Schlenderte man Anfang Oktober durch die Dogana-Halle im Innsbrucker Congresszentrum, wurden die Maturaball-Assoziationen, die man mit diesem Gebäude als junger Bewohner Innsbrucks verbindet, schnell vom Weißen Gold verdrängt. Fast 300 meist englische Poster waren dort für eine Woche ausgestellt. Themen: Neue Erkenntnisse zum Altschneeproblem, Auswertungen der Geländepräferenzen von Skitourengehern abhängig von der Gefahrenstufe, Untersuchungen über die Verletzungsmuster von Lawinenhunden, neue Methoden zur Lawinengefahrenbeurteilung und vieles, vieles mehr. Die Poster waren allerdings nur ein kleiner Teil des Internationalen Schnee-Lawinen Kongresses. Aber alles der Reihe nach.
ISSW2018 Innsbruck | Wohin führt die Entwicklung in der Schnee-Lawinenkunde?
You have to know your shit
Was ist der, die oder das ISSW eigentlich?
Eine Konferenz für alle, die sich weltweit mit Schnee beschäftigen, egal ob Forscher oder Praktiker. Die ISSW hat sich zum Ziel gesetzt, Menschen aus beiden Bereichen zusammenzubringen und Praxis mit Theorie zu verknüpfen. Für den gemeinen Wintersportler genauso wie für Bergretter, Bergführer, Lawinenkommissionsmitglieder, Ratrac-Fahrer und Wissenschaftler. Sie findet seit 1976 im zweijährigen Turnus statt, abwechselnd in Kanada, den USA und in Europa. Sie wird also in sechs Jahren wieder irgendwo in Europa stattfinden. Im vergangenen Oktober gastierte sie erstmals in Österreich.
Eine Woche lang wurden alle Erkenntnisse und Neuheiten des thematischen Rahmens vorgestellt und diskutiert. Egal ob Schutzmaßnahmen wie Sprengen oder Verbauen, der Einfluss der Klimaerwärmung, Schneemanagement in Skigebieten, Lawinenkommissionsarbeit, Schneedeckenstabilität, Lawinenwarnung, Lawinenunfälle, rechtliche Aspekte derer, menschliche Faktoren, Entscheidungsfindung im Gelände, die Lawinenausbildung oder Schnee als Lebensraum für Mikroorganismen – alle Aspekte von Schnee wurden in über 100 Vorträgen und ca. 300 Postern behandelt.
Im Folgenden überblicken wir grundlegend wohin die Reise beim Thema Schnee und Lawinen derzeit führt und welche Neuerungen sich in den letzten Jahren ergeben haben.
Computermodelle
Ein beträchtlicher Teil der Forscher beschäftigt sich inzwischen mit der Nachahmung der Realität mittels Computern. Egal ob Lawinenabgänge oder die Prozesse in der Schneedecke: Langsam kann alles mehr oder weniger gut modelliert und von Prozessoren berechnet werden. Durch die technische Entwicklung steht dafür mittlerweile die notwendige Rechenleistung bereit. Inzwischen werden auch sogenannten Modellketten immer wichtiger: Ein Wettermodell berechnet die Wettersituation, ein Schneedeckenmodell berechnet daraus die Schichtung der Schneedecke, ein Lawinensimulationsmodell rechnet damit die Wahrscheinlichkeit von Lawinenabgängen und ein Lawinendynamikmodell berechnet mit Hilfe von Geländemodellen die Größe der Lawine, die Auslauflänge und den Druck, mit der sie auf die ersten Häuser treffen könnte. Klingt noch nach Zukunftsmusik, aber wird immer wichtiger und die Modelle werden vor allem immer genauer und funktionieren realistischer.
Skigebietsmanagement
Natürlich wird technischer Schnee immer wichtiger, aber auch Snowfarming – also das Konservieren von Schnee mit Häufen und Planen - spielt eine wachsende Rolle und ist anscheinend auch meist wirtschaftlicher und energieeffizienter als technischen Schnee zu erzeugen.
Fernerkundung
Die Untersuchung der Schneedecke aus der Ferne mit Satelliten, Drohnen, Radar, Laser und Schall ist stark im Kommen, ebenfalls angetrieben durch die technische Weiterentwicklung. Interessant: Aus Vergleichen von Satellitenfotos geht eindeutig hervor, dass die Schneegrenze seit den 1980ern zum gleichen Zeitpunkt im Frühjahr in den Alpen immer weiter nach oben wandert.
