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Schneegestöber

SchneeGestöber 1 2016/17 | Wie stöbern wir zukünftig und was haben Lawinen im Herbst verloren?

Wir durchforsten alles zwischen klein und rund sowie groß und becherförmig.

von Lukas Ruetz 04.11.2016
In der laufenden Saison gibt es in (Süd-)Tirol bereits fünf Lawinentote zu beklagen. Leider, denn wo es Schnee und Berge gibt, gibt es auch Lawinen – egal zu welcher Jahreszeit.

Zu allererst: Willkommen bei der neuen wöchentlichen Kolumne bei PowderGuide! Bei Schneegestöber stöbern wir nicht nur im Schnee: Die Priorität wird bei aktuell beobachtbaren Prozessen in der Schneedeckenentwicklung und deren Auswirkungen auf die Lawinengefahr liegen – illustriert mit Schneeprofilen und deren Interpretation. Oft werden wir der Sache anhand von Modellbildungen und extremen Vereinfachungen bzw. hyperbolischer Sprache auf den Grund gehen – um den Fokus stärker auf das Wesentliche legen zu können. Daneben gibt es auch sporadisch einen Blick in andere Abteilungen von Winter und Brettlrutschen. Der Schneestöberer behält es sich ebenfalls vor, provokante oder zynische Meinungen einzubauen und freut sich über lebhafte Diskussionen dazu. Am Ende jeden Schneegestöbers werden wir einen Merksatz finden – einfach zum Einprägen. Das war's schon mit dem allgemeinen Blabla. Heute beschäftigen wir uns mit den Lawinen in den ersten Atemzügen der Saison.

Die Ausgangslage

Im Oktober kamen bei zwei Lawinenereignissen in den Zillertaler Alpen insgesamt fünf Menschen ums Leben. Die Tiroler Tageszeitung titelte „Lawinengefahr in Tirol: Situation ist nicht positiv". Die Schlagzeile „Was steckt hinter den Lawinen im Oktober?" verdeutlicht sehr schön eine leider immer wiederkehrende Meinung, die Lawinen im deutschsprachigen Raum oft an die Monate Dezember bis April bindet. Beide Unfälle sind grundsätzlich auf eine Verkettung unglücklicher Umstände zurückzuführen. Vor allem bei jenem am Olperer hätte kaum jemand ohne vorige Schneedeckenuntersuchungen damit gerechnet, dass sich hier bereits eine Schwachschicht derart ausbilden konnte, damit sich ein Bruch darin soweit fortpflanzen kann – trotzdem sind Lawinen um diese Zeit möglich. Dazu gesellten sich der frische Triebschnee und die extreme Steilheit des Nordhanges. Damit sind wir bei den im Herbst primär problematischen Lawinenproblemen:

Neuschnee & Triebschnee

„Fühle & denke wie eine Lawine" ist nach wie vor eine der besten Prämissen, um Lawinengefahr mit bereits vorhandenem Hintergrundwissen auch ohne Lagebericht bzw. Bulletin einzuschätzen. Obwohl es in den Tälern noch (oder: schon) grün ist, hat des wenig bis gar nichts mit dem Zustand von Schnee und seiner Affinität zur Massenwanderung in höheren Gefilden zu tun. Wer auf über 1500m (wie der Schneestöberer) lebt, tut sich da schon etwas leichter mit dem „In-Schnee-und-Lawinen-Hineinversetzen" weil er örtlich näher am Geschehen ist.

Trotzdem sollte man die Frühlingsgefühle oder Herbstdepressionen des Talbewohners möglichst ausblenden und sich mittels Webcams, Wetterstationen, einem guten Wetterbericht und natürlich dem WetterBlog vorab ein genaues Bild der Situation machen und die vorhandenen Daten mit seinem breitbasigen Lawinenwissen vor der ersten Shark-Pow-Shark-Session des noch jungen Winters kombinieren. Dazu denken wir zuerst an Neuschnee und Triebschnee: Wieviel hat es geschneit? Von wo kam der Wind? Wie stark hat er geweht? Wie lang hat er geweht? Und vor allem: Wie viel Zeit bei welcher Temperatur ist vergangen, seitdem sich der letzte Triebschnee bilden konnte?

Schnee ist wie viele andere Materialien spröder, je kälter er ist – einfach ausgedrückt: er bricht leichter. Das heißt je kälter frischer Triebschnee ist, desto leichter kann er gestört werden. Betrachtet man nur das reine Triebschneeproblem ohne Bezugnahme anderer Wechselwirkungen, gilt: Je mehr Zeit nach der Triebschneebildung vergeht, desto unwahrscheinlicher wird eine Störung aufgrund des „Zusammenwachsens" (Sintern) der Schneekörner. Dieser Prozess läuft bei höheren Temperaturen schneller ab.

Deswegen lernt man: Kälte konserviert die Gefahr, Wärme trägt zur schnelleren Setzung und zur Gefahrenabnahme bei. Die Extremfälle reichen von Triebschnee-nur-wenige-Stunden-störbar bis Triebschnee-zig-Tage-störbar. Das Zeitfenster reicht oft (aber halt bei weitem nicht immer!) von einem bis zu drei oder vier Tagen. Im LWD-Tirol Blog liest man zum Unfall am Olperer: „Als Lehre aus diesem Unglück kann einzig mitgenommen werden, dass nach Sturmereignissen zumindest für wenige Tage an die Gefahr von harten Schneebrettern gedacht werden sollte." Egal, zu welcher Jahreszeit!

