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Bergwissen

Welt der Wissenschaft | Die Legende vom viel befahrenen Hang

Wie war das noch mit dem Arlbergeffekt?

von Lea Hartl 19.11.2017
Während hierzulande die ersten großen Schneefälle der Saison für Aufregung sorgen, zertrampeln in Aspen Dutzende Freiwillige gnadenlos den ersten Schnee des Winters. Schuhe und Hosenbeine mit Ducktape umwickelt, marschieren sie durchs frisch eingeschneite Gelände, um zu verhindern, dass der Schnee der Frühsaison zum Altschneeproblem wird.

Verlässt man in den Alpen die gesicherten Pisten und Skirouten, ist das eine Entscheidung, die man mitsamt potentieller Konsequenzen selbst zu verantworten hat. Selbst wenn man nur 3 Meter von der Piste entfernt im freien Skiraum verschüttet wird, ist daran in aller Regel nicht das Skigebiet schuld. Zwar betreiben die Skigebiete großen Aufwand, um Pisten und Infrastruktur zu sichern und sprengen dabei naturgemäß auch im freien Skiraum Lawinen ab, Garantien für die Sicherheit jenseits der Pisten- und Skiroutenbegrenzungen werden aber nicht übernommen.

In den USA ist das anders. Die Zuständigkeit der Skigebiete hört hier nicht am Pistenrand auf, sondern an der Grenze zwischen "inbounds" und "out of bounds" Gelände. Letzteres gehört nicht zum Skigebiet und wird nicht gesichert. Ersteres hingegen gehört zum Skigebiet und wird gesichert, aber nicht unbedingt präpariert. Viele Gebiete haben viel, teils auch sehr anspruchsvolles inbounds Gelände, was hinsichtlich Lawinen gesichert wird und ohne Pisten auskommt. Häufig ist alles, was vom Lift aus ohne Aufstieg zu erreichen ist, inbounds. Dieses Gelände kann vom Skigebiet gesperrt werden (fährt man trotzdem rein, droht z.B. Skikartenentzug), ist es aber geöffnet, übernimmt das Skigebiet weitestgehend die Verantwortung dafür, dass dort niemand verschüttet wird.

Die Bootpacker von Highland Bowl

1994 wurde im Skigebiet Aspen Snowmass, Colorado, der Beschluss gefasst, das Skigelände um Highland Bowl zu erweitern. Highland Bowl ist ein weitläufiger Talkessel in der Nähe der Lifte mit großen, offenen Hängen und bewaldetem Gelände an den Seiten. Das Klima Colorados ist sehr kontinental – also kalt und relativ trocken. Langanhaltende Altschneeprobleme sind vorprogrammiert und treten fast in jedem Winter auf.

Um Highland Bowl ins Skigebiet zu integrieren, musste also eine Fläche von etwa 49 Hektar mit mittleren Steilheiten zwischen 37° und 42° und denkbar ungünstigem Schneedeckenaufbau so abgesichert werden, dass die Besucher sich dort um Lawinen keine Gedanken machen müssen. Den ganzen Kessel zu Pisten zu planieren, kam nicht in Frage. Das Gelände sollte abgesichertes Tiefschneevergnügen bieten.

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Nach einer mehrjährigen Planungsphase wurden im Winter 1997/98 zum ersten Mal Teile von Highland Bowl als inbounds freigegeben. In jedem folgenden Jahr wurde die Fläche größer, bis schließlich nach fünf Wintern der ganze Kessel zum Skigebiet gehörte. Inzwischen ist Highland Bowl eine der zentralen Attraktionen von Aspen. Der etwa halbstündige Aufstieg vermittelt das Gefühl, ein echtes Backcountry-Abenteuer zu erleben. Diese Illusion soll möglichst nicht durch haufenweise Sprengkrater zerstört werden. Außerdem möchten die zahlenden Gäste Powderhänge befahren und nicht abgesprengte Lawinenkegel.

