und reduziert den Spaß, da der selbstgemachte Druck den Blick auf mögliche Alternativ-Abfahrten und -Routen erschwert.
Dass an diesen Regeln etwas dran ist, belegt schon die Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der Lawinentoten männlich ist. Komisch eigentlich, oder vielleicht auch nicht? Häufig herrschen in Gruppen große Hemmungen, Bedenken zu äußern. Schließlich steht niemand gerne als Spaßbremse und Angsthase vor seinen Kumpels da.
Das Experiment
"In einem berühmten sozialpsychologischen Experiment (Asch-Experiment, 1956) zur Konformität unter Gruppendruck wurden neun Versuchsteilnehmen Dias mit je drei Linien deutlich unterscheidbarer Länge gezeigt. Die Aufgabe bestand darin, die jeweilige Linie zu benennen, die in ihrer Länge einer gleichzeitig dargebotenen Vergleichslinie entsprach. Von neun Teilnehmern pro Versuch waren acht Verbündete des Versuchsleiters, die nur so taten als ob sie Versuchspersonen wären, und nur einer eine echte Versuchsperson. Die Verbündeten waren so instruiert, dass sie in 66% der Fälle falsche Urteile abgaben, d.h. einmütig eine falsche Linie benannten. Dadurch wurde eine Form von Gruppendruck auf die echte Versuchsperson ausgeübt. Dem falschen Urteil schlossen sich über 30% der echten Versuchspersonen an. Bei einigen Versuchspersonen führte der Gruppendruck dazu, dass sich deren Wahrnehmung tatsächlich änderte und sie der Meinung waren, die genannte Linie habe die gleiche Länge wie die Vergleichslinie."
Lösungen aus der Gruppendruck-Falle:
- Jeder muss seine Bedenken äußern können!
- Jeder muss gehört werden, abfällige Bemerkungen sind extrem kontra-produktiv!
- Entscheidungen müssen gemeinsam gefällt und von allen getragen werden!
- Ist ein Gruppenmitglied davon überzeugt, dass der Hang nicht befahren werden sollte, dann ist Verzicht angesagt! Das kann stark lebensverlängernd wirken!
- Nochmals: Eine der zentralen Qualitäten, die wir Freerider/Freeskier benötigen, ist diejenige, NEIN zu sagen!
- Dieses NEIN fällt oft extrem schwer. Unglaublich schwer. - Ich habe mich häufig dabei ertappt, dass ich – wissentlich! – viel zu hohe Risiken eingegangen bin. Inzwischen beschäftige ich mich seit mehreren Jahren intensiv mit Lawinenkunde und Risiko-Check. Und dann stehe ich plötzlich in einem mehr als 40 Grad steilen Hang und steige diesen hoch. Auf einmal spüre ich, dass die Schneedecke des gesamten Hanges wackelt. Scheiße, denke ich, das sind 4 Quadratkilometer Steilhang, – das sind Millionen Tonnen von Schnee! Und was tue ich? Natürlich sofort mein Board anschnallen und weg? Maul halten und weiter. Ich stapfe tatsächlich weiter! Ich habe nichts zu meinem Kollegen gesagt, sondern bin einfach mit wackligen Knien weitergestiegen. Warum? Der Grund ist, dass ich unbedingt den Hang fahren wollte, der sich auf der anderen Gratseite befindet. Ein anderer Grund sind vielleicht die vier Local-Freerider, die völlig unbeeindruckt 100 Meter vor mir den Berg hochsteigen. Hat mein Kollege das Wackeln nicht bemerkt? Warum sagt er denn nichts? Vielleicht hat er nichts gesagt, weil ich nichts gesagt habe?
- "Die klassische Verantwortungsfalle besteht darin, dass der Leiter trotz seiner Bedenken weitergeht, weil die Gruppe ohne Einwände hinter ihm hergeht. Die Gruppe folgt dem Leiter wiederum trotz vorhandener Bedenken, weil der Leiter immer noch vorausgeht und dadurch ebenfalls der Eindruck entsteht, es sei alles in Ordnung." Tja, der Hang hat gehalten, sonst könnte ich diesen Beitrag nicht mehr schreiben. Aber das ändert gar nichts daran, dass ich bzw. wir eine klare Fehlentscheidung (belegt durch die Bewegung in der Schneedecke) getroffen haben. Was lerne ich daraus? Ich muss konsequent NEIN sagen können! Dieses NEIN-sage-Problem haben Lawinenexperten wie Werner Munter erkannt, und deshalb Risiko-Check-Tools wie die Reduktionsmethode entwickelt. Diese Methoden haben eine klare Risiko-Obergrenze, die uns wie eine Ampel eine Anweisung gibt: Stopp or go! Risiko-Managementmethoden wie 3x3 bzw. Reduktionsmethode können helfen, dass wir uns nicht selbst betrügen. Denn sie zwingen uns, auch diejenigen Faktoren und Hinweise wahrzunehmen, die wir sonst allzu gerne "vergessen" wahrzunehmen. Auch diese Tools geben uns keine 100prozentige Sicherheit, aber das bietet bekanntlich keine Methode. ?Das hier beschriebene Probleme ist zugleich die Überschrift des Artikels: Lawinenkunde muss auch Menschenkunde sein! Denn egal wie viel ich über Schnee und Lawinen weiß, entscheidend für MEIN Überleben im Gebirge ist, dass ich im Zweifelsfall NEIN sagen kann. Und dieses NEIN muss ich in die Tat umsetzen, auch wenn?s mal hart ist, weil die Kollegen später freudestrahlend erzählen, ich hätte den besten Run des Winters verpasst. Und selbst wenn das jetzt wehtut – zumindest meinem Ego! – habe ich doch die Gewissheit, diesmal alles richtig gemacht zu haben. NEIN sagen kann so schwer sein. Aber JA sagen, kann auch feige sein!
"Lockt der Powder, bockt der Verstand." (W. Ammann, ehemalige Direktor des Schnee- und Lawinenforschungszentrums, SLF)