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Bergwissen

SLF: Ab 22/23 Zwischenstufen im Bulletin

Das SLF führt für die Gefahrenstufen 2, 3, 4 und 5 eine feinere Unterteilung ein

von Lea Hartl 28.11.2022
Was Geübte bisher mehr oder weniger zuverlässig aus dem Text des Bulletins herauslesen konnten, wird nun in Zahlen konkretisiert. Das SLF setzt ab dieser Saison für die Lawinengefahrenstufen mäßig, erheblich, groß und sehr groß jeweils drei Zwischenstufen ein. Bei Stufe 3 wird beispielsweise zusätzlich zur “ganzen” Stufe (3, erheblich) ein 3-, 3= oder 3+ angegeben. 3- ist dabei näher an 2, 3= ist “neutral” und 3+ ist näher an 4.

Zwischenstufen: Häufiger Wunsch der Nutzer:innen

Wer viel auf Tour oder beim Freeriden unterwegs ist, weiß, dass sich ein "erheblich" an manchen Tagen ziemlich dunkelorange anfühlen kann, während es an anderen Tagen eher wie ein "mäßig" wirkt. Aus der skifahrenden Praxisperspektive scheint es daher naheliegend, die fünfstufige Gefahrenskala genauer zu differenzieren. Im Text des Schweizer Bulletins (und auch in den Lageberichten vieler Nachbarländer) werden Ausprägung und Höhe der Gefahr oft genauer beschrieben als nur mit der Stufe. Beispielsweise hat sich eine textliche Unterscheidung zwischen "Wintersport Vierer" und "Infrastruktur Vierer" in den letzten Jahren zunehmend eingebürgert.

Der Wunsch nach einer genaueren Unterteilung im Bulletin - und zwar nicht nur im Text, sondern auch in Zahlen - wurde immer wieder an das SLF herangetragen, so Kurt Winkler, SLF Lawinenwarner. Schon seit sechs Wintern schätzen die SLF Prognostiker:innen zusätzlich zu den üblichen Inhalten des Bulletins Zwischenstufen ein, diese waren bisher aber nicht öffentlich verfügbar. Nach der mehrjährigen internen Testphase, umfangreichen statistischen Auswertungen und zwei wissenschaftlichen Publikationen sind die Zwischenstufen nun bereit für den regulären Einsatz im Bulletin.

Von der Theorie zur Praxis

Eine Unterteilung der Gefahrenstufen klingt zunächst nicht sonderlich kompliziert, der Weg zur operationellen Version war aber lang und arbeitsreich. Klar war: Das SLF wollte dem Wunsch der Nutzer:innen nach einer genaueren Unterteilung nachkommen. Aber wie geht man sowas an?

Zuerst musste eine theoretische Basis gefunden werden, auf der die praktische Umsetzung aufgebaut werden konnte. Wenn Menschen etwas einteilen, können sie das nur in etwa fünf bis maximal sieben definierte Klassen. Mehr ist zu viel, wir sind dann nicht mehr in der Lage, sinnvoll zwischen den Klassen zu differenzieren. Es ist somit nicht zielführend, die fünfstufige Gefahrenskala um mehrere ganze Stufen zu erweitern. Abgesehen von diesen psychologischen Faktoren wäre eine Änderung der fünfstufigen Skala auch politisch weder realistisch noch wünschenswert, so Winkler (Kompatibilität mit Standards der anderen Schweizer Naturgefahren und der EAWS - europäische Vereinigung der Lawinenwarndienste).