Die Lösung dieser sicherheitstechnischen Herausforderung ist so theoretisch simpel wie praktisch komplex: Jedes Jahr trampeln in der Frühsaison Skigebietsmitarbeiter und Locals den aufbauend-umgewandeltden Herbstschnee und die ersten Schwachschichten systematisch kaputt. Pro Saison werden dafür etwa 6500 Arbeitsstunden aufgewendet. Dutzende "Packer" gehen entlang der Falllinie in geraden Linien mit einem Meter Abstand zueinander den Berg hinunter und erzeugen so ein dichtes Gitternetz aus Fußstapfen. Dabei soll eine Eindringtiefe von mindestens 80% erreicht werden. Idealerweise dringen die Stiefel bis auf den Boden durch. In steileren Bereichen sind die Packer an Fixseilen gesichert.

Wer mithilft, kann sich eine günstige Saisonkarte verdienen. Um den vollen Preis erstattet zu bekommen, muss man 15 Tage lang 8 Stunden durch den Schnee waten. Das Programm erfreut sich großer Beliebtheit und es gibt deutlich mehr Trampelwillige als benötigt werden.

Nach dem ersten Bootpacking Großaufgebot im Spätherbst folgt in einem zweiten Schritt die "systematic application of explosives" (SEA). Hierbei werden alle 10 Meter 1 Kilo Sprengsätze gezündet (bei Lawinensprengungen im laufenden Betrieb kommt wesentlich mehr Sprengstoff zum Einsatz, aber nur an strategischen Punkten, nicht alle 10 Meter). Dadurch werden wiederum Schwachschichten zerstört. Zudem wird der Schnee in den Kratern durch die Sprengzündung stark verdichtet und es entstehen „Säulen“ aus Schnee, die deutlich fester sind als der Schnee darum herum. Potentielle Schwachschichten, in denen der Bruch für ein Schneebrett erzeugt werden kann, werden so unterbrochen.

Wenn es dann das nächste Mal schneit, werden wieder die einheimischen Skifahrer um Mithilfe gebeten und unter strenger Aufsicht nach und nach auf das Gelände losgelassen. Dieser Schritt dient dazu, den bereits zertrampelten und mit Sprengstoff behandelten Schnee nochmal zu verdichten und den darüber liegenden Neuschnee zu verfestigen.

Damit ist Highland Bowl dann bereit für die Eröffnung, die meist Mitte Dezember stattfindet – etwas später als im restlichen Skigebiet. Nach jedem folgenden Schneefall wird wieder gesprengt (an strategischen Punkten, mit größeren Sprengsätzen). Kleinere Triebschneepakete werden von der Skipatrol abgetreten.

Das Bootpacking Programm in Aspen ist das wohl größte und traditionsreichste, aber die Methode wird auch in anderen Gebieten erfolgreich angewendet. In Aspen wurden seit Einführung des systematischen Bootpackings – im Gegensatz zu den Jahren davor - keine Lawinen in derart behandeltem Gelände mehr verzeichnet.

Der Arlbergeffekt

Auch am Arlberg gibt es überaus beliebtes Variantengelände, das für das Skigebietsmarketing eine zentrale Rolle spielt. Anders als in Aspen zertrampelt hier aber niemand schon im Herbst den zukünftigen Altschnee des Hochwinters. Statt inbounds Powder gibt es Pisten, Skirouten und eben den ungesicherten, freien Skiraum. Das Schindlerkar mag genauso viel befahren werden wie Highland Bowl, die Rahmenbedingungen sind aber grundverschieden.

Trotzdem hört man immer wieder vom sprichwörtlichen Arlbergeffekt, durch den hier angeblich alles ein bisschen sicherer ist. Gemeint ist, dass am Arlberg so viel Gelände, so regelmäßig und so schnell nach jedem Schneefall befahren wird, dass die Lawinengefahr nicht so groß ist, wie anderswo in vergleichbarem Gelände.

Auch Lawinenwarner in den USA kennen Touren- und Variantengelände, das so viel befahren wird, dass dort signifikant andere Lawinenbedingungen herrschen, als in weniger verspurten Bereichen:

"A concern for some backcountry forecasters is the development of a false sense of avalanche knowledge and confidence in recreationalists who learn and progress in such high-usage backcountry areas. As users progress and explore, they eventually leave such high use areas and move into less-compacted terrain, where the regional avalanche forecast is more representative and the snowpack more variable. A major challenge presented to avalanche forecasters is how to communicate avalanche hazard in a region that has both areas with minimal usage and compaction and areas that have extremely high usage and a heavily disturbed snowpack.“ (Saly et al., 2016)

Munter erlaubt in seiner Reduktionsmethode einen zusätzlichen Reduktionsfaktor für "ständig befahrene Hänge“, wobei diese definiert werden als "zahlreiche Spuren nach jedem Neuschneefall auch in der Anrisszone". Der Lagebericht hingegen mahnt immer wieder: "Besonders aufpassen heißt es in bisher wenig verspurten Schattenhängen."

