Mitte April 2013 traf sich das PowderGuide-Team im Tiroler Jamtal zum Saison-Abschlusstreffen. Neben geselligem Beisammensein stand in diesem Jahr eine Aus- und Weiterbildung mit dem Lawinenrettungs-Experten Manuel Genswein auf dem Programm. Und auch dieses Mal war es ein eindrückliches Erlebnis, mit dem führenden Experten für Lawinenrettungssysteme und -suchtaktiken zusammenzuarbeiten. Manuel Genswein ist u.a. Mitentwickler der Barryvox LVS-Geräte von Mammut und hat an der Entwicklung vieler Rettungsmittel und -techniken maßgeblichen Einfluss gehabt. Er schult Bergführer und professionelle Bergretter in mehr als 20 Ländern und ist der gefragteste Experte seines Fachs.
Und weil wir bei PowderGuide inzwischen so viele geworden sind, brachte Manuel auch gleich noch die beiden bekannten Innsbrucker Bergführer und Lawinenexperten Peter Plattner, Chefredakteur des Risikomanagement-Fachmagazins BergUndSteigen sowie den Sachverständigen für die Beurteilung von Lawinenunfällen und Alpinwissenschaftler Walter Würtl mit. Verdammt viel alpines Know-how ballte sich zu dieser Zeit auf der Jamtalhütte und einem gelungenen Treffen stand außer dem flachen und langen Hüttenzustieg durch das Jamtal nichts mehr im Wege.
Mehr als ordentliche Schneeverhältnisse, tolles, wenn auch etwas warmes Frühlings-Bergwetter und eine Prise Neuschnee: so präsentierte sich das ansprechende Tourengelände rund um die Jamtalhütte am Samstag (13.4.2013).
Eigentlich schade, dann erstmal im Seminarraum der Jamtalhütte abzutauchen, doch Manuel Genswein wäre nicht der, der er ist, wenn es ihm nicht gelänge, gut nachvollziehbar und spannend zugleich, zu erklären, warum kein Rechenalgorithmus von modernen Verschüttetensuchgeräten auch nur annähernd an die Differenzierungsfähigkeit des menschlichen Gehörs herankommt und wie man mit Hilfe des Analogtons des „Piepsers“ wirklich jedes Verschüttungsszenario lösen kann. Und um viele Einsichten reicher und voller Tatendrang das in der Theorie gelernte in Form von praktischen Lawinenrettungsübungen auszuprobieren, zogen wir in drei Gruppen ins Gelände.
Der Samstag war vollgepackt mit jeder Menge Kursinhalt: Wer einmal eine Rettungsübung mit Manuel durchgeführt hat und sich von ihm in die komplexe Welt der Funktionsweise und der idealen Anwendung der LVS-Geräte sowie der optimalen Lawinenrettung hat einführen lassen, der weiß, im besten sokratischen Sinne, dass er, im Vergleich zu Manuel, eigentlich nichts weiß. Doch Manuel gelingt der Wissenstransfer auf nahezu perfekte Weise. Alle Fragen, die wir diskutiert und erörtert haben, können hier nicht dargestellt werden, man muss Manuel einfach selbst einmal bei einem Kurs oder Vortrag erlebt haben.
Stellvertretend für den Kurs sollen die beiden von Manuel entwickelten Rettungstechniken Mikrosuchstreifen und v-förmiges Schneeförderband skizziert werden.
V-förmiges Schneeförderband
Dank der modernen 3-Antennen-LVS-Geräte gelingt die Ortung der Verschütteten zumeist schnell und vergleichsweise präzise. Die oftmals entscheidende Zeit vergeht, bis es gelingt, den oder die Verschüttete(n) auszugraben. Um hier überlebenswichtige Zeit zu sparen, hat Manuel Genswein, das sog. V-förmige Schneeförderband entwickelt. Diese optimierte Rettungsstrategie ermöglicht ein schnelles und ressourceneffizientes und gleichzeitig schonendes Freilegen der Verschütteten.
Mikrosuchstreifen
Befinden sich auf einer kleinen Fläche mehrere Verschüttete und können diese vom Suchenden und seinem LVS-Gerät nicht eindeutig identifiziert werden, kann als spezielle Suchmethode die sog. Mikrosuchstreifen eingesetzt werden: Innerhalb der Mikrosuchstreifen werden engmaschige Suchstreifen parallel angeordnet. Je nachdem, wie eng die Verschütteten beieinander liegen und wie viele Personen verschüttet worden sind, werden Suchstreifenbreiten zwischen 2-5 Meter Breite gewählt.
