Das WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF lud im Frühsommer 2015 in Davos zum internationalen Seminar über Lawinen(unfällle) und Rechtsfragen ein.
„Go or No-Go“, Grün oder Rot?
Nach zehn Jahren Unterbrechung wurde im Frühling 2015 erneut ein hochkarätig besetztes internationales Seminar zum Thema Lawinen und Recht im Davoser Kongresszentrum abgehalten. Das Ziel des veranstaltenden Instituts für Schnee- und Lawinenforschung SLF war, Experten aus dem Schnee- und Lawinenbereich mit Juristen zusammenzubringen. Und dieses Zusammentreffen von Juristen sowie Schnee- und Lawinenexperten hatte es in sich: neben hochqualifizierten Experten-Vorträgen fand ein angeregter Austausch über Methoden zur (Lawinen-)Gefahreneinschätzung statt und zugleich wurden immer auch die rechtlichen Aspekte und möglichen straf- bzw. zivilrechtlichen Konsequenzen von Lawinenunfällen beleuchtet. Die rund 250 Teilnehmer des ausgebuchten Seminars kamen aus den Alpenländern Österreich, Frankreich, Italien, Deutschland, Liechtenstein und der Schweiz. Sie deckten die Sparten Tourismus, Justiz, Versicherungswesen, Schnee- und Lawinenforschung und Behörden bzw. Verwaltungen ab. Das Seminar stieß auch auf Seiten der Medien auf großes Interesse: Neben dem Schweizer Fernsehen und vielen weiteren Medienvertreten war auch PowderGuide während des Seminars vor Ort.
Als "normaler" Skifahrer, Tourengeher und Alpinist war mir anfangs eher unklar, was mich erwarten würde und ob die geballte Expertise der Tagungsteilnehmer meine begrenzten juristischen Kenntnisse nicht überfordern würde. Dennoch haben die vortragenden Juristen es (fast) immer geschafft, ihre komplexen Erwägungen auch für interessierte Laien verständlich darzustellen. Es ist nicht Ziel dieses Berichts, das gesamte Seminar in komprimierter Fassung wiederzugeben. Stattdessen möchte ich zum Nachdenken über die möglichen Folgen der Aktivitäten am Berg anregen, um eventuell das persönliche Risikomanagement zu optimieren. Am "Berggeschehen" und der hierfür bereitgestellten Infrastruktur sind viele Menschen sowie Behörden und Unternehmen beteiligt. Sie alle nehmen im Bergsportwesen und Wintersportgeschäft unterschiedlichste Aufgaben wahr.
Dass es gemäß den unterschiedlichen Aufträgen und Zielen durchaus zu Konflikten kommen kann, zeigt das Beispiel einer aufgrund von Lawinengefahr gesperrten Straße. Können die Verantwortlichen auf Verständnis hoffen, wenn sich der Tag am Berg ein wenig verzögert? Und wie sieht es mit der Akzeptanz seitens der Freerider und Variantenfahrer aus, wenn der Pistenchef einen bestimmten Geländeabschnitt sperrt? Als Menschen die sich häufig im Grenzbereich zwischen Glück und Lebensgefahr bewegen, sind wir immer auch mitverantwortlich, dass es nicht irgendwann zur „Verrechtlichung des alpinen Raums“ kommt. Als Bergsportler sollte es daher unser vitales Interesse sein, dass wir dem Erhalt unserer Eigenverantwortlichkeit im Bergsport hohe Bedeutung beimessen, wie auch der Bergführer und Anwalt Stefan Beulke unterstreicht, der als Strafverteidiger schon viele Bergführer und Veranstalter nach Unfällen verteidigt hat. Die Generationen nach uns sollten genauso wie wir die Möglichkeit haben, das in den Bergen zu erleben, was wir Freiheit nennen und was für viele Bergsportler und Erholungssuchende der tiefere Grund ihrer Liebe zu den Bergen ist. Die Eröffnung und Begrüßung der Tagung übernahm Fritz Schiesser, Präsident des ETH-Rats, der zugleich Rechtsanwalt und Notar ist. Mit den Farben „Rot“ oder „Grün“ umriss er, was uns in den nächsten Tagen erwarten sollte und was das Kernthema des Seminars sein würde: „go“ oder „no go“, „schuldig“ oder „nicht schuldig“, Piste/Straße geöffnet oder geschlossen. Mit diesen grundsätzlichen Ja-Nein-Entscheidungen sollten wir uns die nächsten drei Tage beschäftigen, so wie es der Lawinenvordenker Werner Munter in „3x3 Lawinen“ bereits mit dem Spruch „to go or not to go“ vorformuliert hatte. Zunächst gab Jürg Schweizer, der