Wenn also viele Skifahrer schon ausreichen, um einen Hang sicherer zu machen, stellt sich die Frage: warum muss in Aspen so viel mehr Aufwand betrieben werden, wenn sich der Arlbergeffekt sich auch ohne mühsames Bootpacking einstellt? Beziehungsweise: wann und wie verlässlich funktioniert der Arlbergeffekt?

(Fortsetzung auf der nächsten Seite)

Kann man das messen?

Grundsätzlich gibt es folgende Möglichkeiten, die Stabilität der Schneedecke zu erhöhen:

  • Schwachschichten zerstören, verkleinern oder unterbrechen
  • Festigkeit der Schneedecke durch Verdichten erhöhen

Der erste Punkt betrifft die Bruchfortpflanzung, die nicht oder nur eingeschränkt stattfinden kann, wenn die Schwachschicht zertreten oder sonst wie zerstört wurde. Der zweite Punkt betrifft den Bruch an sich. Je fester die Schneedecke, desto mehr Kraft muss aufgewendet werden, um einen Bruch zu erzeugen.

Die Aspen-Methode mit Bootpacking und SEA wirkt einerseits verdichtend, andererseits werden in der Frühsaison entstandene Schwachschichten zerstört, bevor sie zum gefährlichen Altschneeproblem werden. Neuschnee- oder Triebschneeprobleme, die während der Saison entstehen, werden durch ständiges Befahren und gezielte Sprengungen in Schach gehalten.

Beim Arlbergeffekt fallen das Bootpacking in der Frühsaison und die extrem kleinräumigen SEA Sprengungen weg. Übrig bleiben die vielen Skifahrer und Sprengungen, deren primäres Ziel es ist, nicht den freien Skiraum zu sichern, sondern die Pisten zu schützen. Die letzten Winter in den Alpen haben gezeigt, dass verspurte Hänge – und sogar solche, in denen mehrfach gesprengt wurde – nicht unbedingt Sicherheit vor Altschneelawinen bieten.

Die Bootpacker in Aspen durchtreten die gesamte Schneedecke und zerstören so auch tiefliegende Schwachschichten. Skifahrer, die nur auf der Schneeoberfläche fahren, verdichten diese zwar, erreichen aber oft nicht die Schwachschichten, die tiefer in der Schneedecke liegen. Bei einer stark oberflächlich verdichteten Schneedecke ist zwar mehr Krafteinwirkung nötig, um einen Bruch in tieferen Schichten zu erzeugen. Wenn die notwendige Kraft aber aufgewendet wird, kann sich der Bruch ungehindert in den tiefen Schwachschichten fortpflanzen. Es ist im Falle eines Altschneeproblems also maximal einer der oben genannten Punkte durch Skifahrer erfüllt: Die Schneedecke wird durch Befahren verdichtet und somit fester, tief liegende Schwachschichten werden aber nicht zerstört.

Trieb- und Neuschneelawinen dagegen resultieren meist aus, verglichen mit einer Altschneesituation, oberflächennahen Schwachschichten. Diese sind häufig auch mit der relativ geringen Eindringtiefe eines Skifahrers gut zu stören. Im Falle von einem Trieb- oder Neuschneeproblem können also auch Skifahrer beide der oben genannten Punkte erfüllen: Sie zerstören durch das Befahren Schwachschichten und erhöhen gleichzeitig die Festigkeit der Schneedecke, in dem sie sie verdichten.

