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Safety-Themen

Vom Leben nach dem Überleben

Was passiert nach dem Worst Case?

von Kevin Hjertaas 13.03.2022
Wir wissen, dass am Berg manchmal Dinge schief gehen. Wir bereiten uns auf Unfälle vor, indem wir Kurse besuchen, Rettungstechniken üben, die richtige Ausrüstung dabei haben. Aber wie bereitet man sich auf das vor, was nach dem Unfall kommt?

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf Englisch bei Crowfoot Media erschienen. Wir haben den Text in Absprache mit Kevin Hjertaas und Meghan Ward übersetzt und leicht angepasst. Kevin war 2020 in einen Lawinenunfall verwickelt, bei dem eine Person umkam, und auf den er hier Bezug nimmt. Gemeinsam mit Autorin Meghan erzählt er in diesem Text vom Leben danach und bezieht Ratschläge einer Traumapsychologin in seine persönliche Geschichte mit ein. Content Warnung: In diesem Artikel geht es unter anderem um traumatische Lawinenunfälle und Suizidgedanken.

Lawinen Sprengen ist ein toller Job, den ich einige Jahre mit einer super Crew ausüben durfte. Die Arbeit war hart, aber meistens haben wir sie gern gemacht, obwohl uns die Gefahr bewusst war. Wenn wir in der Nähe der Liftanlagen sprengen mussten, scherzte ein Kollege oft, dass er zum Parkplatz abfahren, in sein Auto springen und nach Mexiko abhauen würde, “falls mal alles so richtig schief geht”. Es war als Witz gedacht, um der stressigen Situation ein bisschen Anspannung zu nehmen. Ein richtiger Plan war es, glaube ich, nie.

Trotzdem tauchte Mexiko für mich immer wieder im Hinterkopf auf, als für mich alles schief ging. Ich war mit einem Freund und seiner Partnerin auf Skitour unterwegs. Wir lösten eine Lawine aus. Unsere Freundin wurde tief verschüttet. Über eine Stunde versuchten wir, sie zu retten. Die antrainierten Automatismen funktionierten - LVS Suche, Sondieren, Schaufeln, Notruf. Wir funktionierten. Jahrelanges Training macht effizient. Wir waren äußerlich fokussiert und schnell, innerlich verzweifelt. 

Im Notfall richtig zu reagieren kann man üben. Mit genug Training klappt es dann auch in extremen Stresssituationen. Das Leben unserer Freundin konnten wir nicht retten, aber wir waren näher dran als wir es ohne den vielfach eingeübten Notfallplan gewesen wären. 

Die Mexiko Idee dagegen schien völlig nutzlos. Warum geisterte sie mir im Kopf herum?

Wenn ich nun, Monate später, daran zurück denke, habe ich den Eindruck, dass mein Unterbewusstsein noch im Chaos des Moments zum nächsten Problem weiter gesprungen ist. Es ging die Liste abgespeicherter Notfallpläne durch und wusste bereits, dass ich im Tal einen neuen Plan brauchen würde. Der alte Witz über die Flucht nach Mexiko war das einzige, das unter “falls mal alles so richtig schief geht” zu finden war.

Ein Plan für das Danach

Als Bergsportler liest man viele Nachrufe und Artikel über das Leben und den Tod jener, die in den Bergen sterben. Bei Bergunfällen werden Menschen von einem Moment auf den nächsten von uns gerissen. Es bleibt keine Zeit, sich vorzubereiten oder sich zu verabschieden. Unsere Freunde gehen morgens los und kommen nicht mehr heim. Wenn man diese Art von Leben wählt, wird man wahrscheinlich irgendwann mit Tragödien konfrontiert. Vielleicht bleibt der Verlust auf Armeslänge, vielleicht trifft es eines Tages mitten ins Herz. Wir bereiten uns zwar auf den Worst Case vor, aber wir denken kaum darüber nach, was nach dem Worst Case kommt. 

