Schneeprofile zu graben und richtig aufzunehmen erfordert einiges an Erfahrung, angefangen bei der Frage der Standortwahl bis hin zur Bestimmung der Schichten. Standardmäßig aufgenommene Profile zu lesen ist aber weniger kompliziert, als es auf den ersten Blick wirken mag. Lukas Ruetz erklärt es im Folgenden anhand eines Beispiels aus dem Sellrain. Das besprochene Profil findet sich, wie viele andere, in der LAWIS Datenbank der österreichischen Lawinenwarndienste und sämtliche Notationen entsprechen den dort verwendeten. Andere Organisationen verwenden teilweise leicht unterschiedliche Formulare, die Grundlagen (z.B. Härtestufen, Zeichen für die Kornform) bleiben aber gleich. Schneeprofile anzuschauen ersetzt natürlich nicht das Studium des Lageberichts, kann aber wertvolle Zusatzinformationen liefern und helfen, die Prozesse innerhalb der Schneedecke zu verstehen und während dem Winter zu beobachten.
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Beim Schneeprofil „Lampsenspitze, Koglalm" vom 18. Jänner 2016 weist die Schneedecke eine Höhe von 65cm auf, aufgeteilt auf acht Schichten, die mittels Handprofil (= ohne Zuhilfenahme von Rammsonde oder anderen Geräten) herausgearbeitet wurden.
Schicht 1: Von 65cm bis 53cm Höhe liegt Neuschnee, der bereits leicht abgebaut umgewandelt ist. Die Verästelungen der Neuschneekristalle brechen dabei ab, bekannt als „filziger Schnee". Diese Schicht besitzt Härte 1, das heißt, sie ist mit der Faust mit mäßiger Krafteinwirkung durchdringbar. Sie besitzt Feuchte 1, ist also trocken. Die Kristalle sind 1,5 bis 2mm groß.
Schicht 2: Von 53cm bis 35cm Höhe befindet sich rundkörniger Schnee, der bereits fortschreitend abgebaut umgewandelt ist. Es kann sich dabei um Triebschnee handeln, bei dem der Wind die Neuschneekristalle zerstört hat und so die abbauende Umwandlung beschleunigt hat, oder um ehemaligen Neuschnee, der schon einige Zeit hatte um sich vom Neuschneekristall über den Filz zum Rundkorn abzubauen. Die Schicht besitzt Härte 3, das heißt, sie ist mit einem Finger mit mäßiger Krafteinwirkung noch durchdringbar. Sie besitzt Feuchte 1, ist also trocken. Die Kristalle sind etwa einen halben Millimeter groß. An der Schichtgrenze zum Neuschnee bei 53cm gibt es vier berechnete Nieten (automatisch berechnet nach Unterschiede in Korngröße, Härte, Kornform zwischen den beiden Schichten, siehe „Nietentest").
Schicht 3: Von 35cm bis 18cm befindet sich ebenfalls rundkörniger Schnee, der dabei ist, sich aufbauend umzuwandeln. Er ist schon minimal größer als die Rundkörner der darüber liegenden Schicht (genau 0,5mm oder leicht größer, fast kein Korn ist mehr kleiner als 0,5mm, im Gegensatz zur darüber liegenden Schicht) und vermutlich auch schon leicht glasig, nicht mehr reinweiß. Die Schicht besitzt Härte zwei bis drei, ist mit Vier Fingern nur noch schwer durchdringbar, mit einem Finger hingegen sehr leicht durchdringbar. Sie hat Feuchtegrad 1, ist trocken. An der Schichtgrenze bei 35cm gibt es eine Niete.
Schicht 4: Von 18cm bis 12cm Höhe lagert kantigkörniger Schnee mit einem Durchmesser von 0,5 bis 1mm. Hier haben die Kristalle als Auswirkung der aufbauenden Umwandlung bereits klar ersichtliche Ecken und Kanten, sind klar glasig, nicht mehr weiß, dadurch ist die Schicht von den darüber liegenden durch den „Farbsprung" von reinweiß bzw. leicht glasig zu stark glasig sehr gut mit freiem Auge unterscheidbar. Die Schicht ist ebenfalls trocken. An der Grenze bei 18cm gibt es drei Nieten.
Schicht 5: Von 12cm bis 11cm Höhe befindet sich eine dünne Schmelzkruste, die bereits von unten her stark „zerfressen" ist. Das heißt, an ihrer Unterseite kristallisiert freier Wasserdampf an (der übrigens immer in der Schneedecke vorhanden ist, der Prozess heißt Resublimation oder Deposition). Beim Übergang vom Dampf zur festen Form bildet sich Schwimmschnee an der Unterseite der Schmelzkruste. Deswegen befindet sich in der Brillenform auf der linken Seite ein Kreis = Schmelzform stellvertretend für die Schmelzkörner in der Kruste, auf der rechten ein aufgestelltes V = Tiefenreif, Schwimmschnee, Symbol für die Kristalle, die sich direkt an der Kruste bilden. Die Kristalle der Kruste (egal ob der bereits aufgebaute Teil oder die Schmelzkörner) sind 1,5 bis 2,5mm groß. Die Schicht besitzt Härte 3 und vier Nieten am Übergang bei 12cm.
