Mittlerweile ist das Angebot an Lawinenrucksäcken auf dem europäischen Markt enorm groß. Zum Winter 2014/2015 brachte Scott mit dem herausnehmbaren Alpride-System eine neue Rucksacklinie heraus: Vier Rucksäcke können mit dem gleichen Airbag-System ausgestattet oder einzeln verwendet werden. Wir haben für euch den Scott Air Free AP 30 und den Scott Air Mountain AP 40 getestet.
Ab diesem Winter beinhaltet die neue Lawinenrucksacklinie von Scott ein neues Airbagsystem, das ganz besonders durch sein niedriges Gewicht überzeugt. Nachdem zuvor noch das R.A.S.-System von Mammut/Snowpulse eingebaut wurde, präsentierten die Schweizer mit amerikanischen Wurzeln auf der ISPO 2014 die neue Kooperation mit dem Schweizer Unternehmen Alpride. Ab jetzt werden alle Scott-Airbag-Rucksäcke mit diesem System ausgestattet und in Zukunft soll es dann auch noch mehr Rucksack-Modelle geben. Vorerst sind es vier: Die beiden Air Mountain AP 20 und 40 und die beiden Air Free AP 22 und 30.
Alpride – ein neuer Name auf dem Markt der Lawinenairbag-Systeme
Die Geschichte hinter dem Namen Alpride ist so simpel wie einleuchtend. Drei Geschäftsleute gehen mit herkömmlichen Lawinenrucksäcken im Berner Oberland auf Skitour und besteigen dabei mehrere 4000er Gipfel der Jungfrau-Region. Erschöpft von den Strapazen sinnieren sie über die Möglichkeit von leichteren, billigeren und benutzerfreundlicheren Lawinenrucksäcken. Aus dem Gespräch wird eine Idee und ziemlich schnell ein Projekt, das mit Leidenschaft vorangetrieben wird. Keine fünf Jahre später wird das erste geprüfte System präsentiert und Scott entscheidet sich als erster Lizenzpartner das Alpride-System in seinen Rucksäcke zu verbauen.
Das System wurde auf Basis der technischen Details einer Rettungsweste entwickelt, wie sie z.B. beim Segeln schon etliche Jahre genutzt werden. Durch die getrennte Aufbewahrung von komprimiertem Argon und Kohlendioxid können zwei kleinere (und dadurch leichtere) Kartuschen verwendet werden. Weiterer Vorteil: Es genügt ein Druck von 180 Bar in den Kartuschen, womit den Bestimmungen der IATA (International Air Transport Association) entsprochen wird. Die Kartuschen sollten ohne Probleme auf Flugreisen mitgenommen werden können. Hundertprozentig scheint das noch nicht geklärt und man kann gespannt darauf warten, ob es beim Check-In dann zu Problemen kommt. Die Auftriebskörper (150 Liter) werden in drei Sekunden aufgeblasen – wegen der Technik mit Venturi-Ventil vornehmlich mit der umliegenden Luft und zu geringen Teilen mit dem komprimierten Argon und Kohlendioxid. Größter Vorteil ist aber das Gewicht und der Preis – bzw. beides in Kombination. Mit gerade mal 800 Gramm ist es das leichteste Airbagsystem auf dem Markt und zusammen mit der Kartusche wiegt es 1250 Gramm – nur das Mammut R.A.S.-System wiegt mit der leichteren Karbon-Kartusche 100 Gramm weniger. Diese Kombination kostet dann aber auch 120,- Euro mehr (UVP). Mit der preisgünstigeren Stahl-Kartusche wiegt die Mammut-Kombination 100 Gramm mehr. Der Air Free AP 30 ohne das System ist mit 1550 Gramm sicher nicht der leichteste Rucksack in dieser Volumen-Kategorie, der Mountain Free AP 40 wiegt dafür gerade mal 220 Gramm mehr. Es wurde bei beiden auch nicht auf robustes Material und alle notwendige Funktionalitäten verzichtet, wohingegen Letzterer in Bezug auf Fächer und sonstigem Schnickschnack auf das Wesentliche reduziert wurde.
