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Schneegestöber

SchneeGestöber 16 2016/17 | Die mögliche, erhöhte Lawinengefahr in vorhandenen Aufstiegsspuren

Ein einfach zu klärendes, selten vorkommendes Paradoxon.

von Lukas Ruetz 16.02.2017
In einer vorhandenen Aufstiegsspur oder in verspurten Hängen kann die Lawinengefahr größer sein als im selben Hang im unverspurten Zustand. Was im ersten Moment absurd klingt, ist bei näherer Betrachtung leicht nachvollziehbar.

Mittlerweile ein alter Hut: Der Bruch und die Schneebrettlawine

Die Hauptursache für Schneebrettlawinen sind Brüche innerhalb der Schneedecke beziehungsweise innerhalb einer Schwachschicht. So wie Porzellan oder Glas auseinanderbricht, bricht in unserem Fall der relativ feste Schaum aus Eis: also ein Gerüst aus Eis umgeben von Luft = Schnee. Brüche erzeugen wir bei jedem Schritt in der Schneedecke, zwischen einzelnen Kristallen. Brechen nicht nur die Verbindungen zwischen einzelnen, direkt betroffenen Kristallen unterhalb unseres Skis oder unserer Fußstapfen, sondern auch die umliegenden, die nicht von unserem Gewicht, also der Zusatzbelastung direkt beeinflusst werden, sprechen wir von der Bruchfortpflanzung. Damit sich ein Bruch fortpflanzen kann, muss die „Konsistenz“ des Schneebretts – also der relativ härteren Schicht - mit der „Konsistenz“ der relativ weicheren Schwachschicht darunter zusammenpassen. Ein zu lockeres „Brett“ führt zwar zu Brüchen, aber da das lockere Brett die Spannungen zu schlecht übertragen kann, kommt es schwerer zur Bruchfortpflanzung und zur Schneebrettlawine. Beim ECT (Extended Column Test) bekommt man das Ergebnis ECTN (= No propagation) also einen Bruch über einen Teil des Blocks ohne Bruchfortpflanzung.

Dann gibt es noch die Möglichkeit, dass das Brett zwar für eine Bruchfortpflanzung gut geeignet wäre, aber die Schwachschicht sich wieder etwas verfestigt hat oder einfach noch zu gering ausgeprägt ist und somit ebenfalls keine Bruchfortpflanzung stattfindet – in diesem Fall liegt die niedrige Bruchfortpflanzungstendenz eher an der Schwachschicht als am überlagernden Brett. Die Beschaffenheit von Schwachschicht und darüber lagerndem Schneebrett muss also zusammenpassen um eine Lawine zu ermöglichen.

Massiv ausgeprägter Schwimmschnee wird ohne entsprechendes, überlagerndes Schneebrett niemals zu Problemen führen. Dafür wird der Cocktail aus extrem schwach gebundenem Schnee - der in der Abfahrt kaum bis gar nicht vom wirklich ungebundenen, also bindungslosen Pulverschnee unterscheidbar ist, lagernd auf Oberflächenreif bereits zu massiven Problemen führen: Eingeschneiter Oberflächenreif ist aufgrund seiner Kristallgröße, -härte, dem Luftanteil und der geringen Schichtmächtigkeit eine der heikelsten Schwachschichten überhaupt. Hier kann schon ein überlagerndes Schneebrett von „untypischer“ (weicherer) „Konsistenz“ ausreichen, um Lawinen auszulösen.

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Die Zusatzbelastung

Daneben spielt die Zusatzbelastung eine Rolle: Zum einen, in welcher Tiefe die Belastung noch in welchem Ausmaß wirkt – abhängig vom Druck (= Kraft pro Fläche) und der Weitergabe der Belastung von einer Schicht zur nächsten. Also einfach ausgedrückt: unserem zusätzlichen Gewicht auf die Schneedecke. ABER: Die Zusatzbelastung wirkt eben vor allem in Aufstiegsspuren nicht nur einmalig auf einem Punkt. Wenn einer nach dem anderen eine Aufstiegsspur benützt, wird jeder Punkt mehrmals belastet. Auch wenn die Stärke der Zusatzbelastung auf die kritische Schicht durch beispielsweise immer weniger schwere, nachkommende Wintersportler mit vielleicht immer breiteren Ski auf eine immer weiter verfestigte Spur eigentlich nachlässt. Aber es wirkt doch durch jeden zusätzlichen Begeher eine Belastung auf die Schneedecke ein.