Leiter des Davoser Lawinenforschungsinstituts einen Einblick zum gegenwärtigen Forschungs- und Wissensstand über die verschiedenen Lawinenarten, die Lawinenbildung und die Bruchausbreitung während einer Lawinenauslösung. Er machte deutlich, dass nach fast 80 Jahren Schnee- und Lawinenforschung mit einer 70- bis 90 prozentigen Prognosegenauigkeit die allgemeine Lawinenlage vorhergesagt werden kann. Dieses Prognosebild kann bzw. muss vom Bergsportler als Ausgangspunkt der individuellen Risikominimierung angewandt werden. Weil es noch immer nicht möglich ist, den genauen Ort und Zeitpunkt eines Lawinenabgangs vorherzusagen, bleibt es unverzichtbar, sich an jedem „Schneetag“ aufs Neue mit den lokalen Gegebenheiten auseinanderzusetzen. Von zentraler Bedeutung bleibt daher die Touren- bzw. Freeride-Vorbereitung von zu Hause, wohingegen die Einzelhangbeurteilung vor Ort stattfindet: die mit einer „Go or No-Go“ Entscheidung abgeschlossen wird. Für die Vorbereitung in der "warmen Stube" am Vorabend der Tour ist der Lawinenlagebericht ein wichtiger Bestandteil. Thomas Stucki, der Leiter des Lawinenwarndienstes am SLF, erklärte die verschiedenen Bausteine des Lawinenlageberichtes und welche Faktoren in die Prognose mit einfließen. Unter anderem besteht diese aus Messwerten von Niederschlägen, Windgeschwindigkeiten, Lufttemperatur, Strahlung und Luftfeuchtigkeit. Zentral sind aber auch die Informationen von verschiedenen SLF-Beobachtern (z.B. Bergführern), die Rückmeldungen über die Schnee- und Lawinenverhältnisse aus der ganzen Schweiz beisteuern. Das SLF-Lawinenbulletin ist täglich während der „Winterzeit“ ab 17 Uhr für den Folgetag verfügbar und um acht Uhr morgens erfolgt ein Update. Das Bulletin wird über die SLF-Homepage veröffentlicht und kann zugleich über die WhiteRisk App bezogen werden.
Auch wenn die im Lawinenlagebericht verwendete Europäische Lawinengefahrenskala nur fünf Gefahrenstufen kennt, ist es doch für Geübte gut herauslesbar, ob es sich z.B. um einen normalen oder einen sog. „scharfen Dreier“ handelt. Auf die Bandbreite der verschiedenen Lawinengefahrenstufen ging der Bergführer und langjährige Mitarbeiter am SLF Stephan Harvey ein. Anhand eines Bergmodells zeigte er, dass eine Lawinenwarnstufe 3 nicht überall und für jede Exposition das Gleiche bedeutet. Entscheidende Einflussfaktoren wie Windstärke, Hangexposition, Sonneneinstrahlung und der Sachverhalt, dass ein Hang viel oder wenig befahren wurde, können die Wahrscheinlichkeit einer Lawinengefahr reduzieren oder im ungünstigen Fall auch steigern. Die von Stephan Harvey mit entwickelte sog. graphische Reduktionsmethode bietet für diese Interpretation im Lokalbereich eine hervorragende Hilfe, um sich ein Bild der Lawinensituation vor Ort zu verschaffen. Sie ist einfach anzuwenden und bietet den „Profis“ die Möglichkeit weitere Faktoren (z. B. Schneedeckenaufbau oder Gruppengröße) mit einzubeziehen. Das vom SLF in Davos entwickelte „WhiteRisk“ Lawinenpräventionsportal hilft dabei, die Tourenplanung und das Risikomanagement zu systematisieren. Es beinhaltet ein breites Spektrum: - WhiteRisk Explore umfasst Lawinenkunde, Fotos, Grafiken, Filmsequenzen und interaktive Tools - Mit WhiteRisk Tour können Touren online geplant werden und anschliessend auf das Smartphone übertragen werden - WhiteRisk PRO, gibt die Möglichkeit Inhalte aus White Risk EXPLORE in einer eigenen Präsentation zusammenstellen und später offline zu präsentieren und weiterzuverarbeiten - Mit WhiteRisk App hat man unterwegs immer (unabhängig vom Mobilnetz) Zugang zu den wichtigsten Lawineninfos und zu den geplanten Touren Das SLF gibt Freeridern und Tourengehern mit dem täglichen Lagebericht „etwas an die Hand“, um die Situation mit fundierten Risiko-Check-Methoden zu analysieren und zu beurteilen. Dabei bleibt es immer der eigenen oder Teamarbeit überlassen, die Information zu verwerten und zu interpretieren – und vor allem: vor Ort damit die richtigen Entscheidungen zu treffen.
