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Abenteuer & Reisen

Anno dazumal Teil 6 | Schneeschuhfahrten in den Oetztaler Alpen - Teil 2

Wildspitze und Weißseespitze im Jahr 1916

von Bettina Larl 13.02.2017
Wildspitze und Weißseespitze können heute als kurze Tagestouren aus den naheliegenden Gletscherskigebieten erklommen werden. Im Jahr 2017 können diese Gipfel durch einen Anstieg von deutlich weniger als 1000 Höhenmeter erreicht werden, wie ihr hier in den PowderGuide Freeridetouren Weißseespitze und Wildspitze nachlesen könnt. Vor 100 Jahren waren der höchste Gipfel Tirols und sein westlicher Nachbar noch ausgedehnte "Schneeschuhwanderungen" von denen Franz Tursky im 6. Teil der Anno dazumal Reihe berichtet.

Schneeschuhfahrten in den Ötztaler Alpen

von Dr. Franz Tursky


Weißseespitze, 3534 m, Hochvernaglwand, 3433 m
Kaum hatten wir unsere Schneeschuhe an den Füßen, ging's auch schon dahin, die geringe Höhe zum Kesselwandjoch abfahrend; dort sammelten wir uns wieder alle, um sodann über das oberste Firnbecken des Gepatschferners zum Gipfel der Weißseespitze anzusteigen. Langsam, einer hinter dem andern, fuhren wir auf, und wenn wir auch vielfach in diesem wallenden Nebelmeer oft kaum unseren Vordermann sehen konnten, schweifte doch gleich nachher wieder unser Blick in unbegrenzte Fernen. Wie jubelte es da in uns allen, die wir bisher stets im Nebel umhergeirrt waren, ohne auch nur die benachbarten Gipfel erschauen zu können!
Tüchtig ausgeruht, wie wir waren, nur mit geringem Gepäck auf dem Rücken, drangen wir rasch vor. Sorgfältig nützten wir jede Falte des Gletscherbodens aus, um möglichst mühelos an Höhe zu gewinnen und uns zugleich eine schöne Abfahrtslinie festzulegen. Jetzt schon, beim Aufstieg, freuten wir uns auf den ungehemmten Schuß, der uns in wenigen Minuten vom Gipfel wieder zum Kesselwandjoch bringen mußte.

Wieder hüllte uns fadenscheiniges Nebelgewölk ein, das uns brauend umgaukelte und, von eisigem Nordwind gepeitscht, den Gipfel der Weißseespitze neidvoll unseren Blicken entzog. Und als wir bald nachher auf ihrem Scheitel standen, machten wir eine kurze, recht ungemütliche Rast, in der Hoffnung, daß es uns doch gelingen möchte, einen Augenblick zu erhaschen, der uns einen Fernblick von unserem Standpunkt gönnen würde. Doch wir warteten vergeblich. Allzulange hatten wir ja auch nicht Zeit, da wir uns doch mit diesem einen Gipfel nicht zufrieden geben wollten. So entschlossen wir uns denn bald zur Abfahrt. Eine kleine Strecke mußten wir noch im Nebel dahingleiten, dann hatten wir schon wieder die sonnbestrahlten Firnflächen vor uns, über die sich unsere Aufstiegsspur heraufzog. Nur wenige Minuten dauerte die Fahrt bis auf den ebenen Gletscherboden unweit des Kesselwandjochs und doch wird sie mir immer unvergeßlich bleiben, solange noch ein Tropfen Blut in meinen Adern rollt. Das war ein körperloses Gleiten in blaue Fernen, ein lustiges Dahinschießen mit dem Wind um die Wette. Vögeln gleich wähnten wir uns, die mit ausgebreiteten Schwingen durch die Lüfte kreisen, und wie von unsichtbaren Gewalten getragen jagten wir dahin. Unsere Schneeschuhspitzen durchschnitten zischend den Schnee, bis wir immer mehr und mehr an Geschwindigkeit einbüßten und zuletzt von selbst stillestanden.
Wir hatten den ebenen Firn unweit des Kesselwandjochs erreicht, von dem aus wir jetzt auf die Hochvernaglwand anstiegen. Herrlich war der Rückblick von dieser Auffahrt auf die eben besuchte Weißseespitze! Eben jetzt, während wir ihr den Rücken gekehrt hatten, waren die neidischen Nebel von ihr gewichen, jetzt strahlte sie in sonndurchflutetem Licht zu uns herüber, wie uns fremden Eindringlingen zum Trotz. Aber wir freuten uns dennoch der Sonnenklarheit und konnten uns kaum sattsehen an all den seltenen Bildern, die sich uns damals beim Aufstieg auf die Hochvernaglwand boten. Wir wendeten darum auch viel Zeit für das Photographieren auf, um wenigstens soviel als möglich von dieser Hochweltstimmung im Bilde festhalten zu können.