Klimaerwärmung
Dass es in den letzten dreißig Jahren wärmer geworden ist, streitet niemand mehr ab. Dass es noch wärmer werden wird und wir das nicht mehr verhindern können, scheint sehr wahrscheinlich zu sein. Während der ISSW wurden deswegen hauptsächlich Situationsanalysen vorgestellt und Anpassungsstrategien diskutiert. Kurz knapp: So wie es derzeit herschaut, wird es in den Alpen unterhalb von 1.500m mittelfristig kaum mehr (natürlichen) Schnee geben, eine anständig befahrbare Schneedecke könnte sich im Großteil der Winter erst oberhalb von 2.000m ausbilden. Es gibt im Schnitt in allen Höhenlagen weniger Schnee – weil es öfter regnet. Ob es insgesamt mehr oder weniger Niederschlag geben wird, ist unklar. Ein paar tausend Jahre später kommt mit der größten Wahrscheinlichkeit die nächste Eiszeit und dann plagen uns diese Probleme nicht mehr, aber wer will schon so lang warten?
Kommunikation der Lawinengefahr
Karten werden immer wichtiger! Das heißt, man vergibt nicht nur eine Gefahrenstufe und stellt den Rest mit Symbolen und mit Text dar. In naher Zukunft ist zu erwarten, dass mit Daten aus der Lawinenprognose und der Reduktionsmethode nach Munter in Kombination mit einem Geländemodell Risikokarten mit Farbabstufungen erstellt werden. Hänge mit einem theoretisch größeren Risiko werden rot und solche mit kleinerem grün bzw. nicht eingefärbt – und das nicht mehr nur nach der Hangsteilheit sondern nach einer Vielzahl an Parametern, wie etwa der Ausprägung des Lawinenproblems und seiner räumlichen Verortung. Zusammen mit einem GPS-Track der Tour kann man so sogar Risikobewertungen für einzelne Touren automatisch erzeugen. In der Schweiz läuft ein derartiges Projekt bereits seit einigen Jahren. Egal ob man es für gut oder schlecht hält: es wird die Art Touren zu planen vor allem für Anfänger und Gelegenheitsskitourengeher gehörig verändern und trotzdem unser eigenes Hirnschmalz nicht so schnell vollständig ersetzen können.
Lawinenwarnung
Generell beobachtet man weltweit den Trend zur Vereinheitlichung und Anpassung der verschiedenen Produkte. Der Tiroler Lawinenwarndienst stellte in diesem Zusammenhang auf der ISSW ein weltweit derzeit einmaliges Projekt vor: Die gemeinsame, grenzüberschreitende und mehrsprachige Lawinenvorhersage für Tirol, Südtirol und Trentino – ein Prototyp ist jetzt schon unter lawinen.report erreichbar. Aber auch den Grundlagen dahinter wird nachgegangen. Die Schweizer Kollegen vom Davoser Institut für Schnee- und Lawinenforschung haben beispielsweise die Häufigkeit der ausgegebenen Gefahrenstufen 4 & 5 im Alpenraum verglichen und dabei eklatante Unterschiede zwischen verschiedenen Warndiensten herausgefunden. Obwohl die Stufen einer mehr oder weniger genauen, gemeinsamen Definition folgen, gibt es große Unterschiede, wie sie die Lawinenprognostiker schlussendlich vergeben. Langsam wird es übrigens auch zum Standard, den Lawinenbericht am Vorabend als Prognose zu veröffentlichen und nicht mehr morgens. Toll für die Tourenplanung!
Außerdem haben die Schweizer ihre riesige Datenbank von beobachteten Lawinen ausgewertet und sind klar zum Ergebnis gekommen: Es gibt verhältnismäßig gleich viele große Lawinen bei Gefahrenstufe 1 wie bei Gefahrenstufe 4. Was man lange vermutet hat, also dass es mit steigender Lawinengefahr auch verhältnismäßig mehr große Lawinen gibt, ist falsch. Diese trügerische Annahme entstand dadurch, dass es bei bspw. 10 Lawinen über ganz Tirol bei einer Gefahrenstufe 1 aufgrund der absoluten Menge schwerer ist, auch eine der relativ selteneren, großen Lawinen dabei zu haben. Bei 10.000 Lawinen in ganz Tirol bei einem 4er ist dies eher möglich.