Schicht 6: Von 11cm bis 8cm befindet sich Schwimmschnee: Aufgeteilt auf Hohlformen (umgedrehtes V, bereits dreidimensional gebaut) und kantige Formen (noch planare Plättchen, keine erkennbare dreidimensionale Struktur). Die Kristalle weisen eine Größe von 2 bis 3mm auf, sind trocken und die Schicht ist leicht mit der Faust durchdringbar. Sie rieselt einem bei minimaler Berührung vermutlich schon entgegen. An der Grenze bei 11cm gibt es fünf Nieten.
Schicht 7: Von 8cm bis 6cm befindet sich wieder eine Schmelzkruste, die ebenfalls von der aufbauenden Umwandlung „betroffen" ist. Die Kristalle sind etwas größer als in der darüber liegenden Kruste und sie ist noch härter, möglicherweise weil der Schmelzkornanteil noch höher ist als der Schwimmschneeanteil, oder weil die Schmelzkörner durch häufigeres Auftauen und Wiedergefrieren eine härtere Kruste mit größeren „Schmelzklumpen" gebildet haben.
Schicht 8: Von 6cm bis zum Boden befindet sich wieder Schwimmschnee, der nur noch aus Hohlformen und Becherkristallen besteht. Fast alle Kristalle weisen eine dreidimensionale Struktur auf, deswegen wurde nur noch das umgedrehte V als Kornform vergeben. Sie sind 3 – 4mm groß und die Schicht ist mit der Faust leicht durchdringbar.
Die Lufttemperatur beträgt während der Aufnahme im Schatten -18,3°C. Die Schneetemperatur auf ca. 60cm Höhe -18,2°C, auf 35cm -9,5°C, auf 3cm Höhe -1,5°C. Die Verbindungslinie zwischen den gemessenen Werten stellt den Temperaturgradient dar: je flacher die Linie, desto stärker der Gradient.
Als Stabilitätstest wurde ein ECT durchgeführt, die Hangneigung am Profilstandort beträgt 29°. Das Ergebnis war ein Bruch durch den ganzen Block (ECTP) beim 11. Schlag (ECTP11) an der Schichtgrenze bei 18cm (ECTP11@18cm). Die Bruchfläche war glatt und regelmäßig.
Interpretation:
Am Standort liegt grade soviel Schnee, dass man bei der inneralpinen Vegetation (Alpenrosen) und vermuteten Oberflächenbeschaffenheit von Gebirgen mit silikatischem Ausgangsgestein (oft Blockhalden) auf 2170m knapp genug Schnee für eine Skitour ohne Steinski hat. Es gab kurz vor der Profilerstellung Neuschnee. Der erste Teil davon ist womöglich unter stärkerem Windeinfluss gefallen. Es gibt zwei Krusten, die mit großer Wahrscheinlichkeit auf Frühwinterschneefälle mit anschließenden Wärme- oder Schönwetterperioden zurückzuführen sind. Wenn man den Wetterablauf für das Gebiet genau im Kopf hat, kann man Rückschlüsse ziehen: In diesem Fall stammt der Schnee vom Boden bis 8cm Höhe von Mitte Oktober, die Kruste hat sich in der warmen Periode Ende Oktober, Anfang November gebildet. Von 12cm bis 8cm liegt der Schnee von den Schneefällen Ende November. Die Kruste darauf stammt vom Schönwetter im gesamten Dezember 2015. Der Schnee oberhalb von 12cm stammt von den Schneefällen seit der Silvesternacht 2015. Oberhalb von 12cm beginnt sich dieser Schnee, der im Jänner 2016 gefallen ist, aufbauend umzuwandeln. Der Prozess gründet mit hoher Wahrscheinlichkeit auf dem momentan sehr starken Temperaturgradienten innerhalb der Schneedecke. Beim Stabilitätstest konnten wir bei wenig Zusatzbelastung (11. Schlag) einen glatten Bruch durch den ganzen Block verursachen. In Verbindung mit den Zusatzbemerkungen („Setzer und Rissbildungen") können wir an diesem Standort zu diesem Zeitpunkt von einer störanfälligen Schneedecke aufgrund der aufgebauten Schichten in Bodennähe ausgehen.
Wenn man sich regelmäßig im Laufe eines Winters damit beschäftigt, ordnet man diesen kleinen Baustein (ein Profil sagt sehr wenig aus!) in Verbindung mit dem Lagebericht (nicht mit der Gefahrenstufe sondern mit dem Absatz „Schneedeckenaufbau"), bereits gegrabenen Profilen in dieser Saison und Prozessdenken (Wann? Wo? Warum?) ein und schärft sein Bild über die derzeitige Situation: die Verbreitung der vorhandenen Probleme, deren Abgrenzung nach Höhenbereich und Exposition bzw. macht sich Gedanken über zukünftige, möglicherweise sich erst herausbildende Probleme.
Zum Weiterlesen empfehlen wir diesen bergundsteigen Beitrag von Patrick Nairz (LWD Tirol).