Bis auf den Gipfel konnten wir auch hier wieder mit unseren Brettern vordringen, wenn auch der letzte Teil recht hart und abgeweht war. Der Rundblick, der sich uns bot, war erhebend schön und ließ uns schon damals eine ganze Reihe von Genüssen ahnen, die wir wenige Tage nachher durchleben durften. Doch wir hielten uns trotzdem nicht allzulange auf, da ein eisig kalter Wind — die Gewähr für andauernd gutes Wetter — die Gipfelrast recht unleidlich machte. Wir fegten den Gletscher, den wir langsam gekommen waren, jetzt unheimlich schnell hinab. Gelegentlich dieser Fahrt statteten wir der Zinne, die kaum mehr ist als ein aus dem ewigen Eis emporragender Felskopf, noch einen kleinen Besuch ab, und jagten dann in schwirrender Gleitfahrt zum Kesselwandjoch hinab, das wir kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichten. Dann ging's zurück ins Brandenburger Haus, wo wir abermals nächtigten.

Wildspitze, 3774 m
Als wir tagsdarauf — es war Ostersonntag — die Hütte verließen und die Schneeschuhe vor der Tür unseres Bergheims anlegten, war es noch sternenhelle und klare Nacht. Das mußte heute wieder ein Wetter geben, wie wir es besser für unser Unternehmen nicht wünschen konnten! Just der richtige Tag für die lange Überfahrt von hier nach Sölden! Lustig und guter Dinge traten wir den Weg an und gingen über den nachtharten Vernagtferner empor, dem jungen Tag entgegen, der aus weiter Ferne bereits heraufdämmerte. Höher und höher fuhren wir hinauf, während es mehr und mehr graute. Wundersames Licht spannte sich allmählich gleich einem Gewölbe über uns aus, die Gletscher und Gipfel erglühten leuchtend, flammend wie aus ihrem Innern heraus, die geheimnisvolle Welt dieses Eises war von deck Rosen der Morgenröte bestreut. Aber bald nachher schon war das farbenreiche Schauspiel der Wiedergeburt des Tages zu Ende, der volle Glanz eines wolkenlosen Sonnentages bestrahlte die schneeige Hochwelt ringsum. Uns trennte nur mehr ein harter Steilhang vom Brochkogeljoch, dem wir uns in zahlreichen Spitzkehren langsam aber stetig näherten. Doch nur mühsam konnten wir den hier beinhart gefrorenen Hang meistern; wir mußten, unsere Schneeschuhe stets kantend, in Serpentinen emporsteigen, um nicht zurück oder seitwärts abzugleiten. Doch auch dieses Stück des Anstieges ward überwunden und wir fuhren nach Erreichen des Brochkogeljoches über den sanftgeneigten Firn des Taschachferners auf die Wildspitze zu, deren Gipfel schon greifbar nahegerückt war. Wir übersetzten einige klaffende Spalten, die unsere Anstiegslinie querten, und drangen dann vorsichtig, durch das Seil miteinander verbunden, immer weiter empor, bis wir in einer Höhe von ungefähr 3600 m auf den Grat nach rechts hinaussteuerten, wo wir unsere Bretter wie auch den größten Teil unseres Gepäcks zurückließen. Auf hartem, teilweise eisigem Firn bahnten wir uns mit unseren Pickeln den Weg - um Südgipfel, den wir bald nach Verlassen unserer Schneeschuhe erreichten. Dann folgten wir dem Grat, der von hier zum Nordgipfel kettet und, von mächtigen Wächten geziert, wie ein flimmernder, blinkender Silbersteg - um Hauptgipfel hinzog. Zu seiner linksseitigen Flanke, knapp unter dem Wächtenansatz, drangen wir Schritt für Schritt vor, Stufe um Stufe wurde in das blanke Eis geschlagen. Diese Art des Vordringens zum Gipfel war ungemein anregend, und da die Entfernung zum Hauptgipfel nicht allzu groß ist, bot dieses letzte Stück unseres Anstieges auch eine angenehme Abwechslung. Derartige Pikanterien dürfen einem Gipfel nicht fehlen, der nahe an 4000 m reicht. Nachdem wir knapp vorher noch einen mäßiger geneigten Firnhang gequert hatten, betraten wir über eine kurze, aber überaus steile Firnwand den höchsten Punkt unseres Berges, den Nordgipfel der Wildspitze.