Das heißt, wenn der Spurleger in unserem Beispiel der schwerste von allen war und durch die noch nicht vorhandene, eventuell später verfestigte Aufstiegsspur einen stärkere Zusatzbelastung auf tiefer gelegene (Schwach-) Schichten ausübte, kommt trotzdem durch jeden zusätzlichen Begeher eine Zusatzbelastung auf die Schneedecke hinzu - ein weiterer Impuls. Dabei kann jede weitere Belastung über eine gewisse, eventuell variable, Mindestbelastungsgrenze hinaus zu neuen Brüchen zwischen einzelnen Kristallen in tieferen Schichten führen – obwohl der Nachkommende weniger wiegt und die Spur eigentlich immer fester wird. Sobald so viele Verbindungen zwischen einzelnen Kristallen in der Schwachschicht gebrochen sind, dass die noch vorhandenen Verbindungen die Auflast nicht mehr halten können, kommt es zur Bruchfortpflanzung und das Schneebrett geht vielleicht beim dritten, siebten oder fünfzigsten ab, der der Aufstiegsspur folgt.

Daneben gibt es die andere Möglichkeit, dass erst eine Belastung über eine gewisse Schwelle hinaus zu Brüchen führt bzw. gleich bei der ersten Belastung über dieser Schwelle eine Bruchfortpflanzung stattfindet und eine Schneebrettlawine abgeht. Auch wenn dutzende „kleinere“ Zusatzbelastungen einwirken, führt keiner dieser Impulse zu Brüchen in der Schwachschicht bzw. zwischen einzelnen Kristallen und so „summieren“ sich diese geringeren Belastungen nicht „auf“. "Aufsummieren" nicht im Sinne von 75 Kilogramm + 67 Kilogramm + 84 Kilogramm sondern als Ein-Impuls-der-Brüche-in-der Schwachschicht-erzeugt + Ein-weiterer-Impuls-der-Brüche-in-der Schwachschicht-erzeugt usw.

Als Grundannahme für diese Überlegungen gilt übrigens immer, dass sich die natürlichen Rahmenbedingungen in der Zwischenzeit nicht ändern: also Schwachschicht und Schneebrett gleich beschaffen bleiben.

Leichter nachvollziehen kann man das Ganze bei den Schneedeckentests CT und ECT: Zuerst schlägt man auf das Schaufelblatt am Schneeblock zehn mal aus dem Handgelenk, gefolgt von zehn Schlägen aus dem Unterarm und zehn Schlägen aus dem gesamten Arm. Wobei man bei den letzten paar Schlägen aus dem gesamten Arm meist den Arm nicht nur passiv auf die Schaufel fallen lässt sondern etwas aktiv helfend fester schlägt. Damit simuliert man zum einen eine immer höhere Zusatzbelastung durch höher einwirkendes Gewicht (vier Stufen: Hand, Unterarm, ganzer Arm, ganzer Arm mit Muskelkraft) – zum anderen immer die möglichst gleiche Zusatzbelastung aber je zehn mal hintereinander einwirkend. Also beide Fälle: Zusatzbelastung absolut steigend durch Härte der Schläge in vier Stufen und Zusatzbelastung mehrmals einwirkend, also Impuls für Impuls. Ein Schneebrett kann durch die erste Zusatzbelastung über einem gewissen Schwellwert abgehen oder aber durch mehrere aufeinanderfolgende Belastungen über einem anderen Schwellwert, der sich auf einem niedrigeren Niveau befindet als der Schwellwert für die einmalig nötige Zusatzbelastung für die Bruchfortpflanzung.

