Rudi Mair und Patrick Nairz sind die Lawinenwarner vom Tiroler Lawinenwarndienst. In ihrem zum Winter 2011 erschienen Lawinen-Bestseller-Buch "Lawine. Die 10 entscheidenden Gefahrenmuster erkennen", präsentieren die beiden Lawinenexperten einen neuartigen, ergänzenden Ansatz zur Vermeidung von Lawinenunfällen. Bei der Analyse hunderter, meist tragischer Lawinenunfälle stellten Rudi und Patrick fest, dass sich die meisten Unfälle bei typischen, immer wieder kehrenden Gefahrenmustern ereignen. Daher erarbeiteten sie 10 typische, besonders unfallträchtige und häufige Gefahrenmuster. Das Erkennen dieser Lawinen-Gefahrenmuster soll dem Wintersportler helfen, sich entsprechend vorsichtig zu verhalten – und dadurch Unfälle zu vermeiden.Hier stellen wir euch die 10 entscheidenden Gefahrenmuster in Kurzform vor.
Gefahrenmuster (gm) 1 – der zweite Schneefall
Nach dem ersten Schneefall eines Winters können vor allem Gleitschneelawinen, also Lawinen, die auf steilen, glatten Hängen abgleiten, ein Problem darstellen. Nach dem zweiten bedeutsamen Schneefall kommt es dann vermehrt zu Schneebrettlawinen. Diese gelten als die typischen Skifahrerlawinen und sind für mindestens 95% der tödlichen Lawinenunfälle verantwortlich. Der zweite Schneefall ist deshalb so entscheidend, weil sich zwischen der ersten Schneeauflage und dem zweiten Schneefall mitunter eine ausgeprägte Schwachschicht bilden kann, die leicht von Wintersportlern zu stören ist. Meist treten Probleme dieser Art in hohen (>2000 m) und hochalpinen (>3000 m) schattigen Steilhängen auf.
Ein Beispiel: Lawine Vorderer BrunnenkogelÂ
Lawine. Fünf Top-Snowboarder verlassen bei schlechten Sichtverhältnissen die Talabfahrt vom Hinteren Brunnenkogel. Dabei missachten sie eine Absperrung. Zwei der fünf Snowboarder – ein Australier und ein Kanadier – fahren in einen bis zu 40° steilen Hang ein, während der Rest der Gruppe oberhalb des Hanges wartet. Dabei lösen sie eine Schneebrettlawine aus, die beide Personen mitreißt. Der Kanadier wird über einen Eiswulst geschleudert, bleibt jedoch unverletzt auf der Lawinenoberfläche liegen. Der Australier hingegen stürzt in eine Gletscherspalte und wird von nachfließendem Schnee 1,5 m tief verschüttet. Die Suche gestaltet sich schwierig, u. a. auch deshalb, weil der Australier kein LVS-Gerät bei sich führt. Bei der Rettungsaktion stehen 60 Personen im Einsatz, die das Leben des 20-jährigen Australiers allerdings nicht mehr retten können.Kurzanalyse. Entscheidend sind zwei Niederschlagsereignisse: Ein früher, intensiver Wintereinbruch am 22. 9. 2002 sowie der Schneefall ab dem 02. 11. Bei Ersterem schneit es entlang des Alpenhauptkammes bis zu 100 cm, bei Letzterem sind es unter Windeinfluss gerade mal 20 cm. Zwischen diesen beiden Ereignissen wandelt sich der Schnee vom 22. 9. im steilen, schattseitigen und hochalpinen Gelände zu ausgeprägten, lockeren Becherkristallen um. Der Schneedeckenaufbau ist somit denkbar ungünstig: Auf Gletschereis lagert Schwimmschnee. Darüber findet man frischen, schlecht verbundenen, nicht allzu mächtigen Triebschnee. Weitere ungünstige Faktoren: Das Gelände ist zum Teil extrem steil. Zudem weisen die während des Sommers offenen Gletscherspalten zu dieser Zeit keine stabilen Schneebrücken auf. Wo: Vorderer Brunnenkogel / Südliche Ötztaler Alpen / 3200 m / NO-Hang / 40°
Wer: Wer: 5 beteiligte Personen / 1 getötete Person
Wann:Â 4. 11. 2002, 11:30 Uhr
Lawine:Â Schneebrettlawine (trocken) / L 100 m / B 35 m / Anriss 0,3 m / VerschĂĽttung 1,5 m / 1 Tag