Entscheidungstheoretisch stimmig und auch auf allen anderen Ebenen umsetzbar schien dagegen eine Unterteilung innnerhalb einzelner Gefahrenstufen. Menschen sind nämlich durchaus in der Lage, nach der Einteilung in definierte Klassen noch eine relative Rangfolge innerhalb einer Klasse festzulegen. Winkler, der an der Einführung der Zwischenstufen maßgeblich beteiligt war, erklärt das Konzept am Beispiel von Fast Food Restaurants: Fast Food ist die definierte Restaurantklasse und ist objektiv abgegrenzt von anderen Klassen wie beispielsweise Sternerestaurants. Innerhalb der Fastfood Klasse entscheide ich mich anhand einer subjektiven Rangfolge für ein Restaurant, weil ich beispielsweise lieber zu McDonalds als zu Burgerking gehe oder umgekehrt. Die subjektive Rangfolge existiert innerhalb der objektiven Klasse und verändert diese nicht.

Auch das von Daniel Kahneman bekannt gemachte Prinzip vom "schnellen und langsamen Denken" kommt bei den Zwischenstufen zum Tragen. Hier steht schnelles, heuristisches, instinktives Denken im Kontrast zu langsamen, logischeren, regelbasierten Überlegungen. Die fünf bekannten Lawinengefahrenstufen ergeben sich aus letzterem: Die Definitionen der Skala und die EAWS Matrix geben die Klasse vor und die Erstellung der Stufen folgt bekannten, objektiven Regeln. Innerhalb der definierten Klassen der Gefahrenstufen kann nun eine subjektive Rangfolge in Form von Zwischenstufen erstellt werden. Die Progonostiker:innen legen sie mehr oder weniger nach Gefühl fest, ohne sich an einem konkreten Regelwerk entlang zu hangeln. Zunächst wird die ganze Stufe bestimmt (z.B. 3, erheblich). Wenn diese eindeutig ist, gesellt sich die mittlere, neutrale Substufe zur ganzen Stufe (3=). Wenn die Prognostiker:innen aber finden, "heute ist ein scharfer Dreier", oder "der Vierer ist diesmal nicht ganz so heikel, das ist fast ein Dreier", dann bekommt Stufe 3 den Zusatz 3+, oder Stufe 4 wird durch ein 4- ergänzt.

Diese Zusatzinformationen (z.B.: kritischer Dreier) waren auch bisher schon im Text enthalten, es handelt sich also nicht um grundsätzlich neue Inhalte. Auch ist es nicht überraschend, dass Lawinenwarner:innen in der Lage sind, die Gefahr differenzierter zu beurteilen, als es die fünfstufige Skala erlaubt. Winkler betont, dass das Wissen, mit dem die Zwischenstufen intuitiv erstellt werden, sowieso vorhanden sein muss, um die textliche Zusammenfassung der Lawinensituation im Bulletin zu schreiben. Durch die Zwischenstufen werden die zugrunde liegenden Informationen nun aber kategorischer und einheitlicher dargestellt.

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Funktionieren die Substufen wirklich?

Soweit also die Theorie: Innerhalb der definierten, ganzen Gefahrenstufen wird eine subjektive “oben, mitte, unten” Rangfolge erstellt. Aber funktioniert das dann auch? Und wenn ja, wie gut? Und was heißt eigentlich “funktionieren”?

Die in Europa einheitliche Lawinengefahrenstufenskala ist eine Erfolgsgeschichte internationaler Nischendiplomatie. Der Weg zu einem gemeinsamen System war mühsam und Abweichungen davon wollen wohl überlegt sein, selbst wenn es nicht um grundsätzlich andere Kategorien geht, sondern "nur" um eine Verfeinerung mit Zwischenstufen. Dementsprechend ist den Zwischenstufen im aktuellen Bulletin ein langer Verifikationsprozess vorausgegangen. Laut Kurt Winkler ist die Einführung der Zwischenstufen vermutlich die erste größere Neuerung im Bulletin, bei der vorher ausprobiert wurde, ob und wie gut die neue Methode funktioniert.