Scott hat sich schon seit längerem der Entwicklung von schlichten und funktionalen Ausrüstungsgegenständen für alle Disziplinen des Skibergsteigens verschrieben. Der Air Free AP 30 wurde als Tagesrucksack zum Freeriden (deswegen ‚Free') bzw. für Eintagestouren entwickelt und erinnert stark an seinen Vorgänger, den Air 30 RAS – zumindest von außen. Innen steckt ja das neue Airbag-System von Alpride. Aber warum sollte man auch immer wieder die Welt neu erfinden, wenn sich doch so viel bewährt hat? Der größere Bruder Air Mountain AP 40 wurde ebenfalls auf Basis des ersten Scott'schen Lawinenrucksackes entwickelt, aber mit dem Fokus (wenig Gewicht) auf Mehrtagestouren und längere Aufenthalte im Gebirge (deswegen ‚Mountain').
Schlichte Funktion oder funktionelle Schlichtheit?
Beide Rucksäcke sind recht breit und niedrig geschnitten, ohne dass sie die Bewegungsfreiheit von Armen, Oberkörper und vor allem Kopf (mit Helm) einschränken. Sie können in halbleerem Zustand mit den vier Verschnürmöglichkeiten an den Seiten sehr gut verkleinert werden und bauen nach hinten nicht großartig auf (bei voller Beladung eines 40 L Rucksacks lässt sich das dann aber nicht mehr vermeiden). Im großen Hauptfach haben alle Utensilien Platz, die entweder für einen ausgedehnten Tagesausflug ins Backcountry (Air Free AP 30) oder für eine mehrtägige Skitour (Air Mountain AP 40) benötigt werden. Der Air Free AP 30 lässt sich an den Seiten und oben komplett öffnen und auf dem Rückenteil liegend kann der Deckel bequem nach unten umgeklappt werden; beim größeren Bruder lässt sich das Hauptfach nicht komplett öffnen, dafür gibt es an der Seite aber einen Reißverschlussöffnung. Dies erfordert ein wenig Geduld beim Suchen und etwas mehr Plan beim Packen. Für Kleinteile und z. B. Karten gibt es bei der Freeride-Version ein Netzfach – mit Reißverschluss über die komplette Breite – an der Innenseite des Deckels eingenäht. Bei der Mountain-Version befindet sich dies an der Innenseite des Sicherheitsfaches.
So lässt sich das Hauptfach bei beiden Rucksäcken perfekt zum Verstauen nutzen. Kleiner Nachteil: In den Hauptfächern befindet sich auch das Airbag-System und die beiden Kartuschen (ohne Abtrennung) sind mittig und senkrecht angebracht, sodass quasi drumherum gepackt werden muss. Das Fach für die LVS-Ausrüstung ist auf der Außenseite des Hauptfaches untergebracht und bietet beim Air Free AP 30 genug Platz für ein mittelgroßes Schaufelblatt (plus Griff), eine Sonde und ein Erste-Hilfe-Set. Einzig die Öffnung ist ein wenig eng bemessen, aber beim Packen der Sicherheitsausstattung hat man ja meist noch Zeit und beim hektischen Rauszerren stört dieser Fakt nicht. Beim Air Mountain AP 40 ist das Sicherheitsfach nochmals größer bemessen und es passt auch noch zusätzliches Material (z. B. Brotzeit, Felle) mit rein. Oben auf dem Deckel vom Air Free AP 30 ist ein kleines Goggle-Fach angebracht, welches zur sicheren Verstauung der Google mit Stoff ausgeräumt ist, wegen seiner kleinen Größe und der Öffnung aber eher für Sonnenbrillen geeignet ist als für Skibrillen. Beim großen Bruder ist im Deckel ein sehr großes Deckelfach ohne Polsterung zu finden.
Am Hüftgurt befindet sich auf der linken Seite ein kleines Fach (z. B. für eine kleine Digicam) und eine Materialschlaufe auf der rechten Seite. Diejenigen, die auf einen Trinkschlauch schwören, müssen enttäuscht werden, da es keine Verbindung durch den Schulterriemen dafür gibt – allerdings empfiehlt es sich (bzw. empfehle ich) im Winter aufgrund der Einfriergefahr auf einen Trinkschlauch zu verzichten.
Der Brust- und Hüftgurt ist jeweils mit einer robusten Schnalle aus Aluminium versehen, die einhändig geöffnet werden kann. Gerade bei vollem Rucksack und Freeriden im Gebiet (Rucksack ab im Sessellift) ein nicht unwesentlicher Vorteil. Auch alle anderen Verschnürmöglichkeiten und das eigentliche Rucksackmaterial machen einen sehr robusten Eindruck. Dabei fällt vor allem die verstaubare, gummiummantelte Metallschlaufe für die diagonale Befestigung der Skier auf. Die Oberfläche des Rucksackmaterials wurde just an den Stellen, an denen die Skikanten zu liegen kommen, auch nochmals verstärkt. Sehr durchdacht und genau diese Stellen sind bei anderen Rucksäcken und intensivem Gebrauch die neuralgischen Punkte. Obligatorisch ist bei Freeride-Rucksäcken heutzutage die Befestigungsmöglichkeit des Eispickels, welche natürlich auch hier bei beiden Rucksäcken nicht fehlt.