Am späten Nachmittag trafen dann auch die letzten PG’ler, die den Zustieg über Ischgl gewählt hatten, ein: Pünktlich zum Nachmittagsbier auf der Sonnenterasse. Leider, oder zum Glück wurde, anders als beim letzten großen Treffen der PG-Familie, unsere diesjährige Unterkunft nicht unmittelbar nach unserem Treffen abgerissen, sodass leider das Drytooling an den Wänden und Decken der Hüttenstube ausfallen musste. Die freundlichen und netten Wirtsleute der eher hotelartigen Jamtalhütte wären darüber sicher auch nicht begeistert gewesen.
Entgegen der Prognose zeigte sich der Sonntagmorgen ziemlich bewölkt und grau. Ob's am vielen Bier lag? Nein, Schuld war ein kompaktes Bewölkungsfeld eines Störungsrestes , das sich aber unter der starken Aprilsonne zügig auflöste. Nach dem intensiven Schulungsprogramm am Vortag war der Sonntag kurs-frei und somit standen individuelle Touren nach eigenem Geschmack auf dem Programm. Schnell bildeten wir kleine Gruppen, um die umliegenden Gipfel und Pulver- und Sulzhänge zu erkunden. In den nordseitigen Hochlagen lockte noch die eine oder andere Linie mit erstaunlich gut konserviertem Pulverschnee. In Kleingruppen machten wir uns auf den Weg, um das schöne hochalpine, aber recht gemütliche Gelände um die Jamtalhütte herum mit seinen diversen Gipfeln und Gletscherplateaus zu erkunden.
Lawinenunfall: zwei Mitglieder des PG-Teams stürzen über Felsen
Dass wir noch erstaunlich guten Schnee und einige tolle Abfahrten fanden, verlor jegliche Bedeutung, angesichts eines schweren Lawinenunfalls, bei dem zwei Mitglieder des PowderGuide-Teams ca. 400 Höhenmeter mitgerissen und über Felsbänder gespült wurden.
Zwei Gruppen machten sich auf, um zwei Couloirs unterhalb der Augustenköpfe zu befahren. Am Auslauf der beiden Rinnen trennte man sich und eine Gruppe stieg ein Couloir direkt in der Nordwand der Augustenköpfe hinauf, während die zweite Gruppe der beiden Verunfallten den Übergang zwischen unterem und oberem Augustenferner hinauf stieg. Die Schneeverhältnisse im Einstieg waren für Frühjahrsbedingungen exzellent: eine recht homogene Altschneedecke und wenig, aber gut verbundener Neuschnee. Die beiden stiegen teils zu Fuß und teils mit Ski hinauf bis zum Beginn des oberen Ferners, wo sie zu Fuß aufsteigend ein ca. 45 m breites Schneebrett auslösten, dass sie mitriss und mehrere hundert Meter durch felsiges Gelände spülte, bis die Lawine glücklicherweise im relativ flachen Gelände auslief.
Die beiden Verunfallten wurden unterschiedlich schwer verletzt: Der Lawinenairbag des weniger schwer verletzten, verhinderte vermutlich nicht nur dessen Verschüttung, sondern schützte ihn nach eigenen Aussagen während er von der Lawine über die Felsen gespült wurde. Er war somit in der Lage, unmittelbar nach Stillstand der Lawine mit der Kameradensuche zu beginnen und ortete sofort den schwerer verletzten und von wenigen Zentimetern lockerem Schnee verschütteten Kollegen, den er sofort frei legen konnte. Die anderen Teammitglieder der zweiten Gruppe waren ebenfalls schnell zur Stelle und versorgen die Verletzten. Es war klar, dass beide sofort schnellstmöglich ins Krankenhaus mussten. Die alarmierte Rettungszentrale schickte zwei Hubschrauber, die nach wenigen Minuten eintrafen.
Der weniger schwer Verletzte wurde nach Zams in Krankenhaus geflogen, wo eine größere Fleischwunde an der Hüfte, die er sich bei dem Absturz über die Felsen zugezogen hatte, versorgt und genäht werden musste. Er ist inzwischen wieder zu Hause und es geht ihm von Tag zu Tag besser.