Regional gĂĽltige Gefahrenstufe:Â kein aktueller LLB verfĂĽgbar
Schlagzeile LLB:Â kein aktueller LLB verfĂĽgbar
Gefahrenmuster (gm) 2 – Gleitschnee
Schnee gleitet bevorzugt auf steilen, glatten Felsen talwärts. Dabei bilden sich Gleitschneemäuler, also gut sichtbare, teilweise mehrere Meter tiefe Risse in der Schneedecke. Solche Gleitschneemäuler gelten entgegen einer alten, leider schwer auszurottenden "Lehrmeinung" nicht als günstige, sondern durchwegs als ungünstige Kriterien hinsichtlich eines möglichen Lawinenabgangs. Ein Gleitschneemaul deutet auf die Möglichkeit einer Gleitschneelawine hin, sagt jedoch nichts darüber aus, ob und wann die Schneemasse tatsächlich als Gleitschneelawine abgeht. Gleitschneelawinen zählen hinsichtlich des Abgangszeitpunktes zu den am schwierigsten vorhersagbaren Lawinen, weil diese auch bei allgemein stabilen Schneeverhältnissen zu jeder Tages- und Nachtzeit, sowohl am kältesten als auch am wärmsten Tag des Winters abgehen können. Zudem sind Gleitschneelawinen nicht durch Zusatzbelastung auszulösen
Ein Beispiel: Lawine Rote Säule
Lawine. Ein ostdeutscher Skitourengeher verbringt gemeinsam mit seiner Frau einen Kurzurlaub im Virgental in Osttirol. Am 20. 12. 2008 beschließt er, durch das Dorfertal zur Johannishütte zu gehen. Während der Abfahrt wird er von einer Gleitschneelawine erfasst, welche sich ca. 500 m oberhalb seines Weges löst. Die Lawine reißt ihn in den darunter befindlichen Graben und verschüttet ihn total. Die Rettungsaktion gestaltet sich aufgrund der gefährlichen Verhältnisse schwierig, u. a. auch deshalb, weil die Person kein LVS-Gerät bei sich führt. Am folgenden Tag, dem 21. 12. kann der Skitourengeher geortet und ausgegraben werden. Am 22. 12. gelingt der Hubschrauberbesatzung dann die Bergung der Leiche. Kurzanalyse. Zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. So lässt sich der Lawinenunfall in Kürze umschreiben. Die Lawinengefahr steigt ab dem 19. 12. sukzessive an, weil zunehmend feuchte und zudem warme Luftmassen ins Land eindringen. Dementsprechend erhöht sich auch das Risiko, in einem potenziellen Gefahrenbereich – und dazu zählt das enge Dorfertal – von einer (spontanen) Lawine verschüttet zu werden. Am Unfalltag schneit es anfangs noch in weiten Teilen Tirols. Im Laufe des 20. 12. steigt die Schneefallgrenze dann markant an und reicht im Westen Tirols bis ca. 1700 m, im Osten kurzfristig bis ca. 2000 m hinauf. Die Schneedecke wird deshalb immer feuchter und in Folge störanfälliger. Das Gelände oberhalb des Lawinenabgangs ist prädestiniert für Gleitschneelawinen, weil es sich um sehr steiles, glattes Wiesengelände handelt. Am Foto sieht man deshalb auch weitere Gleitschneemäuler bzw. -anrisse. Wo: Rote Säule / Osttiroler Tauern / 2200 m / SW-Hang / 35°
Wer: 1 beteiligte Person / 1 getötete Person
Wann: 20. 12. 2008, ca. 15:00 Uhr
Lawine: Gleitschneelawine (feucht) / L 1000 m / B 30 m / Anriss 0,5–1 m / Verschüttung 1 m / 1 Tag
Regional gĂĽltige Gefahrenstufe: 3 (erheblich)
Schlagzeile LLB: Frische Triebschneeansammlungen beachten! Gleitschneelawinen sind im Süden weiterhin möglich!
Gefahrenmuster (gm) 3 – Regen
Regen gilt als klassisches Alarmzeichen in der Schnee- und Lawinenkunde, weil er einerseits zusätzliches Gewicht in die Schneedecke bringt und andererseits zu einem raschen Festigkeitsverlust führt. Lawinen sind deshalb vorprogrammiert. Regen kann in jedem Abschnitt eines Winters auftreten. Der große Vorteil: Kein Gefahrenmuster kann leichter erkannt werden als Regen.