Janet McLeod arbeitet als Psychologin in Canmore, Kanada, und ist spezialisiert auf Traumabewältigung für Menschen, die beruflich mit Tragödien am Berg zu tun haben. McLeod empfiehlt, sich nach einem traumatischen Vorfall möglichst schnell professionelle Hilfe zu suchen, sonst nistet sich das Trauma ein und man wird es unter Umständen kaum mehr los. Kurz nach einem Unfall haben viele nicht das Gefühl, dass sie Hilfe brauchen. Es ist sinnvoll, sich vorher ein Versprechen zu geben, dass man Hilfe in Anspruch nehmen wird, so McLeod. Sie schlägt vor, therapeutische Unterstützung als weitere Checkbox in den persönlichen Notfallplan aufzunehmen, als einen Punkt, der abgehakt wird. “Diese Taktik kann radikal wirken, weil es in unserer Kultur einen hohen Stellenwert hat, dass wir selbst mit allem fertig werden”, so McLeod.

Wenn ein Vorfall unser Leben verändert, treiben uns Panik und Angstgefühle dazu, aktiv zu werden - der Aktionismus ist manchmal dramatisch. McLeod warnt: “Macht langsam! Wir sollten nicht versuchen, zu schnell weiter zu machen. Schnell alles reparieren zu wollen, ist ein Überlebensreflex, aber solche Probleme lassen sich nicht auf die Schnelle lösen.” Eine Zeit lang kommen wir nach einem Unfall mit dem Adrenalin über die Runden, aber irgendwann geht das nicht mehr. Und dann kommt der Crash.

McLeod hat diese Mechanismen schon am eigenen Leib erlebt. 2002 geriet sie in eine Massenkarambolage. Autos flogen durch die Gegend, Glas splitterte um sie herum. Es gab mehrere Tote. Aber direkt nach dem Unfall war sie so glücklich, am Leben zu sein, so aufgedreht durch die massive Adrenalindosis, dass ihr nichts weh tat und sie ihren Kollegen ankündigte, dass sie natürlich nach dem Wochenende in der Arbeit erscheinen würde. Am Montag hatte sie dann starke Schmerzen und Suizidgedanken.

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Wissen, was kommt

Depressionen, Konsum von Suchtmitteln, destruktives Verhalten und Selbstmordgedanken sind nach traumatischen Ereignissen nicht ungewöhnlich. Psychische Erkrankungen sind gesellschaftlich stigmatisiert, aber sie werden nicht besser, wenn man sie ignoriert. “Nach traumatischen Erlebnissen steigt das Selbstmordrisiko”, so das Kanadische Centre for Suicide Prevention. Das gilt auch für die Traumata, die wir bei Bergunfällen erleben. 

Überlebende finden es in aller Regel hilfreich, über das Erlebte zu sprechen. Zu wissen, dass andere Vergleichbares durchgemacht und überstanden haben, hilft oft. Genau wie körperliche Verletzungen können auch mentale und emotionale Verletzungen heilen, selbst wenn es am Anfang unmöglich erscheint. Wie bei körperlichen Verletzungen gilt: Sich nach einem Unfall Hilfe zu suchen, ist wichtig.

Es gibt aber auch Möglichkeiten, sich vorzubereiten. Ähnlich wie gezieltes Muskelaufbautraining körperlichen Verletzungen vorbeugt, können wir auch für unsere geistige und emotionale Gesundheit vorher etwas tun, um Widerstandsfähigkeit gegenüber traumatischen Erlebnissen aufzubauen. Bewegung in der Natur, Meditationstechniken, soziale Kontakte und zwischenmenschliche Beziehungen, die uns auffangen können - all das baut man sich vor einer Krise leichter auf und all das hilft während einer Krise. Es geht nicht darum, ständig Angst zu haben, dass etwas schlimmes passiert, sondern um eine gesunde Beziehung zu den Realitäten des Bergsports. 

