Zwischenstufen: Häufiger Wunsch der Nutzer:innen
Wer viel auf Tour oder beim Freeriden unterwegs ist, weiß, dass sich ein "erheblich" an manchen Tagen ziemlich dunkelorange anfühlen kann, während es an anderen Tagen eher wie ein "mäßig" wirkt. Aus der skifahrenden Praxisperspektive scheint es daher naheliegend, die fünfstufige Gefahrenskala genauer zu differenzieren. Im Text des Schweizer Bulletins (und auch in den Lageberichten vieler Nachbarländer) werden Ausprägung und Höhe der Gefahr oft genauer beschrieben als nur mit der Stufe. Beispielsweise hat sich eine textliche Unterscheidung zwischen "Wintersport Vierer" und "Infrastruktur Vierer" in den letzten Jahren zunehmend eingebürgert.
Der Wunsch nach einer genaueren Unterteilung im Bulletin - und zwar nicht nur im Text, sondern auch in Zahlen - wurde immer wieder an das SLF herangetragen, so Kurt Winkler, SLF Lawinenwarner. Schon seit sechs Wintern schätzen die SLF Prognostiker:innen zusätzlich zu den üblichen Inhalten des Bulletins Zwischenstufen ein, diese waren bisher aber nicht öffentlich verfügbar. Nach der mehrjährigen internen Testphase, umfangreichen statistischen Auswertungen und zwei wissenschaftlichen Publikationen sind die Zwischenstufen nun bereit für den regulären Einsatz im Bulletin.
Von der Theorie zur Praxis
Eine Unterteilung der Gefahrenstufen klingt zunächst nicht sonderlich kompliziert, der Weg zur operationellen Version war aber lang und arbeitsreich. Klar war: Das SLF wollte dem Wunsch der Nutzer:innen nach einer genaueren Unterteilung nachkommen. Aber wie geht man sowas an?
Zuerst musste eine theoretische Basis gefunden werden, auf der die praktische Umsetzung aufgebaut werden konnte. Wenn Menschen etwas einteilen, können sie das nur in etwa fünf bis maximal sieben definierte Klassen. Mehr ist zu viel, wir sind dann nicht mehr in der Lage, sinnvoll zwischen den Klassen zu differenzieren. Es ist somit nicht zielführend, die fünfstufige Gefahrenskala um mehrere ganze Stufen zu erweitern. Abgesehen von diesen psychologischen Faktoren wäre eine Änderung der fünfstufigen Skala auch politisch weder realistisch noch wünschenswert, so Winkler (Kompatibilität mit Standards der anderen Schweizer Naturgefahren und der EAWS - europäische Vereinigung der Lawinenwarndienste).
Entscheidungstheoretisch stimmig und auch auf allen anderen Ebenen umsetzbar schien dagegen eine Unterteilung innnerhalb einzelner Gefahrenstufen. Menschen sind nämlich durchaus in der Lage, nach der Einteilung in definierte Klassen noch eine relative Rangfolge innerhalb einer Klasse festzulegen. Winkler, der an der Einführung der Zwischenstufen maßgeblich beteiligt war, erklärt das Konzept am Beispiel von Fast Food Restaurants: Fast Food ist die definierte Restaurantklasse und ist objektiv abgegrenzt von anderen Klassen wie beispielsweise Sternerestaurants. Innerhalb der Fastfood Klasse entscheide ich mich anhand einer subjektiven Rangfolge für ein Restaurant, weil ich beispielsweise lieber zu McDonalds als zu Burgerking gehe oder umgekehrt. Die subjektive Rangfolge existiert innerhalb der objektiven Klasse und verändert diese nicht.
Auch das von Daniel Kahneman bekannt gemachte Prinzip vom "schnellen und langsamen Denken" kommt bei den Zwischenstufen zum Tragen. Hier steht schnelles, heuristisches, instinktives Denken im Kontrast zu langsamen, logischeren, regelbasierten Überlegungen. Die fünf bekannten Lawinengefahrenstufen ergeben sich aus letzterem: Die Definitionen der Skala und die EAWS Matrix geben die Klasse vor und die Erstellung der Stufen folgt bekannten, objektiven Regeln. Innerhalb der definierten Klassen der Gefahrenstufen kann nun eine subjektive Rangfolge in Form von Zwischenstufen erstellt werden. Die Progonostiker:innen legen sie mehr oder weniger nach Gefühl fest, ohne sich an einem konkreten Regelwerk entlang zu hangeln. Zunächst wird die ganze Stufe bestimmt (z.B. 3, erheblich). Wenn diese eindeutig ist, gesellt sich die mittlere, neutrale Substufe zur ganzen Stufe (3=). Wenn die Prognostiker:innen aber finden, "heute ist ein scharfer Dreier", oder "der Vierer ist diesmal nicht ganz so heikel, das ist fast ein Dreier", dann bekommt Stufe 3 den Zusatz 3+, oder Stufe 4 wird durch ein 4- ergänzt.
Diese Zusatzinformationen (z.B.: kritischer Dreier) waren auch bisher schon im Text enthalten, es handelt sich also nicht um grundsätzlich neue Inhalte. Auch ist es nicht überraschend, dass Lawinenwarner:innen in der Lage sind, die Gefahr differenzierter zu beurteilen, als es die fünfstufige Skala erlaubt. Winkler betont, dass das Wissen, mit dem die Zwischenstufen intuitiv erstellt werden, sowieso vorhanden sein muss, um die textliche Zusammenfassung der Lawinensituation im Bulletin zu schreiben. Durch die Zwischenstufen werden die zugrunde liegenden Informationen nun aber kategorischer und einheitlicher dargestellt.