Tragekomfort oder Komforttrage?
Durch das kurze Rückenteil mit den Rückpolstern und den gepolsterten Schulterriemen trägt sich der Air Free AP 30 ausgesprochen angenehm. Das ergonomisch geformten Rückenteil und die Polster schützen auch bei Stürzen – ebenso ausgiebig getestet. Beim Aufsteigen und leichten Kletterpassagen stört der Rucksack kaum. Das Gewicht wird super verteilt und die Bewegungsfreiheit ist auch bei voller Beladung gewährleistet. Ebenfalls das Klettern mit angebrachten Skiern (diagonal) bewältigt der Rucksack ohne Probleme bzw. führt bei längeren Passagen nicht zu unangenehmen Nackenschmerzen. Bei warmen Frühjahrsskitouren wurde der Rucksack mit gleich bleibend hohem Tragekomfort direkt auf der Funktionswäsche getragen. Damit all unsere Komfortgüter richtig getragen werden können, ist es wichtig beim Bepacken des großen Hauptfaches mitzudenken! Das hilft zum einen enorm, um später auch immer das richtige Teil zum richtigen Zeitpunkt zu finden. Zum anderen kommt man dadurch auch mit 30 L ganz schön weit. Wie schon angedeutet, konkurriert das Stauvolumen (auch) in diesem Lawinenrucksack mit dem Airbag-System, aber bei geschicktem Platzieren der Ausrüstung stellt dies kein Problem dar. Gefühlt entspricht das Stauvolumen wahren 30 L, da Zweitagestouren mit Wechselklamotten, Brotzeit, Hüttenschlafsack, Getränk und kleiner Digitalkamera gut Platz gefunden haben. Von viel Komfort kann dann aber nicht mehr die Rede sein.
Fazit
Alles in allem überzeugt der Scott Air Free AP 30 durch angenehmes Tragen und sehr hohe Funktionalität bei schlichtem Auftreten. Die einzigen Abzüge in der B-Note werden durch das recht kleine Goggle-Fach verursacht und weil das große Hauptfach sehr strategisch gepackt werden muss. Der fehlende Platz für die Trinkblase könnte dem einen oder anderen Freerider auch negativ aufstoßen.
Die Robustheit des Air Free AP 30 besticht bei gleichzeitig sehr guten Gewichtswerten; gerade die Stahlschlaufe zur Befestigung der Skier setzt hier Maßstäbe und andere Hersteller könnten sich daran ein Beispiel nehmen. Mit diesem System und dem Air Free AP 30 Rucksack kommt der Markt der Lawinenrucksäcke auf jeden Fall in Bewegung und man kann davon ausgehen, dass in Zukunft noch mehr Gewicht gespart werden kann – und der Geldbeutel sparsamer geöffnet werden muss … Obendrein ist der Air Free AP 30 mit dem Alpride-System auch für Flugreisen geeignet und kombiniert mit dem Scott Air Mountain AP 40 ist jeder Winterberggänger perfekt ausgestattet.
Anmerkung des Autors: Trotz der Sinnhaftigkeit der Zusatzausstattung Lawinenairbag ist es mir wichtig darauf hinzuweisen, dass zuerst die Grundausstattung der Lawinensicherheit (LVS, Schaufel, Sonde) beherrscht werden sollte, bevor man über den Kauf eines Lawinenrucksackes nachdenkt. Außerdem sollte jedem Benutzer bewusst sein, dass durch den vermeintlich erweiterten Sicherheitsspielraum eines Lawinenrucksackes die Entscheidung über das Lawinenrisiko eines Einzelhanges beeinflusst werden könnte.
Details
UVP € 659.- (Air MNT Alpride 40 Kit) € 639.- (Air Free Alpride 30 Kit)
Einfach verstaubarer Griff
Einfach zu bedienen
Eines der leichtesten Airbagsysteme am Markt
Helmtragesystem
Sicherheitsfach
Gogglefach
Hier geht es zur Website von Scott mit allgemeinen Informationen zum Alpride System, hier zum Air MNT Alpride 40 und hier zum Air Free Alpride 30.