Es gibt auch ganz praktische Dinge, die man tun kann, um sich vorzubereiten: An erster Stelle stehen natürlich Lawinen- und erste Hilfe Kurse und regelmäßiges Training. Ausrüstung und Wissen helfen uns, wenn wir zu einem Bergunfall dazu kommen oder darin verwickelt sind. Als nächstes können wir uns fragen: Was passiert, wenn ich mich verletze? Kann ich mit einem gebrochenen Bein meinem Beruf nachgehen? Bin ich gut genug versichert, um Verdienstausfälle zu überbrücken? Diese Art von Vorbeugung ist auch für geistige und emotionale Verletzungen sinnvoll. Übernimmt die Versicherung Therapiekosten? Habe ich ein finanzielles Polster, dass es mir notfalls erlaubt, einige Zeit nicht zu arbeiten?

Barry Blanchard ist in Kanada eine Bergführerlegende. Im Laufe seiner Karriere hat er die Berge von ihrer schönsten und ihrer schlimmsten Seite gesehen. Eine ganze Generation kanadischer Bergführer geht am Berg in seinen Fußstapfen. Vielleicht können wir das im Tal auch tun: “Man muss ganz grundlegend verstehen, dass Berge gefährlich sind. Punkt. Sogar eine Wanderung hat ein gewisses Risiko. Wenn man weiß, dass tragische Unfälle passieren können, ist es wenigstens nicht mehr völlig unerwartet”, meint Blanchard.

Wenn wir über die Berge reden, geht es natürlich meistens um die positiven Erlebnisse. Blanchard glaubt, dass die Medien diese Seite zu sehr betonen. “Immer scheint die Sonne, wir sehen nur lachende Gesichter. Aber das ist so ein kleiner Teil unseres Lebens.” Er beschreibt das Leben als einen Berg mit einer sonnigen Seite und einer, die im Schatten liegt. “Der Großteil menschlichen Lebens findet im grauen Zwielicht statt, aber es gibt sehr helle, sonnige Momente und dunkle, herzzerreißende.” Wer das erkennt, ist in einer besseren Position, um aus den Schattenseiten wieder heraus zu finden.

Hilfe in der Gemeinschaft

Traumapsychologin McLeod sagt, dass Bergtragödien das gesamte soziale Gefüge einer Gemeinschaft betreffen. Ich weiß aus Erfahrung: Sie hat recht. Ein einzelner Unfall zieht oft weite Kreise. Besonders schwer trifft es die Überlebenden, Familie und Freunde. Weniger sichtbar sind die Zeugen und Ersthelferinnen, die Freiwilligen der Bergrettung, das Krankenhauspersonal. Aber auch sie und ihr Umfeld berührt der Unfall. Manchmal spüren wir die Wellen, selbst wenn wir nicht direkt persönlich betroffen sind. 

Wenn Unfälle also gemeinschaftliches Trauma bedeuten, wie können wir einander helfen? Die Erfahrung der Überlebenden ist immer anders, aber Unterstützung fängt damit an, dass man sich meldet. Für mich war jede mitfühlende Nachricht, jede Beileidsbekundung wie ein Stich ins Herz, aber alle zusammen haben mich gestützt. Wenn eine Tierherde bedroht wird, bilden manche Arten einen Kreis um die verletzlichsten Herdenmitglieder. So ähnlich fühlte es sich für mich an.

McLeod betont: “Eine Person allein kann mit sowas nicht fertig werden. Das ist ein Community Event.” Wir neigen dazu, Unfallopfern oder Trauernden aus dem Weg zu gehen. Vielleicht wollen wir ihnen Raum geben und, so McLeod, oft wollen sie auch selbst erstmal allein sein. Aber: “Man fühlt sich nach so einem Erlebnis sehr isoliert. Dagegen muss man ankämpfen. Allein schafft man das nicht. Wir können die traumatischen Geschichten über die Gemeinschaft verteilen, so dass jeder ein bisschen was trägt”. Also: Schreibt die Nachricht, schickt die Karte, backt den Kuchen. Vielleicht fühlt es sich seltsam oder ungelenk an, aber das ist alles besser als nichts zu sagen.

