Zum Inhalt springen

Cookies 🍪

Diese Website verwendet Cookies, die Ihre Zustimmung brauchen.

Details finden Sie in unserer Datenschutzerklärung

This page is also available in English.

Zur Powderguide-Startseite Zur Powderguide-Startseite
Bergwissen

Tücken der Statistik: werden wirklich nur andere Wintersportler von Lawinen getötet?

Zusammenfassung einer Studie von Krister Kristensen, Manuel Genswein und Werner Munter

von Tobias Kurzeder 27.12.2013
Die Autoren versuchen das statistische Risiko im Verlauf eines Lebens als Wintersportlers von einer Lawine getötet zu werden, zu beziffern. Ausgangspunkt ihrer Untersuchung ist das Problem, dass trotz stark verbesserter Lawinenausbildung und Risikomanagement-Methoden immer wieder gut ausgebildete und erfahrene Wintersportler durch selbstverschuldete Lawinenunfälle ums Leben kommen.

Die Autoren versuchen das statistische Risiko im Verlauf eines Lebens als Wintersportlers von einer Lawine getötet zu werden, zu beziffern. Ausgangspunkt ihrer Untersuchung ist das Problem, dass trotz stark verbesserter Lawinenausbildung und Risikomanagement-Methoden immer wieder gut ausgebildete und erfahrene Wintersportler durch selbstverschuldete Lawinenunfälle ums Leben kommen.  Warum gehen Sportler, die genau wissen müssten, was sie tun, derart hohe Risiken ein? Ein Teil der Antwort besteht darin, dass das Risiko durch eine einzelne falsche Entscheidung, in einem potentiellen Lawinenhang ums Leben zu kommen, sehr gering ist. Kommt es aber zu einem Unfall, sind die Folgen häufig fatal. Wenn man die Restrisiken aller Skitouren- und Freeridetage eines Wintersportlerlebens addiert, wird die Todeswahrscheinlichkeit mit einem Mal erschreckend hoch. Dieses kumulierte Risiko wird jedoch von den wenigsten Wintersportlern erkannt bzw. von den meisten verdrängt.

Warum begeben wir uns entgegen unserem Wissen um die potenziell tödlichen Folgen immer wieder in große Gefahr?

In den letzten Jahren und Jahrzehnten ist die Anzahl der Lawinenunfälle in Relation zur steigenden Zahl von Wintersportlern im freien Skiraum deutlich gesunken. Doch trotz zunehmendem Bewusstsein über die Lawinengefahr sind die Unfallmuster konstant geblieben: Auffallend viele gut ausgebildete Wintersportler kommen in Lawinen ums Leben. Kristensen, Genswein und Munter gehen der Frage nach, weshalb immer wieder Skitouren und Freeride-Unternehmungen in Lawinenunfällen enden, obwohl die Wintersportler aufgrund ihres Know-hows in der Lage waren, die Lawinengefahr richtig einzuschätzen. Bloßer Zufall bzw. Pech und Restrisiko können die vergleichsweise hohe Anzahl von Unfällen bei offensichtlich gefährlichen Situationen nicht ausreichend erklären.

Auch Ich bin ein Teil der Statistik – der Schlüssel zur weiteren Reduzierung der Lawinenunfälle

Kristensen, Genswein und Munter stellen die These auf, dass der Schlüssel zu einer weiteren Reduzierung der tödlichen Lawinenunfälle nicht in der Verbesserung des Wissens um die Lawinengefahr besteht. Stattdessen fordern sie, das Bewusstsein der Wintersportler dafür zu erhöhen, wie hoch ihr persönlich-individuelles Todesrisiko ist.

Würden Menschen ausschließlich oder überwiegend rational entscheiden, dann könnte die aktuelle Unfallstatistik (bei erfahrenen Wintersportlern) als dasjenige Risikolevel angesehen werden, dass Tourengeher und Freerider einzugehen bereit sind: Die Lawinentoten wären dann der bewusst akzeptierte Preis für die Freiheit, sich im Gebirge auf eigene Verantwortung zu bewegen. Die Autoren stellen die These auf, dass sehr viele Wintersportler ein sehr hohes Todesrisiko auf sich nehmen, ohne sich bewusst zu sein, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, in einer Lawine ums Leben zu kommen. Menschen können im Leben (fast) nichts erreichen, ohne Risiken einzugehen. In der Theorie wird daher auf die Idealfigur des „rational agents“ zurückgegriffen. Dieser Akteur ist bereit Risiken einzugehen, wenn der zu erwartende Nutzen die Risiken übersteigt und je größer die Gewinnerwartung, umso höher die Bereitschaft hohe Risiken einzugehen. Psychologische Studien belegen, dass die Risikowahrnehmung stärker durch Erfahrung und Emotionen, anstelle durch Wissen über (Unfall-)Wahrscheinlichkeiten beeinflusst wird. Ein entscheidendes Problem bei der Risikowahrnehmung scheint in der häufig fehlenden Fähigkeit zu liegen, das abstrakte, statistische Todesrisiko als mögliche Konsequenz des eigenen Handelns und Entscheidens zu erkennen. Menschen können Wahrscheinlichkeiten immer dann besonders schlecht einschätzen, wenn sie kein oder wenig Feedback erhalten. Und um eine solche Situation handelt es sich bei Entscheidungen im Lawinengelände: Denn selbst in kritischer Situationen und bei Fehlentscheidungen kommt es nur selten zu Lawinenabgängen. Wir Menschen denken Wahrscheinlichkeiten derart, dass es sich hierbei um die Menge bzw. relative Häufigkeit von Ereignissen bezogen auf lange Zeiträume handelt. Formale, statistische Entscheidungsmethoden sind hingegen ein sehr neues Werkzeug und stehen diesem Gefühl für Wahrscheinlichkeiten entgegen. Ein Problem von statistischen Aussagen über Unfall- oder gar Todeswahrscheinlichkeiten besteht darin, dass die Aussagen notwendigerweise hochgradig abstrakt sind: Dies führt dazu, dass man beim Lesen von Statistiken fast immer davon ausgeht, dass andere betroffen sind bzw. sein werden, man selbst aber nicht. Und so wird der Vorteil von Statistiken zu ihrem Nachteil: Durch die Abstraktion verlieren sie einen Teil ihrer „gefühlten“ Realität. 

