Der letzte Abend des kalendarischen Jahres ist mal wieder viel schneller gekommen, als das erwartet werden konnte. Wochenlang hat man die Fragen der Kollegen und Freunde „Was machst Du/Ihr eigentlich so an Sylvester? Schon Pläne? Sollen wir nicht was gemeinsam machen?" irgendwie mehr oder weniger geschickt abgewimmelt. Wer weiss, was das Wetter so bringt und welch ausserirdischen Skitage durch eine zu penible Eventplanung torpediert werden könnten.Und jetzt plötzlich ist's schon soweit und alle sind irgendwie ausgebucht. Tjä, was jetzt? Wie jedes Jahr in die Stadt zum Feuerwerk und nachher in einer x-beliebigen Bar versumpfen? Oder mit den wenigen Trantüten, die auch noch nichts vor haben, Fondueabend mit Bleigiessen und Matschballschlacht – denn Schnee kann man das graue Zeug hier unten in der Zivilisation ja nicht nennen – um Mitternacht? Oder allein Dinner for One und früh in's Bett? Wir haben eine Alternative getestet: Raus aus dem Trubel und rauf auf den Berg. Leise und regelmässig knirscht der harschige Schnee unter den Schneeschuhen. Wir – also meine Süsse und ich – sagen kein Wort. Wir bestaunen nur die Glitzerwelt um uns herum. Seit wir vor ein paar Minuten die Nebelgrenze durchbrochen haben, haben uns das Universum und die Winterlandschaft darunter in ihren Bann gezogen. Der sich bildende Reif glitzert rubinrot von unseren Stirnlampen. Deren dünner, roter Schein ist genug, um sicheren und flüssigen Tritt zu finden, blendet aber nicht. So kann die Schönheit des Kosmos mit voller Wucht auf uns einwirken. Und die ist so gewaltig, dass wir beide verstummt sind.
Der für diese Region am ultimaten Tag des Jahres obligatorische Nebel blockt das sonst omnipräsente Licht der Zivilisation wie ein Wattedeckel ab, und die Sterne erstrahlen in für unsere Breiten inzwischen leider ungekannter Intensität. Die Milchstrasse zieht deutlich ihr Band über uns hinweg, am Horizont macht sich Orion auf, über uns zu wachen und die ISS strahlt fast schon blendend hell bei ihrer Passage. Vor rund einer halben Stunde sind wir vom Parkplatz aufgebrochen – gegen halb Zehn, wie geplant, so dass uns genug Zeit zum flachen Gipfel des Spital (siehe Tour der Woche) bleibt, bis das alte Jahr endet. Doch mit so dichtem Nebeldunst hatten wir nicht gerechnet und für die ersten Schritte zweifelten wir stark am Sinn unserer Unternehmung. Würde der Nebel doch weiter hinauf reichen, als gedacht? Würde er sich noch absenken? Haben wir überhaupt alles? All diese Zweifel sind nun verflogen und mit staunendem Grinsen und weiten, glänzenden Augen stapft die Kleine vor mir bergan. Den Kopf mit dem roten Strahler immer wieder in alle Richtungen schwenkend und nur selten trifft dieser den Boden vor ihren Füssen. Irgendwie sieht sie mit ihrem grossen Rucksack und dem weissen Anzug aus wie Neil Amstrong bei der Mondlandung.
Gemächlich doch gleichmässig stapfen wir bergan. Hinauf auf den Grat und um eine Biegung, die uns freie Sicht auf das neblige Zürcher Seebecken beschert. Und die nächsten unwirklichen Eindrücke. Vor uns breitet sich ein ausserweltlicher Ozean aus, in dem seltsam biolumineszent leuchtende Gaswesen ihr Unwesen treiben. Es glimmt diffus, dann leuchtet es mal plötzlich hell auf und alles in Gelb, Blau, Grün, Rot und weiteren Farben. Die Lichter der Zivilisation mischen sich mit denen früher Feuerwerke für die kleinen Kinder, die zeitig ins Bett müssen und ergeben mit dem Nebel einen unwirklichen Teppich aus diffusen Lichtern, wie ich es noch nie zuvor gesehen habe. Staunend und schweigend stehen wir nebeneinander und vergessen beinahe, dass unser Highlight eigentlich noch kommen sollte. Doch irgendwann reissen wir uns los und streben weiter dem Gipfel zu. Wenige Höhenmeter sind nur zu bewältigen und den eigentlichen Gipfel lassen wir links liegen. Stattdessen bauen wir uns ein kleines Lager im Windschatten einer Almhütte, um unser Trüffelfondue auf dem Gaskocher zu geniessen. Extrawarm eingepackt sitzen wir uns am Gaskocher gegenüber und tunken glücklich unser Brot in den weichen, warmen Käse. Dabei geht der Blick immer wieder gen Himmel und zurück hinab auf das Nebelmeer. Eine fast grell leuchtende Sternschnuppe zerreist den Himmel und uns aus unseren Gedanken. Schnell wünschen wir uns was.