Mexiko

Ich bin nicht nach Mexiko abgehauen, um mich vor dem Erlebten zu verstecken. Aber ich bin zwei Monate nach dem Unfall gemeinsam mit meiner Frau und unserer Tochter hingefahren. Wir lagen eine Woche zusammen am Strand und waren surfen, weit weg von den Bergen. Für uns war das eine Chance, gemeinsam Abstand zu gewinnen. Freunde haben die Reise möglich gemacht, was uns sehr berührt hat. Wir haben das als große Unterstützung empfunden.

Für mich waren die kleinen Gesten von Freunden und Kollegen am hilfreichsten, aber auch eine Gesprächstherapie war für mich nach dem Unfall sehr wichtig. Radfahren, oder einfach Zeit in der Natur, hilft mir auch viel.

Unsere Community in den Bergen ist nicht groß, aber wir sind sehr eng miteinander verwoben. Vielleicht wiegt das die Risiken auf, denen wir in den Bergen begegnen. In jedem Fall können wir einander durch sehr viel hindurch helfen, wenn wir zusammen halten.

Epilog

Die Liste der Bergtragödien wird länger, in den Kanadischen Rockies und anderswo. Im Sommer gab es tödliche Abstürze und Tote durch Steinschlag. Am Athabasca Gletscher rutsche ein Touristenbus von der schmalen Zufahrtsstraße. Die meisten von uns werden hoffentlich nie mit solchen Massenunfällen (3 Tote, 24 Verletzte) konfrontiert, aber der Vorfall setzte eine Art Ausrufezeichen hinter die Diskussion in der Szene. 

Bergführer Mike Trehearne war als einer der ersten an der Unfallstelle. Danach hat er frühzeitig Kontakt zu Kollegen aufgenommen, um über das emotionale Nachspiel zu reden. “Man braucht Ruhe und ein Gefühl von Sicherheit, um das parasympathische Nervensystem anzusprechen”, erklärt Trehearne. In einer Notfallsituation ist der Körper im Überlebensmodus, das sympathische Nervensystem steuert. Viele, die nach einer traumatischen Situation Probleme haben, kommen aus diesem Zustand nicht mehr heraus.

Trehearne weiß aus Erfahrung, dass sie das nicht lange überleben. “Das Gehirn bildet neue Verbindungen und macht es schlimmer”, so Trehearne. “Darum ist professionelle Hilfe so wichtig”. 

Bergführerlegende Blanchard schreibt im letzten Satz seiner Autobiographie, The Calling: A Life Rocked by Mountains: “A dark lake of sadness underlies human life and we skate on thin ice. Most of us break through at some point and it is solely human hands that bring us back to the surface. Hopefully, we bring truth back with us, and share it.

(In etwa: “Unter dem menschlichen Leben liegt ein dunkler See aus Traurigkeit und wir bewegen uns auf dünnem Eis. Die meisten von uns brechen irgendwann ein und es sind ausschließlich die Hände der anderen, die uns an die Oberfläche zurück ziehen. Hoffentlich bringen wir Wahres mit hinauf, und teilen es.”)

Kevin setzt sich mittlerweile bei "Mountain Musk Ox" mit Janet McLeod und anderen für organisierte, therapeutische und sonstige Unterstützung nach traumatischen Bergunfällen ein - von der Community für die Community. Hierzulande gibt es bei manchen der Alpinen Vereine ähnliche Angebote (vor allem für AV-TourenleiterInnen), sowie in Österreich zunehmend innerhalb der Bergrettung für die RetterInnen. Bergsport-spezifische, allgemein zugängliche Angebote sind selten. Erste Anlaufstellen in Notfällen sind beispielsweise die Telefonseelsorge oder das Rote Kreuz.

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