Von den Bergketten der Tauern reichte hier unser Blick bis zu den Eisriesen der Schweiz, im Norden wie im Süden ahnten wir heute hinter den endlosen Bergketten die weitgedehnten Ebenen. Dem irdischen Getriebe völlig entrückt standen wir da, nicht mehr Erdenluft atmend, sondern Himmelsäther schlürfend. Alles um uns war von goldigem Sonnenlicht umflutet und Berg an Berg dehnte sich gleich einem erstarrten, wogenden Meer in die fernsten Fernen, wo sich Himmel und Erde miteinander zu vermählen schienen. Entzückt fliegen unsere Blicke in die Runde, die Gunst des Wetters wird gepriesen, die schier unbegrenzte Gipfelschau bewundert und jeder freut sich ob dieser sonnigen, wonnesamen Rast. Lustig schwatzt alles durcheinander, niemand denkt ans Scheiden, weil jeder gar mächtig das magische Wirken der Allgewalt fühlt, das ihn hier an die Bergkönigin bannt und mit Zaubermacht festhält.

Schönheitstrunken standen wir auf dem Gipfel, dessen Besuch den Abschluß unserer Ötztaler Fahrt bilden sollte, und rüsteten nicht ohne Wehmut doch endlich nach fast einstündiger Rast zum Abschied. Mochte uns auch noch so viel zu Tal rufen, mochte uns auch noch manche schöne Stunde dort unten beschieden fein, wir wußten es doch alle genau: Ein glühenderes Leben, ein seligeres Genießen als hier konnten wir dort unten nicht erhoffen. Denn „dann erst genieß' ich meines Lebens recht, wenn ich mir's jeden Tag aufs neu erbeute".-----
Kaum eine halbe Stunde nach Verlaßen des Gipfels hatten wir unsere zurückgelassenen Schneeschuhe wieder erreicht. Auf ihnen ging's dann den Taschachferner hinab in rasender Fahrt, bis wir vor einem ausgedehnten Gletscherbruch haltmachten, den wir durchschreiten nutzten. Wir feilten uns in drei Partien an und fuhren langsam und vorsichtig den steilen Firn hinab, rechts und links von gewaltigen Klüften eingeengt. Kaum dem Spaltengewirr entronnen, versorgten wir wieder unsere Seile und jagten auf dem nunmehr sanftgeneigten, spaltenlosen Firn in sorgloser Fahrt hinab, daß der Schnee unter den Gleitschienen nur so aufsprühte. Doch bald büßte die eilende Fahrt immer mehr und mehr an Schnelligkeit ein; wir hatten den ebenen Gletscherboden erreicht, der unter dem Mittelbergjoch hinzieht und dann in sanfter Neigung zu diesem hinaufleitet.. Glühend brannte die Mittagssonne auf uns nieder und ließ uns die Last unserer Rucksäcke wieder recht unangenehm fühlen. Doch der Gedanke, daß jenseits des Jochs die tolle Fahrt wieder von neuem beginnen mußte, das Bewußtsein, für diesen Anstieg neuerdings durch eine jauchzende Fahrt entlohnt zu werden, gaben uns Mut und Stärkung. Wir hatten denn auch nach kaum einstündiger Auffahrt das Joch erreicht — der Mittelbergferner lag vor uns. Wie ein weißer Talar zog er sich vor unseren Blicken hinab in weiten Falten, nirgends waren Spalten sichtbar. Wie nun diese weitgedehnte, mäßig geneigte Fläche unseren Brettern wieder Leben und Bewegung verlieh! In ungehemmtem Schutz glitten wir hinunter; jeder suchte sich selbst seinen Weg, wo er den besten Schnee, die flotteste Fahrt zu finden hoffte. Einer wollte den andern an Schnelligkeit übertreffen und so wirbelten wir alle in tollster Fahrt durcheinander. War es einem von uns gelungen, durch besondere „Schneid" allen andern vorzukommen, so schnellte gleich darauf schon wieder ein andrer sausend an ihm vorbei, der selbst wieder gar bald von einem dritten überholt wurde. So fegten wir in ausgelassener Fröhlichkeit den Ferner hinab und stände« erst stille, als wir keine Höhe mehr aufgeben durften, um nicht zur Braunschweiger Hütte wieder ansteigen zu müssen. Im Gänsemarsch geordnet fuhren wir auf diese los und erreichten sie um 2 Uhr nachmittags.

