Kirgistan, Kirgisistan, Kirgisien: Wie man es auch dreht und wendet, beziehungsweise schreibt oder spricht – wenn man dieses Urlaubsziel erwähnt, dann stößt man größtenteils auf verwunderte Blicke. Entweder, weil das Gegenüber keine Ahnung hat, wo das besagte Land liegt, oder weil nicht verstanden wird, was man in einem so einsamen Land überhaupt macht. Genau dieses Unverständnis kräftigte unseren Entschluss in Kirgistan (wir entschlossen uns für diese Variante), genauer im Tian Shan, unseren Urlaub zu verbringen.
Kirgistan ist ein relativ kleines Hochgebirgsland, eingekesselt zwischen Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan und China. Einen Großteil des Landes prägt der Tian Shan. Nur im Süden findet man Ausläufer des Pamir. Die Kirgisen sind ursprünglich ein Reiter- und Nomadenvolk, aber man findet natürlich auch russischstämmige Kirgisen, die zu Zeiten der UDSSR aus strategischen Gründen nach Kirgistan „versetzt" wurden. Der russische Einfluss ist auch heute noch deutlich zu spüren, bei Infrastruktur, Bauweise und auch durch die Leninstatuen, die noch immer zahlreich in den Ortszentren thronen.
Da wir mit 18 Tagen nur begrenzt Zeit zur Verfügung hatten, aber in der Kürze einen bestmöglichen Eindruck von der Hochgebirgslandschaft Kirgistans erhalten wollten, entschlossen wir uns zu einem 10-tägigen Trek im Tian Shan, ganz im Nordosten des Landes. Für diesen Trek fanden wir einen kleinen Tourenführer im Buchhandel und da es für Kirgistan ansonsten kein Karten- oder detailliertes Tourenmaterial gibt, nahmen wir diesen Tourenvorschlag dankbar an. Ein paar Wochen vor dem Start begannen wir unsere täglichen Essensrationen zu planen (Kalorien vs. Gewicht), unser Rucksackgewicht zu optimieren, Zelt und Schlafsäcke noch einmal auszulüften und uns zumindest mit Deutsch-Russisch-Bild-Wörterbüchern zu versorgen – schließlich sprach keiner von uns auch nur ein Wort Russisch oder Kirgisisch.
Irrwege durch Bishkek
Mitte August war es dann soweit und wir starteten unseren Flug über Istanbul nach Bischkek. In Bischkek begannen wir die Suche nach Gaskartuschen – vorbildlich hatten wir natürlich im Vorfeld einen Laden namens Red Fox ausfindig gemacht, der Gaskartuschen vertreibt, und diesen auch kontaktiert und Kartuschen reserviert. Also schlugen wir uns mit dem kyrillischen Stadtplan bis zur Ladenadresse durch, um dort festzustellen, dass dieser wohl umgezogen war. Hier wurde uns erstmals deutlich bewusst, dass ein paar Brocken Russisch sicher von Vorteil gewesen wären, denn mit einem unleserlichen Stadtplan in einer fremden Sprache wurde es relativ schwer, den neuen Standort zu finden. Zudem deckten wir uns noch mit ausreichend Bargeld ein, da es im Hinterland kaum Geldautomaten gibt. Selbst in Bischkek ist es ein Kunststück zwischen den unzähligen Bankomaten einen zu finden, bei dem mit Maestro abgehoben werden kann.
Am nächsten Tag wollten wir von Bischkek nach Karakol reisen. Karakol ist ein Ort am östlichen Ufer des Issyk Kul, dem großen Hochgebirgssee im Osten des Landes, und direkt vor den Toren des östlichen Tian Shan. Von dort starten die meisten Bergtouren, beispielsweise zum Inyltschek, zum Khan Tegri, aber auch zu unserer Trekking-Tour. Wir hatten uns die Anreise nach Karakol recht abenteuerlich und lange vorgestellt und rechneten insgeheim schon Komplikationen mit ein, für die wir extra einen Reservetag eingeplant hatten. Aber wider Erwarten waren wir mit einem Privattaxi über die Nordroute bereits nach wenigen Stunden in Karakol. Ein letztes gepflegtes Bier und ein letztes kalorienreiches Abendmahl bevor es schon am nächsten Tag losgehen konnte.
Es geht los!