"Piste und Straße: offen oder zu"
Jon Andri Bisaz, der Leiter des Forstamts in Celerina/Bever im Engadin betrachtet die Naturgefahren aus den Augen eines Straßenverkehrsteilnehmers. Zwar gebe es, so Bisaz, auf der einen Seite viel Verständnis für die Notwendigkeit einer Straßensperrung aus Sicherheitsgründen, für den daraus resultierenden individuellen Zeitverlust aber wenig. Das Problem für die Sicherheitsverantwortichen besteht häufig darin, dass man zwar bei schlechter Sicht die Straßen sperren und die potentiellen Lawinenhänge sprengen kann, aber dann nur wenig über den Erfolg oder Misserfolg der Sprengung weiß. Eventuell ist ja ein Großteil des potentiellen Lawinenschnees noch nicht abgegangen. Und was, wenn sich trotz Warntafeln und Warnsignalen Skitourengänger während der Sprengung in der Nähe der Sprengorte aufhalten? Inzwischen forscht man daran, welche zusätzlichen Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden können. Durch Radar, Wärmebild-, Infrarot- und Videokameras soll sichergestellt werden, dass keine unbeteiligten Personen durch solche Sprengungen gefährdet werden. Obwohl die Sachlage juristisch klar zu sein scheint, will doch keiner der Lawinenkommissionsmitglieder dafür verantwortlich sein, wenn Unbeteiligte bei Sprengarbeiten verletzt oder gar getötet werden. Dieses Beispiel zeigt, welche Anstrengungen unternommen werden (müssen), wo doch augenscheinlich nur eine Straße gesperrt wird und ich dadurch im schlimmsten Fall verspätet zu einem Termin oder meiner "first Line" komme…. Hält der Hang oder hält er nicht? Einfach ausprobieren oder einen großen Stein über die Wechte schmeißen, dann weiß man es. So oder so ähnlich wurde in den wilden Jugendjahren bei Serafin Siegele, dem Pistenchef der Silvretta Skiarena in Ischgl und Chef der dortigen Lawinenkommission, die Gefahrenbeurteilung vorgenommen. Und wahrscheinlich nicht nur bei ihm. Es ist schon bemerkenswert, was sich alles im Umgang und Management der Lawinengefahr geändert hat. Das zeigten exemplarisch die umfangreichen Sicherungs-und Sprengungsarbeiten, welche zum Beispiel im Skigebiet Ischgl unternommen werden, um dem Skifahrern einen unbeschwerten und risikoarmen Skitag im Pulverschnee zu ermöglichen.
Die besondere Rechtspraxis in Italien
Die Juristin Magdalena Springeth arbeitet bei der Provinz Bozen im Verwaltungsamt für Landschaft und Raumentwicklung. Als Expertin versuchte sie Licht in die häufig verwirrenden Rechtsgrundlagen und deren Anwendungen bei Lawinenauslösungen in Italien zu bringen. Dort bleibt bis auf weiteres die Rechtslage für Skitourengeher und Freerider sehr undurchsichtig, weshalb insbesondere Freerider derzeit häufig Italien meiden. Außerhalb der Piste bewegt man sich immer in einem Graubereich, – und das egal ob in Pistennähe oder im Skitourengelände. So war es in der Vergangenheit bereits eine Straftat, wenn man als Wintersportler eine Lawine auslöste, unabhängig davon, ob es zu einem Schaden von Menschen oder Sachwerten kam. Die neue Rechtsprechung setzt erst dann eine prinzipielle Strafhaftigkeit voraus, wenn das Lawinenausmaß einer Naturgefahr gleichkommt, z. B. das Auslösen einer großräumigen Lawine.