Der Schwerverletzte wurde nach Innsbruck in die Universitätsklinik geflogen und musste mehrmals an der Hüfte sowie am Jochbein operiert werden, da er sich beim Absturz mehrere Brüche zugezogen hatte. Inzwischen geht es ihm wieder deutlich besser, er macht bereits die ersten Schritte und erholt sich von dem Unfall.
Oberflächenreif als wahrscheinliche Lawinenursache
Für uns war der Unfall der beiden ein Schock und überschattete das Treffen, an dem trotz der ernsten Thematik eine heitere, ausgelassene Atmosphäre geherrscht hatte. Alle Sorge galt den beiden Verunfallten.
Das Wochenende und die anschließende Woche im April 2013 zählte in Tirol zu den lawinenreichsten des gesamten Winters 2013. Aus diesem Grund wurde lediglich eine Unfallaufnahme durch die Alpinpolizei durchgeführt, weitere Schneedeckenuntersuchungen im Anrissgebiet der Lawine fanden nicht statt. Patrick Nairz vom Tiroler Lawinenwarndienst spekuliert, dass vermutlich eingeschneiter Oberflächenreif, der trotz der vorhergehenden Wärmephase in dem extrem steilen Nordhang nicht zerstört worden war, denGleithorizont im Anrissgebiet des Schneebretts bildete. Auf dieser Schwachschicht lagerten größere Mengen Triebschnee. Zur Zeit des Unfalls galt im Gebiet die Gefahrenstufe 2 für mäßige Lawinengefahr vor allem mit Augenmerk auf nasse Lockerschneelawinen, aber auch vor kleineren Triebschneepaketen im hochalpinen Nordsektor wurde gewarnt. Trotz der nur sehr geringen Neuschneemenge und allgemein westlichen Winden war der nordseitige Unfallhang während und nach den leichten Schneefällen der vergangenen Tage mit viel Triebschnee eingeblasen worden, was das durchaus mächtige Schneebrett ermöglichte.
Wie geht es weiter? Aufarbeitung der Lawinenereignisse
Das mit Abstand wichtigste für uns ist, dass beide wieder vollständig genesen und ihren geliebten Bergsport wieder mit viel Freude ausüben können. Die Prognosen dafür sind glücklicherweise sehr gut. Zugleich werden wir den schweren Lawinenunfall bestmöglich aufarbeiten. Denn bereits wenige Wochen zuvor hatte sich ein anderes PG-Teammitglied bei einem Lawinenabgang verletzt.
Diese Unfälle wollen wir mit dem PG-Team aufarbeiten. Gemeinsam mit allen Interessierten wollen wir fortan kontinuierlich an einer Optimierung der Risikokultur arbeiten. Ein Schwerpunkt wird dabei die Abwägung und Optimierung des individuellen und bewusst eingegangenen Risikos sein. Auch wenn letztlich jeder Wintersportler die Frage nach der Vertretbarkeit seines gewählten Risikos selbst beantworten muss, so plädieren wir (seit langem) dafür, die Risikomaxima, wie sie extreme Unternehmungen darstellen, zugunsten eines verringerten Restrisikos zu reduzieren, das gesellschaftlich akzeptiert werden kann. Denn es bleibt das wichtigste Ziel von PowderGuide, Wintersportlern bei der Minimierung ihres Risikos zur Seite zu stehen und die Verbreitung gängiger Risiko-Check-Methoden zu fördern.
Im kommenden Winter 2014 werden wir daher auch im Portal PowderGuide.com das Thema Risiko-Check und Lawinen-Risiko-Management wieder stärker fokussieren und in einer Themenreihe sowohl für Einsteiger als auch für Fortgeschrittene intensiv behandeln.
Klar ist aber auch: PowderGuide ist eine große Community mit vielen, weit überdurchschnittlich aktiven Mitgliedern. Durch das stetige Wachstum erhöht sich die kumulierte Gesamtzahl von Wintersporttagen von PowderGuide-Freunden und -Mitgliedern deutlich. Wir alle bewegen uns im alpinem und damit nie vollständig risikofreien Gelände, weshalb Unfälle im Umfeld von PowderGuide nicht ausgeschlossen werden können. Umso mehr sehen wir es als unsere moralische Verpflichtung, das Thema der Risikominimierung zu fokussieren und unser Möglichstes dazu beizutragen, dass jedes PG-Teammitglied seinen geliebten Sport mit vertretbarem und möglichst geringem Restrisiko ausüben kann.