Ein Beispiel: Lawinen StöcklenalmLawinen. So manche Hüttenwirte haben regelmäßig Sorgen mit ihren Hüttenzustiegen, insbesondere dann, wenn sich ein Wochenende bei kritischen Verhältnissen anbahnt. Der Hüttenwirt der Franz-Senn-Hütte beobachtet an solch einem Tag kurz vor der Stöcklenalm vier Franzosen, die über den damals sehr gefährdeten Sommerweg in Richtung Hütte unterwegs sind. Er versucht sie vergebens durch Zurufe zum Umkehren zu bewegen. Da sich die Personen permanent im Gefahrenbereich aufhalten, wartet er, bis sie den Bach überquert und sicheres Gelände erreicht haben. Eine halbe Stunde später kommt der Hüttenwirt wieder an derselben Stelle vorbei und sieht zahlreiche spontane Lawinenabgänge, die allesamt die Spur der Franzosen überspült haben.Kurzanalyse. Das Wetter lässt sich bereits während der Vorwoche kurz und bündig mit „Aprilwetter" umschreiben. Es herrscht ein Mix aus meist intensiven Regenschauern, oberhalb etwa 1800–2200 m kommen beachtliche Neuschneesummen dazu, viel Wolken und kurze Aufhellungen. Dies wirkt sich negativ auf den Schneedeckenaufbau und in Folge auf die Lawinensituation aus. Am 23. 4. 2008 regnet es bei diffusen Sichtverhältnissen. Die Schneedecke wird dadurch zunehmend feucht, unterhalb von 2200 m saugt sich diese wie ein Schwamm an und ist komplett nass. Die Bedingungen für Nassschneelawinen hätten somit nicht besser sein können. Rückblickend betrachtet handelt es sich um die lawinenaktivste Zeit der gesamten Wintersaison. Aufgrund der sehr ungünstigen Verhältnisse hat der Hüttenwirt damals übrigens auf seiner Homepage vehement von einem Hüttenzustieg abgeraten … Wo: Stöcklenalm / Nördliche Stubaier Alpen / 1620 m / alle Hänge / > 30°
Wer: 4 beteiligte Personen
Wann: 23. 4. 2008, 15:20 Uhr
Lawine: Schneebrett- und Lockerschneelawinen (nass) / L 5–250 m / B 5–150 m / Anriss ca. 0,6 m
Regional gĂĽltige Gefahrenstufe: 3 (erheblich)
Schlagzeile LLB: Unterhalb 2200 m Nassschneelawinen, hochalpin Schneebrettgefahr!
Gefahrenmuster (gm) 4 – kalt auf warm / warm auf kalt
Zu lange wurde in der Lawinenkunde die Lehrmeinung vertreten, dass sich ein großer Temperaturunterschied während des Einschneiens (egal ob kalt auf warm oder umgekehrt) günstig auf die Lawinensituation auswirke. Dies trifft jedoch nur unter bestimmten Voraussetzungen zu. Mehrheitlich wirkt sich ein solcher Temperaturunterschied jedoch negativ aus, weil er die aufbauende Umwandlung innerhalb der Schneedecke begünstigt: In der Regel bildet sich dadurch eine dünne, durchwegs störanfällige Schwachschicht. Diese findet man oft auch im südseitigen Gelände. Eine heimtückische Angelegenheit, auch deshalb, weil die Schwachschicht unmittelbar nach dem Einschneien noch nicht vorhanden ist und sich erst im Laufe der folgenden Tage bildet.
Ein Beispiel: Lawine hohe Mut
 Lawine. Einige Tage vor Inbetriebnahme der Hohe-Mut-Bahn in Obergurgl beauftragt der Betriebsleiter der Skilift GmbH Obergurgl zwei seiner Angestellten mit der Reparatur einer Sprengseilbahn. Das Seil der Bahn liegt zu diesem Zeitpunkt teilweise von Schnee überdeckt am Boden. Ausgehend von der Antriebsstation, welche nordwestlich der Hohen Mut auf ca. 2300 m liegt, queren die Angestellten entlang des Seiles ohne Skier die ca. 35° steilen N- bis NW-Hänge. In der sogenannten 2. Mutrinne lösen sie ein Schneebrett mit geringer Anrissmächtigkeit aus, von dem sie ca. 100 m mitgerissen und total verschüttet werden. Beide Personen führen kein LVS-Gerät und können in Folge erst durch die Sondiermannschaft aufgefunden werden – für einen kommt diese Hilfe zu spät.Kurzanalyse. Entscheidend ist der Wechsel von warmem zu kaltem Wetter, welches Neuschnee bringt. In Nordtirol ist bis zum 23. 11. 2007 Föhn angesagt. Es herrschen hohe Temperaturen, häufig weht kräftiger Wind. Die Altschneeoberfläche wird deshalb bis etwa 2600 m hinauf durchfeuchtet, in tieferen Lagen auch durchnässt. Ab dem 23. 11. beginnt es dann bei drehender Höhenströmung und sinkender Lufttemperatur zu schneien. Es fällt meist 20–30 cm Schnee. Im Nahbereich der Grenzfläche zwischen nasser Altschneedecke und trockenem Neuschnee bildet sich in allen Expositionen eine dünne, aufbauend umgewandelte, kantige Schwachschicht. Offensichtliche Gefahrenzeichen erkennt man zum Unfallzeitpunkt in Form von gut sichtbaren, allerdings nicht allzu mächtigen Triebschneepaketen. Die Lawine unterhalb der Antriebsstation wird erst nach dem Lawinenabgang durch ein Pistenfahrzeug ausgelöst. Wo: Hohe Mut / Südliche Ötztaler Alpen / 2280 m / NNW / 37°
Wer: 2 beteiligte Personen / 1 getötete Person / 1 verletzte Person
Wann: 5. 12. 2007, 11:00 Uhr
Lawine: Schneebrettlawine (trocken) / L 250m / B 15m / Anriss 0,2–0,3m / Verschüttung 0,5m / 40Min.