Podiumsdiskussion mit Betroffenen
Die anschließende Podiumsdiskussion mit Betroffenen von Lawinenunfällen wurde von Paul Mair moderiert. Hier wurde deutlich, dass äußerste Vorsicht geboten ist Aussagen gegenüber Behördenvertretern in denen es über die Verschuldung des Unfalls geht, bereits während der Erstaufnahme durch die Behörden zu machen. Was gesagt ist, ist gesagt; auch wenn es unter erhöhtem Adrenalin und unter besonderen Umständen gesagt wurde. Es kann unter Umständen zu einem späteren Zeitpunkt zur Belastung vor Gericht verwendet werden.
Risikogesellschaft oder Risikovermeidungsgesellschaft?
Kurt Winkler ist promovierter Bauingenieur, Bergführer und Lawinenwarner am SLF. Winkler ist bekannter Autor der SAC Publikationen Bergsport Sommer/Winter. In seinem Vortrag berichtete er über die Entwicklung des Risikos bei Bergsportaktivitäten im freien Gelände. Seine Einstiegsfrage lautete: Für wen ist es riskanter und die Wahrscheinlichkeit höher an einem Tourentag in einer Lawine zu sterben? Frau, 20 Jahre, unterwegs im Raum Glarus mit Schneeschuhen und unerfahren oder ein 50 jähriger, sehr erfahrener Mann, unterwegs im Raum Davos auf Ski. Seine Antwort verblüfft nur die Laien: Die Frau ist statistisch um ein vielfaches sicherer unterwegs! Männer setzen sich einem höheren Risiko aus und im Alter zwischen 40 und 50 ist das Lawinenrisiko bei den Tourengehern eher höher als bei den unter 30 jährigen. Zudem ist die Region ebenfalls entscheidend. Denn im inneralpin gelegenen Raum Davos gibt es im Vergleich zu Glarus häufiger ein Altschneeproblem. Darüber hinaus gibt es bei Schneeschuhläufern pro Tourentag generell wesentlich weniger Todesopfer. Was das Thema Erfahrung betrifft, so ist festzustellen, dass "Experten" dazu tendieren den Wissensvorsprung und ihre Erfahrung durch schwierigere Touren wieder wettmachen.
Weitere einprägsame Erkenntnisse aus Winklers Vortrag waren: bei Männern ist das Lawinenrisiko dreimal höher als bei Frauen. Das jährliche Todesrisiko eines Tourengehers ist im Durchschnitt etwa so hoch, wie das Todesrisiko im Straßenverkehr. Das Lawinenrisiko ist bei „mäßiger Lawinengefahr“ zweimal und bei „erheblicher Lawinengefahr“ sechsmal so hoch wie bei „gering“. Sehr einprägsam und als passendes "Schlusswort" empfand ich die Ausführung von Stefan Beulke in Bezug auf die Risikogesellschaft: Die Risikogesellschaft verhält sich konträr zur Risikovermeidungsgesellschaft, welche ein Null-Risiko anstrebt. Damit einher geht jedoch ein anderes Risiko: nämlich der Verlust der Eigenverantwortung und die Entwicklung einer Vollkaskomentalität. Freiheit besteht darin, Verantwortung für die Folgen unsere Aktivitäten zu übernehmen. Daher müssen wir Bergsportler dafür eintreten, dass es nicht zu einer „Verrechtlichung des alpinen Raums“ kommt. Tugenden wie „Eigenverantwortlichkeit beim Bergsport“ müssen wieder mehr Gewichtung beigemessen werden.
Ich bedanke mich im Namen von PowderGuide beim SLF für die Einladung, die top Referenten und die perfekt organisierte Durchführung: Herzlichen Dank.