Lifetime Risk

Werner Munter hat in „3x3 Lawinen“ die Todeswahrscheinlichkeit verschiedener Wintersportarten untersucht. Nach Munters Einschätzung ereigneten sich in den 1980er Jahren in der Schweiz, auf 36.000 Skitouren ein tödlicher Unfall. Ein solches Risiko bewertete er als viel zu hoch und er postulierte stattdessen seinen Risikogrenzwert von 1:100.000, was ein Lawinenopfer auf 100.000 Skitourentage impliziert. Dieser Grenzwert wird in Munters Reduktionsmethode als Restrisiko 1 bzw. RM 1 ausgedrückt. Berechnet man mit Hilfe der Formel der Reduktionsmethode die tödlichen Lawinenunfälle der 1980er Jahre, so sind diese bei einem durchschnittlichen Restrisikowert von 2,2 passiert. Werner Munter macht sich auch für die sog. „Limits“ stark: diese Limits sollen Restrisiken von RM 2 (1 Toter auf 50.000 Touren) und höher vermeiden. Der Amerikanische Lawinenexperte Bruce Tremper nennt diesen Grenzwert die „Stupid Line“. Der in der Tabelle verwendete extreme Risikogrenzwert 4 entspricht dem durchschnittlichen Restrisiko, das bei den besonders schweren Unfällen (mit mind. 5 Todesopfern) in den 80er Jahren eingegangen wurde. RM 4 bedeutet 1 Toter auf 25.000 Skitouren. Munters Empfehlung lautet hingegen unter oder um den Risikogrenzwert 1 zu bleiben und die Limits (RM 2) als Obergrenze zu akzeptieren. Diese Limits solle jedoch nur in besonderen Situationen und Umständen eingegangen werden. Der Grenzwert RM 1 beinhaltet aufgrund der statistischen Streuung ein individuelles Risiko von 1:50.000 bis 1:200.000. Dass der Restrisikowert RM 1 der Reduktionsmethode ein von den meisten Wintersportlern (zumindest im Tourenbereich) akzeptierter Grenzwert zu sein scheint, wird durch eine Langzeit-Studie des Summit Clubs (DAV) gestützt: Das durchschnittliche Risiko, das die Bergführer während 5000 geführter Tourentage eingingen, entsprach dem Restrisiko RM 0,8. Da davon auszugehen ist, dass die meisten Wintersportler diese Touren als genussvolle Bergerlebnisse empfunden haben, spricht dieses Ergebnis für die Empfehlung der Risikogrenze von RM 1, was als grüner Bereich im Diagramm abgebildet ist.

Die meisten ausgebildeten Wintersportler und insbesondere Gruppenleiter oder Bergführer sind heute in der Lage, problematische Entscheidungsfallen zu erkennen. Doch zu verstehen und zu akzeptieren, was die statistische Wahrscheinlichkeit von tödlichen Unfällen für den Einzelnen bedeutet, scheint für viele Wintersportler nach wie vor sehr schwierig. Das Problem von Entscheidungen im Lawinengelände besteht nach wie vor darin, dass die Wahrscheinlichkeit eine Lawine auszulösen gering ist, die Folgen eines möglichen Lawinunfalls jedoch dramatisch hoch sind. Um diesem Problem gerecht zu werden, fordern die Autoren die Entwicklung von Trainingsmethoden, die ein unmittelbares Feedback ermöglichen: ob Entscheidungen richtig oder falsch sind bzw. wie hoch deren Risiko ist. Dies könnte helfen zu verhindern, dass Wintersportler aus der besonders risikofreudigen Vielfahrerkategorie, ohne sich dessen bewusst zu sein, ihren Sport mit besonders hohen Todeswahrscheinlichkeiten ausüben (siehe hierzu die Tabelle 1). Mittelfristig könnte dies auch dazu führen, dass die individuelle Todeswahrscheinlichkeit bei Skitouren und beim Freeriden weiter sinkt.

„Code of Honor“ – Empfehlung um die Wahrscheinlichkeit tödlicher Unfälle zu reduzieren 

Elementare Vorsichtsmaßnahmen:- Immer die vollständige Lawinennotfallausrüstung mitführen
- Alarmzeichen beachten: Wumm-Geräusche, frische Lawinen, Fernauslösungen sind Kriterien, die Tour abzubrechen
- Sicherheitsabstände einhalten, wenn Zweifel an der Schneedeckenstabilität bestehen.  Akzeptieren der Risiko-Obergrenze „Limits“:- Bei großer Lawinengefahr (Warnstufe 4) Gelände befahren, das unter 30 Grad steil ist.
- Bei erheblicher Lawinengefahr (Warnstufe 3) Gelände befahren, das unter 40 Grad steil ist.
- Bei mäßiger Lawinengefahr (Warnstufe 2) Schattenhänge vermeiden, die 40 Grad oder steiler sind, wenn sie unverspurt sind.

Hier könnt ihr über den Artikel bzw. die Studie diskutieren… Hier kann der Original-Artikel runtergeladen werden…   

Kommentare

Bergwissen
presented by