Die Qualitätsanalyse von Prognosen jeglicher Art läuft in aller Regel auf einen Vergleich der Prognose mit der Realität im Prognosezeitraum hinaus. Bei der Lawinengefahr ist das nicht so einfach, schließlich kann man nicht mit Messinstrumenten verifizieren, ob die Prognose gestimmt hat, wie etwa beim Wetterbericht. Das umfangreiche Beobachtersystem des SLF bietet aber eine Möglichkeit, die Prognose mit lokalen "Nowcasts" der Beobachter:innen abzugleichen (PG-Conditionsreporter Alex war letzte Saison mit einem SLF Beobachter auf Tour). Die Nowcasts sind Einschätzungen der Lawinengefahr zum Beobachtungszeitpunkt, es werden darin also aktuellere Informationen berücksichtigt als zum Prognosezeitpunkt.

In einer ersten Studie zeigt Winklers Teamkollege Frank Techel, dass die Unterschiede zwischen den Nowcasts der Beobachter:innen und den Prognosen kleiner werden, wenn die Prognose Zwischenstufen enthält. Die Nowcasts nutzen die bekannten 5 Gefahrenstufen und können mit den Stufen und Zwischenstufen des Bulletins verglichen werden. Stimmt die Gefahrenstufe im Nowcast mit jener der Prognose überein, kann man nicht beurteilen, ob die Zwischenstufen in der Prognose einen Erkenntnisgewinn bringen. Manchmal weicht der Nowcast aber von der Prognose ab und gibt zum Beispiel Stufe 2 aus, während die Prognose Stufe 3 vorhergesagt hat. Wenn die Zwischenstufe in der Prognose in diesem Fall 3- war, also ein nicht so kritisches "erheblich", verringert sich die Abweichung zwischen Prognose und Nowcast. Die Auswertung der intern ausgegebenen Zwischenstufen der letzten Winter zeigt eindeutig, dass Prognose und Nowcast näher zusammenliegen, wenn Zwischenstufen eingesetzt werden.

Eine weitere Studie untersucht den Zusammenhang zwischen den Zwischenstufen und objektiveren Parametern wie Schneedeckenstabilität und Lawinenabgängen. Auch in diesem Fall ist es gar nicht so einfach, die auf den ersten Blick logische Verbindung zwischen diesen Größen und der Gefahrenstufe bzw. den Zwischenstufen in Zahlen greifbar zu machen. Die Herausforderung fängt wieder mit der Datenlage an: Um die Schneedeckenstabilität und deren Verteilung zu quantifizieren, kommen Beobachtungsdaten (Wummgeräusche, Stabilitätstets wie Rutschblock oder ECT), Modellierungen sowie das aus Unfalldaten und GPS Tracks berechnete Risiko (siehe dazu auch: Studie zur Abhängigkeit des Risikos von Gefahrenstufe und Gelände) zum Einsatz. Zunächst wurde ermittelt, wie all diese Parameter mit den ganzen Gefahrenstufen korrelieren. Wie erwartet nehmen die "Gefahrenparameter" mit steigender Gefahrenstufe zu, allerdings sind manche Parameter nur für die Beurteilung eines gewissen Bereichs der Skala geeignet. Auch die Zwischenstufen steigen wie erhofft mit den Gefahrenparametern an. Das Fazit lautet also wieder: Bei der in der Schweiz vorhandenen Informationslage sind die Prognostiker:innen treffsicher in der Lage, innerhalb der 5-stufigen Skala genauer zu differenzieren.

Nutzen und Anwendung in der Praxis

Nach den theoretischen Grundlagen und umfassenden statistischen Auswertungen, die bestätigen, dass die Theorie funktioniert, stehen uns die Zwischenstufen nun im regulären Bulletin zur Verfügung. Der Wunsch der Nutzer:innen nach einer genaueren Unterteilung wird somit erfüllt, ohne dass eine Inkompatibilität zum fünfstufigen System entsteht. Zwischenstufen sind bei der EAWS "weder erlaubt noch verboten", so Kurt Winkler. Er sieht die Neuerung als optionale Ergänzung zu den bekannten Gefahrenstufen und vermutet, dass auch manche andere Warndienste in den nächsten Jahren Zwischenstufen einführen werden. Da die Zwischenstufen das bestehende System nicht an sich verändern, sondern eben optional und bei entsprechenden Voraussetzungen (Datengrundlage, Ressourcen der Warndienste, …) ergänzen, stehen sie auch nicht im Gegensatz zu Bemühungen um eine alpenweit einheitlichere Lawinenwarnung. Unter "einheitlich" versteht Kurt Winkler in diesem Zusammenhang, dass man "gleiches gleich macht", nicht aber, dass alles auf dem heutigen Stand bleiben muss und keine Innovationen mehr möglich sind.