Ein Blick auf die Uhr zeigt, das neue Jahr ist schon mehrere Minuten alt! Fix den Prosecco geöffnet, zwei Wunderkerzen angezündet und „Prosit Neujahr!" Die Wunderkerzen sehen albern blass und unbedeutend vor dem Firmament aus, aber irgendwie passen sie zum Augenblick. Und der ist voller Glück. Wenn das nicht der passende Start ins neue Jahr ist, wie soll er dann sein? Zufrieden und tief in uns ruhend verweilen wir noch, bis die Kälte sich kriechend und tückisch bemerkbar macht. Mit klammen Fingern verstauen wir unser Gerümpel und ein leichtes Kältezittern zeigt, wie suboptimal Käsefondue, Blutflusszetralisierung und Kälte zusammen spielen. Doch nach wenigen Schritten wird uns schnell wieder warm. Ein letztes Bild am Gipfelkreuz und hinab steigen wir. Auch wenn die Umgebung nichts von ihrer Schönheit und Faszination verloren hat, sind wir doch zügig am Auto, das inzwischen über dem Nebel liegt. Irgendwie passend, so erleben wir den trostlosen Moment des Abtauchens in die weiss-graue Zwischenwelt erst, als wir bereits wieder tief in den Fängen der Zivilisation hängen. Einige Stunden weit in den ersten Tag des neuen Jahres hinein fallen wir glücklich und zufrieden ins weiche, kuschelige Bett und wissen, so schnell sind wir morgen nicht auf den Beinen. Damit sind wir sicher nicht allein. Doch die Bilder in unserem Kopf werden eine Rarität bleiben.
Wissenswertes
So ganz hopplahop geht auch solch ein Individualsylvester nicht, ein bisschen Planung braucht's schon. Doch die ist durchaus noch am Vormittag zu bewältigen. Ein geeigneter Berg will gefunden werden. Und ein geeignetes Fortbewegungsmittel. Dabei spielen wie bei jeder Tour Licht- und Wetterverhältnisse die entscheidende Rolle. Und da das ganze Nachts passiert, sollte man weit innerhalb seiner Komfortzone planen. Sowohl was den Anspruch angeht, als auch die Sicherheit. Nachts lässt sich quasi kein Lawinenrisiko abschätzen. Und was passiert, wenn nachts die Scheisse den Ventilator trifft, will man gar nicht ausprobieren. Die Sicherheitsmarge muss also riesig sein. Ausserdem sollte man es auch noch eine Weile oben aushalten können und die gesamte Tour ein Genuss sein. Und es geht ja gar nicht um den sportlichen Anspruch. Wir haben uns für einen kleinen Hügel im Voralpenland entschieden, den Spital bei Einsiedeln (siehe Tour der Woche). Und als Aufstiegsmittel für Schneeschuhe. Damit sind Auf- und Abstieg leicht identisch zu bewältigen, man überlebt keine Überraschungen und kommt – je nach Mond – mit wenig bis gar keinem künstlichen Licht aus. Doch dann beginnt die Planung, die teilweise doch so anders ist: Thermoskanne mit Glühwein, Kocher, Topf, Fertigfondue, Brot, Gabeln, Flasche Prosecco und Cüpli, Wunderkerzen statt Feuerwerk – so sah unsere Liste aus. Hier sind natürlich mannigfaltige Möglichkeiten denkbar. In jedem Fall lohnt es sich, eine extrawarme Jacke, zusätzliche Handschuhe und Mütze, Biwaksack, eine Isomatte zum Sitzen, schnelle Enegie wie süssen Tee, Traubenzucker oder Müsliriegel und ein paar Taschenwärmer mitzunehmen. Bei klarem Himmel sollte man die Abstrahlung und Thermik nicht unterschätzen, es wird schnell kalt. Richtig kalt. Vor allem, wenn man ruhig sitzt und die Welt bestaunt. Weiterhin ist eine brauchbare Stirnlampe pro Person – am besten auch mit Rotlicht – sowie Ersatzbatterien dafür unbedingt empfehlenswert. Eine Campinglampe für mehr Licht beim Essen kann ganz nützlich sein. Ausserdem sollte man den Zeitbedarf unbedingt sauber planen, schliesslich will man um Mitternacht oben sein, aber auch nicht ewig vorher. Sonst mag man's zum Schluss nicht mehr geniessen. Doch mit dieser Vorarbeit steht einem ungewöhnlichen Sylvesterabend nichts im Wege. Mehr Bilder in der Gallerie