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Interviews

PowderPeople | Frank Techel, Lawinenwarner am SLF

Wie gut ist das Bulletin?

von Christiane Eggert 02.02.2021
SLF Lawinenprognostiker Frank Techel hat in seiner kürzlich fertig gestellten Dissertation untersucht, wie gut die Lawinenbulletins die tatsächliche Gefahrensituation abbilden und ob sie über verschiedene Regionen und Zuständigkeitsbereiche einzelner Warndienste hinweg konsistent sind. Im Interview erläutert er näheres zu seiner Arbeit und zu seiner ungewöhnlichen beruflichen Laufbahn.

PG: Du bist bereits seit 2009 am WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF und seit dem Winter 2010 als Lawinenprognostiker in der Lawinenwarnung tätig. Nun hast du im Herbst 2020 deine Doktorarbeit mit dem Titel: "On consistency and quality in public avalanche forecasting - a data-driven approach to forecast verification and to refining definitions of avalanche danger" (pdf Download) abgeschlossen. Um was genau geht es beideiner Dissertation?

FT: Ich habe mich zum einen mit der Frage beschäftigt, wie gut die Qualität der Lawinenprognose, insbesondere die der ausgegebenen Gefahrenstufe ist. Ich bin also der Frage nachgegangen: war die Prognose richtig oder falsch? Die Antwort auf diese Frage ist sehr relevant – für die Lawinenwarner, um zu erkennen wo die Prognose langfristig verbessert werden muss, und natürlich auch als Anhaltspunkt für die Tourengeher und Freerider, welche die Prognosen verwenden. Aber leider ist die Beantwortung dieser Frage auch sehr schwierig, da eine Gefahrenstufe nichts Messbares ist. Das heisst, auch bei der Überprüfung einer Prognose wird eine Einstufung von einem Menschen gemacht, und es verbleiben Unsicherheiten. 

Ausserdem habe ich die Prognoseprodukte der Lawinenwarndienste im Alpenraum miteinander verglichen. Neben der ausgegebenen Gefahrenstufe hat mich auch interessiert, ob es Unterschiede und Gemeinsamkeiten beim Inhalt und der Darstellung der Prognose gibt. 

PG: was waren Deine Ergebnisse? Wie gut ist die ausgegebene Gefahrenstufe?

In der Schweiz habe ich die Rückmeldungen von geschulten Beobachtern nach einem Tag im Gelände ausgewertet und mit der ausgegebenen Gefahrenstufe verglichen. Unter Berücksichtigung der Streuung der Rückmeldungen am gleichen Tag in der gleichen Region, zeigte sich, dass an ungefähr sechs von sieben Tagen die Prognose als richtig, an einem als zu hoch, und fast nie als zu tief eingeschätzt wurde. Sehr ähnliche Ergebnisse konnte ich auch für Norwegen, Kanada und Colorado feststellen. 

PG: Und der Vergleich benachbarter Warndienste im Alpenraum. Hast du da Unterschiede festgestellt?

Ja, ich habe teilweise grosse Unterschiede festgestellt, insbesondere bei der ausgegebenen Gefahrenstufe. So wurde zum einen die Gefahrenstufe 4 (gross) in Frankreich und Teilen Italiens wesentlich häufiger verwendet als bspw. in der Schweiz oder Österreich. Zum anderen zeigte sich auch, dass am gleichen Tag die Gefahrenstufe über Warndienstgrenzen hinweg im Schnitt an einem Drittel der Tage um eine Stufe variierte. Dabei ist natürlich klar, dass Unterschiede zwischen benachbarten Regionen zu erwarten sind, wenn sich die Topografie und das Schneeklima unterscheiden. Liegt beispielsweise der Alpenhauptkamm zwischen zwei benachbarten Warnregionen, wie zwischen dem Wallis (CH) und dem Aostatal (IT), dann sind Unterschiede ja zu erwarten. Dagegen sollten Unterschiede in benachbarten Regionen, wie zum Beispiel zwischen Samnaun (CH) und Ischgl (AT) oder zwischen dem Tessin (CH) und den Nachbarregionen in der Lombardei und im Piemont, seltener sein. Allerdings wurden teils auch zwischen diesen Regionen recht häufig Unterschiede bei der ausgegebenen Gefahrenstufe beobachtet.

PG: Und woran kann das liegen?