Hier gönnten wir uns eine längere Rast, kochten Tee, verzehrten fast allen Mundvorrat, den wir noch bei uns hatten, und machten soviel Aufnahmen als möglich. Dann gingen wir wieder weiter und stiegen zum Pitztalerjöchl auf, das wir nach einstündigem Marsche erreichten. Der Rettenbachferner lag vor uns, schon der vierte Gletscher, den wir am heutigen Tage betraten und über den wir nun in das gleichnamige Tal abfahren sollten, um, ihm folgend, nach Sölden zu gelangen. Wie freuten wir uns wieder dieser flotten Fahrt, bei der wir fast 2000 m Höhenunterschied in nicht viel mehr als einer Stunde überwanden. Am Nordrand des Ferners jagten wir hinab im rasenden Schuß, immer tiefer und tiefer dem Tale zu. Kein Stein, kein Baum störte den eilenden Flug, ich wähnte mich fast von höheren Gewalten getragen — so tritt bei solcher Abfahrt das Gefühl des Gleitens zurück. Schon ist das Ende des Ferners erreicht, eine Steilstufe kennzeichnet ringsum dessen Zunge, aber nichtsdestoweniger geht es doch immer weiter in rasender Eile talaus. Die Schneeschuhe knapp aneinander geschlossen, fuhr ich mit atemraubender Schnelligkeit hinab, ohne mich um meine Gefährten zu kümmern, da wir mit dem Verlassen der Gletscherregion auch bereits jegliche Gefahr hinter uns hatten. Vereinzelte Bäume, deren wir nun volle acht Tage lang keine mehr zu sehen bekommen, alle schwerbeladen von der glitzernden Schneelast, die der Winter monatelang ihnen aufgebürdet hatte, huschten schemenhaft an mir vorüber. An einigen Almhütten ging's vorbei, die unter dem schneeigen Winterkleid dem nahenden Frühling entgegen träumten, und bald nachher hatten wir bereits die Waldgrenze erreicht. Da war aber der Schnee schon bei weitem nicht mehr so tief und so gut, als wir ihn in den höheren Lagen angetroffen hatten, und oft ging es recht holperig hinab, dem Waldweg entlang, der längs des Baches hinzog. Von einer großen Wiese aus, über die er hinführte, erblickten wir bereits das Kirchlein von Sölden und wenig später schnallten wir bei den ersten Häusern des Ortes die Schneeschuhe ab und gingen zu Fuß in das Dorf hinein.

Alle Pläne, mit denen wir vor wenigen Tagen in diese Berge gezogen, waren geglückt, wir hatten die Durchquerung des Weißkammes in den Ötztaler Fernern durchgeführt, so wie wir sie beabsichtigt hatten.
Auf das entbehrungsreiche Leben in den Hütten folgte nun ein lustiger Abend in dem vortrefflichen Gasthof „Zum Alpenverein". Nach einem üppigen Nachtmahl mit frischem Bier, nach dem wir uns schon tagelang gesehnt hatten, als wir noch gekochtes Schmelzwasser in den Hütten, zu Tee bereitet, trinken hatten müssen, begaben wir uns zur Ruhe und streckten uns in den wohligen Betten voll Behagen zu langem Schlaf. Mit tiefer Zufriedenheit, mit neuem Lebensmut und stolzem Kraftgefühl kehrten wir alle gern wieder heim in das ewig gleiche Einerlei des Alltags. Aus dem freien Schwärmen durch unbegrenzte Fernen und auf sonnigen Höhen half uns der reiche Schah herrlicher Eindrücke und Erinnerungen in den engen Wirkungskreis unseres abenteuerfeindlichen Berufes hinüber.

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