Es ist Dienstag, der 3. März 2015, 17:15 Uhr, mein Handy piepst: eine SMS von der Leitstelle Tirol: „Einsatz BR St. Sigmund/Sellrain Ortsstelle, EL A. S., St. Sigmund, abgängige Person Pforzheimer Hütte." Ich sitze in meinem Zimmer am PC. Jetzt springe ich auf, stopfe Einsatzmaterial und zusätzlich warme Kleidung in meinen Tourenrucksack, felle auf und sprinte in meinen Tourenschuhen in das Bergrettungslokal. Währenddessen telefoniere ich mit unserem Einsatzleiter. Er weiß, dass der Koch unserer nächstgelegenen Schutzhütte heute allein auf eine Skitour aufgebrochen ist und laut der Wirtin noch nicht zurückgekommen sei.
Auf dem Weg zum Einsatz muss ich an das Wetter der letzten Tage denken: Starker Westwind hat hier gewütet, viel Neuschnee fiel zudem auf eine miserabel aufgebaute Altschneedecke. Eine Lawine ist unter diesen Ausgangsbedingungen das erste, was mir durch den Kopf geht.
Bergwacht oder Bergrettung – ein fundamentaler Unterschied in Österreich
Der Grund, warum ich trotz schlechtem Wetter an diesem Tag ausrücke: Ich bin Bergretter in Österreich. Wer häufiger in den deutschen Bergen unterwegs ist, würde mich jetzt wohl als „Bergwachtler" betiteln. Was die meisten nicht wissen: In Österreich gibt es zwei Organisationen, die sich stark unterscheiden. Die Bergrettung ist in Österreich vornehmlich für das terrestrische, alpine Rettungswesen zuständig. Übersetzt bedeutet das: auf dem Boden. Die Flugrettung übernimmt der Autofahrerclub ÖAMTC mit seiner Christophorus-Hubschrauberflotte und verschiedene Privatanbieter, wobei sie mit den Bergrettern intensiv zusammenarbeiten.
Nach außen zeigt sich die Bergrettung in Österreich relativ einheitlich. Der Dachverband der Bergrettung setzt sich in den Bundesländern mit alpinem Gelände jedoch aus sieben Gruppierungen zusammen. Die Organisation ist also mehr eine gemeinsame „Arbeitsgruppe", innerhalb der die Bundesländervereine selbstständig agieren. Der „Österreichische Bergrettungsdienst Land Tirol" ist also ein eigenständiger, einzelner Verein, der sich in 93 Ortsstellen gliedert. Die Ortsstellen stellen keinen eigenen Verein dar und unterliegen somit dem Landesverband. Die angewandten Bergetechniken und vor allem die Ausbildung unterscheiden sich innerhalb der Bundesländer sehr stark. Das gleiche Ziel haben sie jedoch alle: Vermisste, verletzte und auch tote Personen bergen - teilweise auch (Kletter-) Steige warten und präventive Maßnahmen setzen, damit Unfälle erst gar nicht passieren. Momentan gibt es in Tirol etwa 4.300 einsatzbereite Männer, 145 Frauen und 65 Bergrettungshunde.
Der Zuständigkeitsbereich der Bergwacht liegt dagegen in erster Linie im Naturschutz: Bergwächter überwachen Naturschutzgesetze und engagieren sich zum Beispiel im Kampf gegen Neophyten. Wer bei der Bergwacht ist, darf abmahnen, Personen festnehmen, Gegenstände (wie zu viele gesammelte Pilze) beschlagnahmen und Organstrafverfügungen verhängen. Die Bergwacht ist eine vollkommen von der Bergrettung unabhängige Körperschaft öffentlichen Rechts. Kurzum: Jemandem mit einem grünen Kreuz mit darauf sitzendem Edelweiß auf rot-schwarzer Uniform die Frage zu stellen: „Bist du bei der Bergwacht?", stellt in Österreich ein absolutes No-Go dar!