Hochmotiviert hievten wir am nächsten Morgen die schweren Rucksäcke in den Kofferraum unseres Taxis, das uns an den Startpunkt der Reise, nach Chong Kuzyl Suu, brachte, von wo es noch relativ unspektakulär ins Massiv gehen sollte. Von Chong Kuzyl Suu aus wollten wir somit auch gleich die ersten beiden Tagesetappen des Tourenführers an einem Tag angehen und am Zusammenfluss der beiden Gletscherbäche Aschuu-Tor und Kotor nächtigen. Schon bald kamen wir trotz wunderschöner und bereits am Start einsamer Gebirgslandschaft in der bitteren Realität an: „Scheiße, ist der Rucksack schwer!!!" So verwarfen wir dann auch ziemlich schnell den Plan, noch weitere Tagesrouten zusammenzulegen.
Ziemlich erschöpft schlugen wir in den letzten Sonnenstrahlen unser Zelt auf. Sobald die Sonne weg war, merkte man ziemlich schnell die allgemein recht sportliche Höhe des Treks und die Daunenjacke wurde zumindest nicht umsonst mitgeschleppt. Schon kurz nach dem Essen meldeten sich die ersten Gewitter- und Regenwolken zu Wort, die uns auch konstant während des gesamten Trekkings treu bleiben sollten. Zumindest auf Niederschlag war Verlass!
Begegnungen mit den Einheimischen
Der nächste Morgen brachte uns gleich den ersten Kontakt mit den kirgisischen Nomadenkindern. Gegen eine Handvoll Süßigkeiten (da ließen sie auch nicht mit sich verhandeln) wurden wir mittels einer Drahtseilbrücke ans andere Flussufer gebracht und von dort starteten wir unseren Weg zum Archa-Tor-Pass (3930 m). Kurz unterhalb des Passes wollten wir unser Lager aufschlagen. Also schleppten wir unsere immer noch gefühlt viel zu schweren Rucksäcke die 15 km über einsame, saftig grüne Wiesen mit Blick auf verschneite und einsame Gletscherriesen bergauf, bis uns unser treuer Freund – der Niederschlag – einholte. Glücklicherweise ließen uns Gewitter und Regen ein kleines Zeitfenster zum Zeltaufbauen und Essen kochen, aber das war es dann auch schon wieder mit der Ruhe.
Die Nacht auf etwa 3600 m war unruhig. Wir waren noch nicht optimal akklimatisiert und dank Gewitter und Wind fehlte zudem die nötige Ruhe. Der frühe Morgen hielt dann noch eine Überraschung parat: Bereits eine leichte Berührung der Zeltwand führte zu seltsamen Rutschgeräuschen und schon bald war klar – Neuschnee! Dieser machte auch die Wegfindung zum Passübergang zunächst etwas beschwerlich. Am Pass oben angekommen wurden wir trotz einiger Wolken allerdings mit einem spektakulären Panoramablick auf den Terskej-Alatau und in das Karabatkak-Tal belohnt. Durch das grüne Asan- Tukum-Tal führte uns unser langer Weg auf Reitspuren der Nomaden ins Jeti-Oguz-Tal. Immer wieder gab es einen Grund zum Anhalten: Schneeriesen, die plötzlich ums Eck zu sehen waren, Teppiche aus Edelweiß und immer wieder ziemlich fette Murmeltiere, die im Vergleich zu der alpenländischen Spezies nicht besonders scheu waren. Ein herrlicher Blick auf das gewaltige Massiv des vergletscherten Oguz-Baschi (5181 m) in der Abendsonne rundete den ersten Pass-Tag unserer Tour ab.
Am nächsten Morgen starteten wir früh in Richtung Fluss, denn morgens ist der Wasserstand der Gletscherbäche deutlich geringer als in den Nachmittagsstunden. Zudem hatten wir mit einem Nomaden am Vortag bereits ausgemacht, dass wir bequem per Pferd über den Fluss gebracht werden und somit nicht die weite Strecke bis zur nächsten Furtstelle gehen mussten.