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Diese Studie versucht, sich diesem Thema ansatzweise systematisch zu nähern und zu quantifizieren, wie sich Befahren bzw. Zertrampeln auf die Stabilität der Schneedecke auswirken. In mehreren 5x5m großen Testfeldern wurden über 6 Wochen verschiedene "Stabilisierungsmethoden" ausprobiert. Die Entwicklung der Schneedecke und deren Stabilität wurde mit Profilen und regelmäßigen ECTs (Extended Column Test – Erweiterter Säulen Test) verfolgt und dokumentiert. In der etwa 1m dicken Schneedecke gab es in ca. 70cm Tiefe eine Schicht aus aufbauend umgewandelten Kristallen. Darüber lagerte der Schnee von diversen Niederschlagsereignissen.

Verglichen wurde ein naturbelassenes Testfeld und Testfelder, in denen folgende Methoden zum Einsatz kamen:

  • "Boot Pack“ - Zu Fuß im Testfeld herum laufen, so dass nicht mehr als 20cm Abstand zwischen einzelnen Fußstapfen besteht.
  • "Ski Compaction“ - Mit Ski im Testfeld auf- und ablaufen, so dass das komplette Feld zertreten wird.
  • "Ski“ - mit Ski 5 bis 6 mal durch das 5x5m große Testfeld fahren

Bei den ECTs fanden die Brüche – sofern es zum Bruch kam – mit wenigen Ausnahmen in der Schwachschicht im Altschnee statt. In jedem Testplot wurden 18 ECTs durchgeführt. Das unverspurte Testfeld und das "Ski“ Testfeld hatten beide jeweils 10 ECTs mit Bruchfortpflanzung zu verzeichnen. Lediglich die Anzahl der ECTs ohne Ergebnis und mit Teilbrüchen ist zwischen diesen beiden Testfeldern leicht unterschiedlich. Im "Ski Compaction“ Testfeld gab es 7 ECTPs, also ECT Ergebnisse mit Bruchfortpflanzung. Im Boot Pack Testfeld waren es nur 3. In 2 weiteren Fällen kam es hier zu Teilbrüchen, bei den restlichen 13 ECTs passierte gar nichts.

Es wird betont, dass auch im Boot Pack Feld die Schwachschicht nicht komplett zerstört werden konnte und darauf hingewiesen, dass sich die Ergebnisse geringfügig mit der zwischen den Testfeldern schwankenden Schneehöhe ändern.

Abschließend kommt man zum gleichen Schluss wie diese Studie, in der vor einigen Jahren ein größeres Boot Pack Testfeld mit einem ebenso großen, unverspurten Testfeld verglichen wurde: Boot packing in der äußerst systematischen, mühseligen Form hat signifikante Auswirkungen auf die Stabilität der Schneedecke. Bei den Versuchen mit Ski (mehrfach durchfahren, komplett im Treppenschritt ablaufen) sind die Ergebnisse wesentlich weniger eindeutig.

Selbst am Arlberg werden die Hänge nicht von oben bis unten vollständig im Treppenschritt bearbeitet und die Spurdichte ist im Schnitt wohl auch geringer als im "Ski" Testfeld (weniger als 1m zwischen den Spuren). Auf den "viel befahrenen" Hang sollte man sich also wenn überhaupt nur dann verlassen, wenn kein Altschneeproblem (und auch kein Nass- oder Gleitschneeproblem!!) vorliegt und der Hang wirklich viel befahren ist.

Die meisten Hänge, die man als Freerider auf der Suche nach Powder gern fährt, sind das schließlich sowieso nicht.

Quellen

Carvelli, P., 2008: Bootpacking and systematic application of explosives: shear plane disruption technique in the continental climate. Proceedings of the International Snow Science Workshop, Whistler, BC, 337-944.

Heinecken, K., 2004: Highland Bowl – a ski area expansion. Proceedings of the International Snow Science Workshop, Jackson Hole, WY, 661-665.

Sahn, K., 2010: Avalanche risk reduction in the continental climate: how to implement an effective boot packing program. Proceedings of the International Snow Science Workshop, Squaw Valley, CA, 296-301.

Saly, D., Hendrikx, J., Birkeland, K., Challender, S., Leonard, T., 2016: The Effects of Compaction Methods on Snowpack Stability. Proceedings of the 2016 International Snow Science Workshop, Breckenridge, Colorado.

Wieland, M., Hendrikx, J., and Birkeland, K., 2012: The effectiveness of boot packing for snowpack stabilization. Proceedings of the International Snow Science Workshop, Anchorage, AK, 993-997.

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