Regional gültige Gefahrenstufe: 3 (erheblich)Schlagzeile LLB: In Nordtirol verbreitet erhebliche Lawinengefahr – Achtung auf den markanten Temperaturanstieg!
Gefahrenmuster (gm) 5 – Schnee nach langer Kälteperiode
Ein Klassiker unter den Lawinenereignissen: Nach einer langen Kälteperiode fängt es zu schneien an. Zusätzlich weht kräftiger Wind, der den Neuschnee entsprechend verfrachtet. In kürzester Zeit entsteht eine für den Wintersportler sehr heikle Lawinensituation. Dies trifft auch dann zu, wenn nach einer langen Kälteperiode "nur" kräftiger Wind weht, ohne dass es schneit. Das Problem: In Windschattenhängen wird frischer Triebschnee abgelagert, der auf einer lockeren, meist aus Schwimmschnee bestehenden Altschneedecke zu liegen kommt. Triebschnee und Altschnee sind untereinander sehr schlecht verbunden. Die Schneedecke wartet dann nur noch darauf, durch Zusatzbelastung gestört zu werden.
Ein Beispiel: Lawine Mölser Berg
Lawinen. Eine zehnköpfige Gruppe des OeAV verbringt in Begleitung von zwei Bergführern sowie einem Instruktor ein Tourenwochenende auf der Lizumer Hütte. Am 5. 2. planen sie bei prachtvollem Wetter eine gemütliche Tagestour auf den Mölser Berg. Sie beschließen den letzten Abschnitt in Richtung Gipfel direkt über den anfangs kupierten, dann steiler werdenden O-Hang aufzusteigen. Als sich sieben Teilnehmer bereits im sicheren Gratbereich und drei weitere kurz unterhalb bei einer Verflachung aufhalten, ertönt ein deutlich wahrnehmbares WUMM-Geräusch. In Folge löst sich eine große Schneebrettlawine, die zwei Personen ca. 150 m mitreißt. Alle reagieren rasch, ziehen ihren ABS-Rucksack und werden nur teilweise verschüttet. Sie bleiben unverletzt.Kurzanalyse: Seit dem 31. 1. schneit es in den Tuxer Alpen bei kalten Temperaturen unter kräftigem Windeinfluss ca. 60 cm. Die Altschneedecke besteht im Sektor W über N bis O verbreitet aus Schwimmschnee, schattseitig teilweise aus Oberflächenreif. Deren Entstehung wurde einerseits durch die geringmächtige Schneedecke während des Jänners, andererseits durch arktische Temperaturen ab dem 22. 1. gefördert. Der frische Triebschnee verbindet sich schlecht mit der Altschneedecke. Man beobachtet einige spontane Lawinenabgänge. Am 3. 2. wird im Unfallgebiet oberhalb von 2000 m noch große Lawinengefahr ausgegeben. Trügerisch präsentiert sich am Unfalltag die lockere Schneeoberfläche, die durch nachlassenden Wind gegen Ende der Schneefälle entstanden ist. Windzeichen sind dadurch vielfach überdeckt. Charakteristisch ist auch die flächige Ausdehnung der Lawine aufgrund des flächig vorhandenen Schwimmschneefundaments.
Wo: Mölser Berg / Tuxer Alpen / 2440 m / O-Hang / 35°
Wer: 12 beteiligte Personen / 2 erfasste Personen
Wann: 5. 2. 2005, 11:30 Uhr
Lawine: Schneebrettlawine (trocken) / L 300 m / B 300 m / Anriss 0,5–2,5 m
Regional gĂĽltige Gefahrenstufe: 3 (erheblich)
LLB Schlagzeile: Heikle Situation fĂĽr den Wintersportler!