Wir beide als totale Neulinge in Sachen Reiten waren schwer begeistert, wie der schmächtige Nomade zielsicher den Schwertransporter über den Fluss brachte (also besser sein Pferd): In einer Hand unseren 25-kg-Rucksack, mit der anderen Hand uns noch auf dem Pferd stabilisiert und im Mund elegant die Zigarette. Heil am anderen Ufer angekommen ging es weiter in das Teleti-Tal.Boulderpotential im Teleti-Tal
Auf dem Weg geht wohl jedem Boulderbegeisterten das Herz auf, denn überall auf den saftig grünen Wiesen liegen Boulder. Highball, Überhänge, Balanceboulder - man könnte schier tausende neue Projekte finden (und auch putzen...). Die Etappe durch das Teleti-Tal ist sehr lang und anstrengend. Auf dem Weg kommt man zunächst immer wieder an Nomadenjurten vorbei und wird auch gleich von den vielen Kindern belagert, die unbedingt ein Bild von sich auf der Digitalkamera sehen oder ein paar Süßigkeiten abstauben wollen. Ein Vater ritt uns sogar fast eine halbe Stunde mit seinem Sohn nach, weil er einmal ein Vater-Sohn-Bild betrachten wollte (da wird einem erst bewusst, für wie selbstverständlich wir so einen Luxus halten). Am Ende des Tales schraubt sich der Weg dann endlich zum hinauf zum Teleti-Pass (3750 m) unterhalb welchem wir auf etwa 3300 m erneut unser Zelt aufschlugen. Obwohl wir beim Aufstieg wieder einmal mit Regen überrascht wurden, hatten wir abends Glück: Sonne, blauer Himmel und endlich einmal wieder von Kopf bis Fuß waschen – herrlich!
Auch am nächsten Morgen blieb uns das gute Wetter treu und wir starteten früh über einen herrlichen Aufstieg zum Teleti-Pass. Am von Gletschern umgebenen Pass angelangt blickt man wieder auf die faszinierende, einsame Gebirgslandschaft Kirgistans. Schnell ging es dann auch wieder bergab in das Teleti-Karakol-Tal. Das Teleti-Karakol-Tal besticht durch seine wundervollen Blicke auf vergletscherte Gipfel und sattgrünen Wiesen, die von ganzen Massen an Murmeltieren bewohnt werden. Nicht umsonst gibt es in dieser Gegend tatsächlich Murmeltierjäger. Und überall wieder Edelweiß. So wanderten wir zwar lange aber auch sehr entspannt entlang des idyllischen Bachs bis zum Zeltplatz am Ujun-Tor-Fluss, von welchem aus man auch zum Peak Karakol (5218 m) starten kann.
Im Karakol-Nationalpark
Wir hatten inzwischen Nationalparkterritorium betreten: Der Karakol-Nationalpark wurde 1997 gegründet. Hier wird deutlich, dass den Kirgisen durchaus bewusst ist, wie bedeutend der Schutz ihrer gewaltigen Bergwelt ist und dass daher der Aufbau eines nachhaltigen, sanften Tourismus immens von Bedeutung ist. Das ist nicht selbstverständlich für ein armes Land, das eben gerade erst mit dem Bergtourismus beginnt. Abends bekamen wir dann auch gleich Besuch vom Park-Ranger, der uns die Nationalparkgebühr in solidem Englisch abverlangte. Und da er uns wohl doch recht nett fand, bekamen wir einen kleinen Teil unserer Zahlung gleich wieder zurück – wir mussten ihm aber versprechen, dass wir davon Schokolade beim Karakol – Basecamp kaufen, das wir am nächsten Tag passieren würden. Allein der Gedanke an Schokolade ließ uns besonders gut schlafen.
Am nächsten Morgen wechselte das Wetter innerhalb weniger Minuten von blauem Himmel zu Starkregen und Schnee im Hochgebirge. So waren wir recht dankbar, dass wir in den Jurten des Karakol-Basecamps, das wir nach einiger Zeit passierten, Unterschlupf fanden und wie versprochen tatsächlich Schokolade kaufen konnten. Im Basecamp gab es nämlich eine kleine Versorgungsstation, in der man die nach kirgisischem Verständnis wohl wichtigsten Versorgungselemente kaufen konnte: Schnaps und Schokolade. Trotz des grausigen Wetters nutzten wir die erste kurze Regenpause um in Richtung Ala-Kol-See (3530 m) weiter zu marschieren. Die Teiletappe zum Ala-Kol-See wird von einigen Reiseveranstaltern als 4-Tages-Tour mit Führer und Träger angeboten und so trafen wir an diesem Tag erstmals auf einige, wenige Trekker und auffälligerweise auch sofort auf Müll am Weg (leere Verpackungen sind bekanntlich leichter und sollten daher wieder im Rucksack verschwinden und nicht im Gebüsch).
