In seinem Buch "Gratwanderung" thematisiert Uli Auffermann eine meist unbekannte Seite berühmter Bergsportler: Auffermanns Buch handelt von der Unsicherheit, dem warnenden Bauchgefühl und dem berühmten sechsten Sinn, der überlebenswichtig sein kann. Dieses Buch vereint 38 persönliche Erlebnisse von mehr oder weniger bekannten, aber herausragend erfahrenen Alpinisten und Bergführern, die allesamt von ihrer Wahrnehmung eines unerklärlichen, unguten Gefühls berichten, das trotz scheinbar objektiv günstiger Verhältnissen auftrat. In vielen Geschichten bestätigt sich letztlich, dass das Bauchgefühl nicht trügerisch war. Manche der Erzählungen enden aber auch ohne ein eindeutiges Ergebnis, ob nun der sechste Sinn vor einer gefährlichen Situation schützte oder nicht. Der Herausgeber Uli Auffermann baut die einzelnen Erzählungen in seinem Buch nach dem stets selben Muster auf: Jedes Kapitel startet mit einem kurzen Abriss über die Bergerfahrung des jeweiligen Alpinisten oder Bergführers und dessen Beziehung zum Berg. Anschließend folgt eine meist recht anschauliche Darstellung des individuellen Erlebnisses am Berg, das meist zum Rückzug führte. Der Autor selbst betont hier immer wieder deutlich die Bedeutung des sechsten Sinns. Dieses Gespür deutet er als das Ergebnis vieler, unbewusst gesammelter Erfahrungen am Berg während kritischer Situationen, die in ähnlichen Situationen wieder instinktiv aufgerufen werden und sich dann als schlechtes Bauchgefühl bemerkbar machen. Letztlich schließt das Kapital mit einem kurzen Portrait des jeweiligen Alpinisten oder Bergführers. Auffermann verdeutlicht im Mittelteil das Können und die Erfahrung der im Buch zur Sprache kommenden Persönlichkeiten durch spektakuläre Bilder. Das Buch beinhaltet ohne Zweifel zahlreiche faszinierende Geschichten erfahrener Bergsportler, bei denen dem Leser bewusst wird, dass es wichtig ist, auf ein warnendes Gefühl zu hören und nicht den trügerischen, objektiv „sicheren“ Verhältnissen zu trauen. Auffermann schneidet hier also ein zweifellos wichtiges Thema für alle Bergsportler an. Natürlich bleibt es fraglich, ob gerade ein Bauchgefühl oder ein sechster Sinn empirisch erfasst werden kann. Ein wichtiges Motiv des Herausgebers scheint darin zu bestehen, durch die Sammlung verschiedener „Geschichten“, das an sich nicht greifbare Phänomen des schlechten Bauchgefühls zu belegen. Und weiters ist es ein Plädoyer dafür, den eigenen Gefühlen mehr Vertrauen zu schenken. Viele Geschichten sind beeindruckend; einige aber auch weniger überzeugend, da sie keinerlei "Hilfe" des sechsten Sinns dokumentieren. So wird beispielsweise davon berichtet, dass ein bereits gebuchtes Flugzeug nicht betreten wurde oder man nicht in die Kletterroute eingestiegen ist. Eine nachträgliche gefährliche Situation gab es aber nicht. Diese Geschichten werden nur dadurch lehrreich und glaubhaft, weil hier erfahrene Persönlichkeiten des Alpinismus einen Rückzug gewagt haben. Genau hier liegt jedoch eine Schwäche dieses Buches: Auffermann thematisiert den zweifellos (überlebens-)wichtigen Instinkt im Bergsports, über den gerade erfahrene Alpinisten besonders verfügen; und er versucht diesen Instinkt in seinem Buch zu beweisen und greifbar zu machen. Genau dieser Beweis, dieses Greifbarmachen ist aber vermutlich schlichtweg nicht möglich. Wer von der Existenz dieses sechsten Sinnes überzeugt ist, der dürfte nach dem Lesen dieses Buches in seiner Überzeugung noch gestärkt werden. Wer nur dem naturwissenschaftlich Beweisbarem glaubt, den dürfte Auffermanns Buch auch nicht überzeugen können.
Infos zum Buch
Gratwanderung – Vom Überlebensinstinkt bekannter Alpinisten
Uli Auffermann (Hg.)
224 Seiten, ca. 70 Abbildungen
Format 14,3 x 22,3 cm, Hardcover mit Schutzumschlag
2013 Bruckmann Verlag, München
Preis: 19,95 €