Entscheidungsfindung & Lawinenausbildung
Message aus einem Vortrag von Pascal Haegeli – Leiter einer Schnee-Forschungsgruppe in Vancouver/Canada: „Leute, passt auf wenn ihr einen Airbag habt. Er stellt eine tolle Möglichkeit dar, im Falle eines Lawinenabgangs die Überlebenswahrscheinlichkeit zu erhöhen, aber seid deswegen nicht risikoreicher unterwegs!“
Generell beobachtet man den Trend, dass die auf Munter basierenden Methoden wie Stop or Go des ÖAV oder die Snowcard des DAV nur mehr Neulingen gelehrt werden. Denn der thematische Umfang der Lawinenkunde ist viel zu groß, um alles in wenigen Tagen erlernen zu können. Mittlerweile geht man wieder dazu über, Fortgeschrittenen eine umfassende Lawinenausbildung zuzumuten und ihnen möglichst viel beizubringen, damit sie später alle Möglichkeiten der Entscheidungsfindung sachlich, besonnen und teilweise auch intuitiv einsetzen können. Die Weiterentwicklung der Schneedeckentests (ECT und PST) in den letzten zehn Jahren hat dazu maßgeblich beigetragen.
Ein Zitat von Bruce Tremper – pensionierter Lawinenwarner aus Utah und Koryphäe in der Szene – zur Lehre in der Lawinenausbildung: „1. Kenn dich aus, bevor du unterwegs bist. Wenn du dich nicht auskennst, dann lerne. Wenn du dich auskennst, dann hol dir gute Informationen. 2. Geh nicht hin, wo es gefährlich ist.“
Das Highlight am Ende des Vortrags von Markus Landrø, der als Lawinenprognostiker in Norwegen die bevorzugte Entscheidungsfindung der Skitourengeher ausgewertet hat: „You have to know your shit.“ – „Man muss seinen Blödsinn einfach können.“… nebenbei hat er rausgefunden: fixe Regeln werden von einer Minderheit für die Entscheidungsfindung genutzt, der Großteil stützt sich auf die analytische Herangehensweise und Intuition.
Lawinenunfallmanagement
Wie man am besten sondiert, wie man Lawinenunfälle am besten abarbeitet oder wie groß bzw. wie geformt ein Schaufelblatt am besten sein sollte, ist ebenfalls im Interesse der Weiterentwicklung. Interessant: Vergrößert man die Fläche herkömmlicher Lawinenschaufeln, ändert sich nicht mehr viel an der Dauer des Ausgrabens. Und sehr wichtig: Mit der Haue-Funktion, die viele Schaufeln bereitstellen, ist man langsamer, als wenn man normal gräbt!
Last but not least: Wer nicht regelmäßig (also mindestens 2x pro Winter) mit der Lawinenausrüstung in einem realitätsnahen Szenario (!) übt, der hat sehr schlechte Chancen bei der Kameradenrettung einen Lebendfund zu machen. Eine Viertelstunde ist einfach sehr kurz und in Verbindung mit der stressbedingten Bewusstseinsveränderung in einer solchen Extremsituation noch viel kürzer.
Und irgendwie doch wie ein Maturaball
Rückblickend war die ISSW2018 doch eine große Party. Die gesamte Schnee-Lawinen Gemeinschaft hat sich getroffen, man konnte sich in freundschaftlicher Atmosphäre austauschen. Weil in diesem Metier alle einen ähnlichen „Vogel“ haben – egal ob ein Kanadier, ein Neuseeländer oder wir – stand der gesellige Teil im Vordergrund und man konnte mit Bergführern, Heliski-Guides oder Lawinenprognostikern aus der ganzen Welt Kontakte knüpfen – der wohl wichtigste Aspekt der Konferenz.
Genauere Informationen zu einzelnen Beiträgen und Highlights folgen.
Die schriftlichen Beiträge aller ISSWs kann man vollständig unter folgendem Link durchstöbern (großteils auf Englisch): http://arc.lib.montana.edu/snow-science/
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