Nach einem langen und mühsamen Aufstieg bei immer besser werdendem Wetter zum Ala-Kol-See schlugen wir direkt am Seeufer unser Zelt auf. Der See besticht durch sein klares Wasser, das im Laufe des Tages mehrfach die Farbe ändert (Ala-Kol bedeutet „bunter See"). Hier oben war es recht windig und kalt und so schlüpften wir schon recht bald unter einem wunderschönen Sternenhimmel in unser Zelt.
Früh starteten wir am nächsten Morgen zum Ala-Kol-Pass (3920 m), um dort möglichst alleine zu sein, denn dort wurde uns laut Führer ein gewaltiges Panorama versprochen. Und das sollte sich bewahrheiten: Fast eine Stunde waren wir komplett alleine auf der Passhöhe und bestaunten bei bestem Wetter die gigantischen Gipfel von Pik Karakol, Dschigit, Khan Tegri und Oguz-Baschi. Danach schloss sich abermals ein langer und weiter Marsch durch das Tal Richtung Altyn Araschan an.
Spuren des Tourismus
Altyn Araschan ist eine kleine Siedlung im Araschan-Tal, die inzwischen durch die vereinzelten Tourenangebote zum Ala-Kol-Pass und durch ihre heißen Quellen einen touristischen Aufschwung erlebt – nicht unbedingt zum Vorteil der Siedlung. Man kann dort im Garten der Häuser das Zelt aufschlagen und wer möchte kann auch in den Tourismus-Jurten einkehren. Nach einigen Tagen Alleinsein kamen uns die Saufgelage der kasachischen Touristen dort allerdings befremdlich vor und auch insgesamt sehnten wir uns recht schnell wieder nach der Einsamkeit, die wir so schätzen gelernt hatten.
Darum verzichteten wir auf den ursprünglich eingeplanten Ausflug zur vergletscherten Ak-Suu-Wand und die damit verbundene zweite Zelt-Übernachtung in Altyn-Araschan und brachen bereits am nächsten Morgen in Richtung Aschuu-Tor-Pass auf. Das dem Pass vorgelagerte, weite und trockene Hochtal erinnert an die Mongolei und wird als Weideland von Nomaden genutzt. Trocken sollte es allerdings nur wieder bis zur Hälfte des Anstiegs zum Aschuu-Tor-Pass (3650 m) bleiben. Dann begann das volle Programm: leichter Regen, starker Regen, Graupel, Schnee und dazu noch ein kräftiges Gewitter. Das machte den Anstieg über das auffallend rot gefärbte Gestein mühsam und unwirtlich. Schnell stiegen wir ins Ak-Suu-Tal ab, um uns dort einen gemütlichen Zeltplatz zu suchen.
Zurück in der Zivilisation
Der nächste Tag führte uns wieder zurück in die Zivilisation nach Ak Suu. Eine gefühlte Ewigkeit schleppten wir unsere Rucksäcke aus dem Tal, immer mit der Motivation im Kopf, dass es heute endlich ein kühles Bier und eine gepflegte Dusche geben wird. Am mittleren Nachmittag erreichten wir dann Ak Suu, wurden auch gleich von einem Bus nach Karakol mitgenommen und eine junge Kirgisin schien begriffen zu haben, wie ausgehungert wir waren, nachdem sie uns mit mitleidigem Blick gleich einige Äpfel in die Hand drückte.
Als wir in Karakol während der nächsten beiden Tagen zur Ruhe kamen, wurde uns schnell bewusst, dass wir gerne noch mehr von Kirgistan gesehen hätten – nur leider reichte die Zeit diesmal nicht. Freilich war es mühsam, die schweren Rucksäcke bei nicht immer optimalen Verhältnissen zu schleppen. Aber die Einsamkeit und die ungewohnte Ruhe am Berg, die wundervollen Eindrücke und die Leichtigkeit des Reisens in Kirgistan entschädigten für all die Mühen. Wir waren so begeistert, dass wir gerne wiederkommen wollen, um noch weitere unergründete Ecken dieses wunderbaren Hochgebirgslandes zu entdecken. Wir hoffen, dass es Kirgistan gelingt, den langsam Einzug haltenden Tourismus weiterhin auf eine nachhaltige und sanfte Art und Weise fortzuführen, denn es wäre schade, wenn die einzigartige und noch wilde Landschaft auch hier dem Menschen Untertan würde.
Literatur:
Kai Tschersich (2005): Kirgistan: Terskej-Alatau-Traverse. Trekking im Tienschan. Conrad Stein Verlag
ISBN 3-89392-551-1