Besser greifbar an folgenden Beispielen

Lawinenunfall Seebleskar, Außerfern vom 12.2.2017

Der siebte und damit letzte Aufsteiger in der gerade angelegten Aufstiegsspur löste in einem extrem steilen Hang eine große Lawine aus - in einer bodennahen Schwachschicht, also aufgrund eines Altschneeproblems. Die anderen Skitourengeher standen knapp über dem Anriss. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder er hat sich nicht exakt in der Aufstiegsspur bewegt und seine Zusatzbelastung hat sich auf einer räumlich minimal verschobenen Stelle ausgewirkt. Genau an dieser Stelle waren die Rahmenbedingungen geringfügig anders und damit konnte er den Initialbruch für die Bruchfortpflanzung erzeugen. Da er sich laut Schilderungen genau in der Aufstiegsspur befand, kann man aber davon ausgehen, dass seine Vorgänger bereits Brüche an dieser Stelle erzeugt haben und er der ausschlaggebende weitere Impuls war, um die Bruchfortpflanzung in Gang zu setzen. Hätte beispielsweise eine Pistenraupe die erste Zusatzbelastung auf diese Stelle gegeben, wäre das Schneebrett mit hoher Wahrscheinlichkeit sofort abgegangen weil diese Art von Belastung wahrscheinlich über der Schwelle für die Bruchfortpflanzung gelegen hätte und so ein einziger Impuls gelangt hätte. Bei den Skitourengehern waren mehrere Impulse nötig bis zum Lawinenabgang.

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Durch das wesentlich geringere Gewicht der Wintersportler in diesem Fall kann man das Ganze eher als „Aufsummierung“ von mehreren, kleineren Zusatzbelastungen sprechen, die allerdings jeder für sich über dem Schwellwert für einzelne Brüche in der Schwachschicht gelegen haben. Allerdings waren die Zusatzbelastungen anfangs noch unter dem Schwellwert für die Bruchfortpflanzung. Durch die immer mehr geschwächten Schwachschicht wurde der Schwellwert für die Größe der Zusatzbelastung zur Bruchfortpflanzung immer weiter herabgesetzt bis das Gewicht des siebten Aufsteigers ausreichen konnte, nicht nur einzelne Brüche zu erzeugen sondern die Bruchfortpflanzung in Gang zu setzen.

Mehr Infos zum Unfall im LWD Tirol Blog.

Lawinenunfall Flaurlinger Narrenböden, Stubaier Alpen vom 31.12.2014

Ein Triebschneeproblem. In einer vor wenigen Stunden angelegten und von einer Hand voll Skitourengehern benützten Aufstiegsspur hat ein einzelner Wintersportler ein kleines Schneebrett ausgelöst und ist darin verstorben. Es handelt sich um einen sehr steilen, kammnahen Südhang. In den Tagen zuvor hat es einiges an Neuschnee gegeben, am Unglückstag wütet noch starker Nordwind, es schneit aber kaum mehr. In diesem Fall war vermutlich die immer höhere zusätzliche Gewicht des immer mehr verfrachteten Schnees in diesen Hang der Grund, warum die Zusatzbelastung des weiteren Tourengehers ausgereicht hat, um das Schneebrett auszulösen. Hier haben sich also in wenigen Stunden die Verhältnisse geändert, die Auflast durch immer mehr hinein verfrachteten Triebschnee wurde immer größer und in Kombination mit der Zusatzbelastung des später aufsteigenden Tourengehers konnte die nötige Schwelle überschritten werden, um zur Bruchfortpflanzung und damit zum Lawinenabgang zu führen. Allerdings zeigt dies auch, wie haarscharf die Gruppe vorher unterwegs war. Die „Aufsummierung“ der vorigen Impulse spielte hier vermutlich keine bzw. eine stark untergeordnete Rolle.

 Mehr Infos zum Unfall im LWD Tirol Blog.

Fazit

Die Rahmenbedingungen im Schnee müssen sich immer ändern wenn jemand den Hang zuerst lawinenfrei begehen konnte und der nächste in der selben Spur eine Lawine auslöst. Die Rahmenbedingungen können sich aus natürlichen Gegebenheiten ändern: z.B. noch mehr Neuschneelast, noch mehr hineinverfrachteter Triebschnee, stärkere Durchfeuchtung. Sie können sich aber auch künstlich ändern: Durch jeden Menschen der die Spur benützt, kann eine Schwachschicht an dieser Stelle immer weiter geschwächt werden und damit der Schwellenwert für die Schneebrettauslösung herabgesetzt werden. Deswegen sind vorhandene Spuren nur bedingt aussagekräftig.

Merke: Die Lawinengefahr in vorhandenen Spuren kann unter Umständen höher sein als vor Spuranlage, weil bereits einige Bindungen zerstört wurden aber gerade noch so viele vorhanden sind, dass noch keine Bruchfortpflanzung und damit ein Lawinenabgang erfolgt ist. Zumindest gegenüber leicht verspurtem Gelände und wenig begangenen Aufstiegsspuren sollte man die gleiche Skepsis behalten wie gegenüber unverspurtem Gelände.

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