Die Zwischenstufen benennen klar, was Wintersportler:innen bisher mehr oder weniger gut dem Text der Gefahrenbeschreibung entnehmen konnten. Die Zwischenstufen können einfach mit üblichen Entscheidungshilfetools wie der Reduktionsmethode oder der Snowcard angewendet werden. Bei der grafischen Reduktionsmethode und der Snowcard erlaubt die Farbskala ein Verschieben in Richtung - oder +, bei der professionellen Reduktionsmethode passt man das Gefahrenpotential entsprechend an. Mit der Stop or Go Methode des Österreichischen Alpenvereins ist die Anwendung nicht in der gleichen Form möglich, aber auch hier liefern die Zwischenstufen natürlich eine nützliche Information, die man beispielsweise zusätzlich zu den Stop or Go Checks berücksichtigen kann.

In Computermodellen werden die Zwischenstufen bereits eingesetzt. Im Skitourenguru wurden sie schon im Winter 2019 integriert, dort fließen sie in die automatische Berechnung des Risikos mit ein. Kurt Winkler betont außerdem das große Potential für die Anwendung der Zwischenstufen in numerischen Modellen, mit denen die Lawinengefahr berechnet wird. Hierzu gibt es laufende Forschung am SLF und erste spannende Veröffentlichungen (Lawinen und künstliche Intelligenz). Algorithmen, die auf maschinellem Lernen basieren, brauchen umfassende und qualitativ hochwertige Trainingsdatensätze, um das zu lernen, was sie lernen sollen. Durch die verfeinerte Gefahreneinschätzung mittels Zwischenstufen erhöht sich der Informationsgehalt der Trainingsdaten, die den Modellen zur Verfügung stehen. Das wiederum verbessert das Modellergebnis.

Fazit

Wie auch alle anderen Inhalte in den modernen Bulletins und Lawinenlageberichten wurden die Zwischenstufen entwickelt, um den Nutzen der Prognose für die Anwender:innen zu erhöhen. Anwender:innen sind dabei Menschen, aber eben auch Algorithmen wie Skitourenguru und "künstliche Intelligenzen" (Modelle), die den Lawinenwarner:innen bei der Einschätzung der Lawinengefahr helfen.

Das Beispiel der Substufen zeigt, wie komplex vermeintlich einfache Änderungen und Neuerungen in der Lawinenwarnung sein können. Kaum andere Warndienste sind bezüglich Informationsdichte aus dem Gelände und sonstigen Ressourcen so gut aufgestellt wie das SLF. Man darf also durchaus gespannt sein, in welchen Regionen das neue System in Zukunft noch aufgegriffen wird. Der fachliche Grundstein wäre jedenfalls gelegt.

Wir sind erstmal gespannt den ersten Winter mit Zwischenstufen im Schweizer Bulletin und freuen uns über Rückmeldungen aus der PG-Community dazu! Lasst uns wissen, ob und wie ihr die Zwischenstufen in der Tourenplanung berücksichtigt und wie es euch damit im Gelände geht!

Zum Weiterlesen:

Meldung zu den Zwischenstufen beim SLF

Refined dry-snow avalanche danger ratings in regional avalanche forecasts: Consistent? And better than random? Techel et al., 2020.

On the correlation between a sub-level qualifier refining the danger level with observations and models relating to the contributing factors of avalanche danger, Techel et al., 2022.

HEUTE (28.11.) Außerdem ein Livestream zum Thema:

 

 

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