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Altschnee

Schwachschichtbildungen werden durch frühe Schneefälle im Herbst wahrscheinlicher. Warum? Schwachschichten bilden sich aufgrund eines starken Temperaturgradienten in der Schneedecke. Nach Schneefällen im Herbst folgen selten weitere, intensive Schneefälle – eher Warmwetterphasen mit wenig bzw. keinem festen Niederschlag. Der Schnee in sonnigen Lagen schmilzt wieder. Aber durch den tiefen Sonnenstand und die nicht mehr ganz so sommerlichen Temperaturen bleibt der Schnee vor allem weit oben auf den steileren, schattigen Hängen liegen. In wolkenlosen Nächten strahlt die Schneeoberfläche Wärme ab und kühlt wesentlich stärker aus als die darüber liegende Luft – so entsteht ein starker Unterschied in der Temperatur zwischen dem Schnee an der Oberfläche und dem in Bodennähe, die sich aufgrund der Wärmestrahlung aus dem Erdinneren knapp unter 0°C bewegt. Teile oder gar die ganze Schneedecke baut sich so in lockere, kantige Kristalle um.

Da die Schneedecke meist noch nicht besonders mächtig (= dick) ist, ist der Unterschied in der Schneetemperatur auf engem Raum noch größer als bei viel Schnee – dadurch wird die Schwachschichtbildung begünstigt. Sobald es wieder drauf schneit und der Wind weht, erhält man das gebundene Schneebrett, das mit dem umgewandelten Schnee des ersten oder der vorigen Schneefälle nur eine schwache Verbindung eingeht, bei einer Störung auseinander bricht und nach dem auseinander Brechen aufgrund der nun fehlenden Verbindung nach unten wegrutscht.

Da sich solche Situationen eben schon im Oktober und November ausbilden können, hilft hier nur einen Blick in die Schneedecke. Sobald die Warndienste ihre Berichterstattung aufnehmen, kann man sich die Informationen zur Verbreitung eventueller Schwachschichten im Altschnee dort holen.

Gleitschnee

Neben Triebschnee- und Altschneeproblemen spielt im Herbst der Gleitschnee unter Umständen eine Rolle, vor allem in tieferen Lagen auf steilen Grashängen nach den ersten intensiven Neuschneefällen. Die Erdoberfläche ist noch deutlich wärmer als 0°C und zwischen dem Neuschnee und dem Boden bildet sich durch das Schmelzen des ersten Neuschnees ein „Schmierfilm", auf dem der weitere Neuschnee abgleiten kann. Hier spricht man von „Abgleiten" weil es sich um ein Reibungsproblem handelt – es entsteht kein Bruch in einer Schwachschicht oder an Schichtgrenzen wie bei einer Schneebrettlawine. Das gesamte Schneepaket gleitet an der Grenze zum Boden ab - aber bricht nicht irgendwo auseinander wie ein Stück Styropor beim Schneebrett! Deswegen kann man Gleitschneelawinen auch nicht auslösen und ihren Abgangszeitpunkt nicht voraussagen – sich aber von allen Anzeichen einer bevorstehenden Gleitschneelawine fernhalten.

Wie schaut's heuer aus?

Die Ausgangslage ist als eher negativ zu werten. Es gibt zumindest in Tirol bereits bodennahe (bzw. „eisnahe") Schwachschichten, die sich vom Wintersportler in gewissen, noch stark eingegrenzten Bereichen stören lassen können. Wie und ob sich das auf die Lawinensituation im weiteren Winterverlauf auswirkt, kann man nicht sagen und hängt vom Wetterverlauf ab. Vor allem von der Häufigkeit der Schneefälle und deren Intensität.

Zu wünschen wäre bezüglich Schneedecke immer ein sehr später, erster, intensiver Schneefall und darauf regelmäßig Neuschnee mit möglichst wenig niederschlagsfreier Zeit dazwischen. Aber das Skifahrerleben ist kein Wunschkonzert. Spätestens im Frühjahr verhelfen uns Sonne und Wärme zu dem ein oder anderen bezüglich Lawinengefahr wirklich sicheren Vormittag.

Summa summarum

Lawinen im Herbst sind nichts Ungewöhnliches – für die vorhandene Schneedecke gelten die gleichen Gesetze wie im Winter. Schneebretter mit Menschenbeteiligung sind deswegen selten, weil sich weniger Sommerbergsteiger und weniger Wintersportler als zu anderen Zeiten im besagten Gelände aufhalten. Wo Schnee liegt, sollte die Einschätzung der Lawinenlage immer ein Teil der Tourenplanung sein und gegebenenfalls Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden.

Merke: Die Lawinengefahr hängt von den hier und jetzt vorherrschenden Bedingungen ab, nicht vom Kalendertag oder der Jahreszeit – vor allem hochalpin!

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