An diesem frühen Abend wird also ein Mensch vermisst und für uns Bergretter zählt jede Sekunde. Beim Bergrettungslokal höre ich schon den Hubschrauber. Ich schnappe mir noch schnell ein Funkgerät. Es dämmert bereits – keine guten Aussichten für eine Suche. Ich bin der erste Einsatzbereite, der Hubschrauber fliegt mich sofort ins hintere Gleirschtal – ohne Zusatzmaterial, das können die Nachkommenden mitbringen. Bei einer möglichen Lawine tickt die Uhr. Je schneller jemand am Einsatzort ist und mit der LVS-Suche beginnen kann, desto besser. Außerdem habe ich mein persönliches Erste-Hilfe-Paket im Rucksack.
Pilot und Flugretter erklären mir während des Flugs, wo der vermisste Mitarbeiter der Hütte vermutet wird, dann sind wir auch schon da. Der Wind bläst hier noch sehr stark aus West. Ich merke wieder, warum ich heute privat keine Skitour unternommen habe. Im Gleirschtal befinden sich dutzende frische, riesige Lawinenkegel - auch im Bereich der Route, wo die gesuchte Person vermutet wird. Der Pilot hat es schwer, im schwachen, diffusen Licht, bei Wind und Schneefegen zu landen. Er setzt mich auf einem frischen Lawinenkegel ab. Dort treffe ich zwei auf der Hütte einquartierte Bergführer, die zu Fuß aufgebrochen sind, um Hilfe zu leisten. Ich spreche kurz mit den Bergführern, welchen Bereich sie schon abgesucht haben und stelle mein Funkgerät vom Trunk-Modus (funktioniert wie ein Handy, braucht eine Funkmastenverbindung zur Übertragung) auf den Direktmodus (Übertragung direkt von Funk zu Funk, wie ein Walkie Talkie). Im Gleirschtal besteht von der „Enge" weg keine Verbindung zu einem Funkmasten, ich werde also keinen Empfang haben. Dann beginne ich, mit dem LVS-Gerät den Kegel abzusuchen. Kurz darauf unterstützen mich ein Lawinenhundeführer und sein Vierbeiner. Der Heli hat die beiden direkt von zu Hause abgeholt.
Innerhalb von einer halben Stunde befindet sich eine Einsatzmannschaft von etwa 20 Mann mit speziellem Bergematerial und Akja vor Ort. Auch der Ortsstellenleiter unserer Nachbarortsstelle ist hier und übernimmt mit mir die Einsatzleitung Berg, weil er viel mehr Erfahrung hat als ich. Am Lawinenkegel ist inzwischen außerdem ein Alpinpolizist angekommen.
Die einzige Verbindung nach außen besteht über unser Funkgerät zum Funkgerät auf der Hütte. Von dort aus kann die Wirtin mit der Einsatzleitung im Tal telefonieren. Eine direkte Verbindung ist weder mit einem Handy noch mit einem Funkgerät möglich. Uns erreicht die Nachricht, im Tal würden noch mehr Kollegen warten, aber es ist 18:00 Uhr und stockdunkel, die Hubschrauber können nicht mehr shuttlen und ein Fußmarsch bis zum Suchgebiet würde drei Stunden in Anspruch nehmen. Außerdem ist die Lawinensituation immer noch angespannt, es sind schon viel zu viele bei Nacht und Sturm im Gelände. Wie riskant dieser Einsatz ist, rückt in unseren Köpfen aber ganz weit nach hinten, denn es geht um ein Menschenleben. Der junge Mann ist zwar bereits vor vier Stunden von der Hütte aufgebrochen und im Falle einer Lawine möglicherweise bereits seit langem verschüttet, aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
Keiner zwingt uns zu diesem Einsatz. Die Bergrettung ist im Gegensatz zur Bergwacht nicht gesetzlich verankert, und somit ähnlich wie zum Beispiel ein Sportverein. Damit entfallen dem Bergretter viele Rechte, aber auch Pflichten.
Es gibt keinen „Anspruch" auf eine Rettung im Einsatzbereich der Bergrettung - abgesehen von der moralischen Ebene. Jeder kann sich weigern, zum Einsatz aufzubrechen. In der Praxis geschieht das glücklicherweise nicht, im Gegenteil: Wie an diesem Tag wagt die Mannschaft bei den meisten Einsätzen eher zu viel, aus verschiedensten psychologischen Gründen: Einsatzgeilheit, gruppendynamische Vorgänge wie bei einer gemeinsamen Tour, das Bewusstsein „Je schneller wir oben sind, desto wahrscheinlicher überlebt der Patient".