Um dies herauszufinden, habe ich mir unter anderem angeschaut, für welches Gebiet eine Stufe gilt. Dabei ist etwas sehr Relevantes zum Vorschein gekommen: nämlich, dass die räumliche Auflösung der Lawinenbulletins recht unterschiedlich ist. So ist bspw. das Prognosegebiet in der Schweiz in über 100 kleine Regionen, sogenannte Warnregionen, mit einer Fläche von rund 200 Quadratkilometer unterteilt. Diese Regionen können je nach Situation beliebig vom Lawinenwarner zusammengefasst werden. In anderen Ländern, wie bspw. Frankreich sind diese Regionen 4-mal so gross, also rund 800 Quadratkilometer, oder in Norwegen gar 20-mal grösser als in der Schweiz. Und da ist natürlich klar, dass ein Lawinenwarner in Frankreich oder Norwegen weniger Flexibilität hat, um räumliche Unterschiede in der Lawinengefahr auf der Karte zu kommunizieren. Und wenn diese Unterschiede in einer Warnregion erwartet werden, dann stellt sich als Nächstes die Frage: Was kommuniziere ich als Lawinenwarner(in) - eher die ungünstigste Ecke oder einen Mittelwert? Und da gibt es vermutlich auch Warndienst-spezifische Unterschiede in der Handhabung.

PG: Aber sind dann in den grösseren Regionen, wie in den französischen Alpen, grundsätzlich eher höhere Gefahrenstufen festzustellen?

Ja, das konnte ich beobachten. Was man in den Daten gesehen hat ist, dass bspw. die Schweiz im Vergleich mit den Nachbarn, und hier besonders wenn verglichen mit den Bulletins im benachbarten Frankreich und teils auch Italiens, im Schnitt eher mal eine tiefere Gefahrenstufe ausgibt. Ob sich diese Unterschiede allein mit der unterschiedlichen Grösse der Warnregionen erklären lassen, ist unklar. 

PG: Hat sich die Gestaltung der Lawinenbulletins aufgrund deiner Ergebnisse verändert?

Ein erster, wichtiger Outcome meiner Arbeit war, dass ich den europäischen Warndiensten diese Unterschiede anhand von Fakten aufzeigen konnte. Die eigentlich recht logische Erkenntnis aus diesen Ergebnissen, nämlich, dass kleinere Warnregionen eine genauere Prognose erlauben, wurde dann teils auch bei der Überarbeitung von Prognoseprodukten aufgegriffen: So wurden bspw. in den seitdem eingeführten Warndienst-übergreifenden Lawinenlageberichten in Tirol-Südtirol-Trentino teils kleinere Warnregionen eingeführt. Ähnliches sieht man auch im Osten von Österreich, wo benachbarte Warndienste eng zusammenarbeiten. Auch hier wurden teils Warnregionen verkleinert. Zudem wird dem Tourengeher der Lagebericht in genau gleichem Look präsentiert, egal ob er diesen bspw. für Salzburg oder die Steiermark anschaut. Ich denke, dies sind ganz grossartige Entwicklungen, welche die Qualität der Produkte – und damit den Nutzen für den Anwender, erhöhen werden.

PG: Welche Erkenntnisse aus deiner Forschung können für Wintersportler*innen relevant sein? Was kannst du unseren Lesern mit "auf Tour" geben?

Dem Freerider und Tourengeher möchte ich mit auf den Weg geben: Seid euch immer bewusst, dass sich die Produkte - verglichen mit eurem normalerweise verwendeten Bulletin - unterscheiden können. Schaut euch über die Gefahrenstufe hinaus auch die räumliche Auflösung und zeitliche Gültigkeitsdauer des Bulletins an. Ausserdem sind die Bulletins viel mehr als nur eine Gefahrenstufe. Schaut euch bitte auch immer die anderen, im Bulletin mitgegebenen Informationen an, wie bspw. die besonders gefährdeten Hang- und Höhenlagen, oder die Gefahrenbeschreibung. Details zur Lawinensituation lassen sich mit der Gefahrenstufe allein gar nicht abbilden und werden oft im Text beschrieben. 

PG: Fließen deine Erkenntnisse in die Erstellung des Lawinenbulletins ein?

Die Erkenntnisse aus meinen Untersuchungen haben sicher einen grossen Einfluss. Eine Frage, die ich mir immer wieder stelle, ist wie man aus der Flut der Daten wichtige Informationen herausfiltern und für den Lawinenwarner "verdaulich" aufbereiten kann, damit sie letztendlich zu einer besseren Prognose führen. 

PG: Statistisch gesehen gibt es ja die meisten Unfälle und Todesopfer bei Lawinenwarnstufe 3. Wie schätzt du das ein?

Die Gefahrenstufe 3 hat eine ziemlich grosse Bandbreite von einem "tiefen dreier", wo Lawinen vor allem von Personen ausgelöst werden können, bis zu einem "hohen dreier", bei welchem spontane Lawinen abgehen können. Egal, was für ein Dreier es ist: typisch ist, dass es Stellen gibt, wo sich sehr leicht Lawinen auslösen lassen, und dass Lawinen eine für Menschen gefährliche Grösse erreichen können. Diese grosse Bandbreite des Dreiers ist ein gutes Beispiel dafür, dass neben der Gefahrenstufe auch die anderen Kompetenten des Bulletins angeschaut werden müssen, um sich ein besseres Bild der erwarteten Lawinensituation machen zu können.

PG: Laut dem Winterbericht des SLF wurden 19/29 40 % weniger Unfalllawinen gemeldet als in Schnitt. Woran liegt das?

Solch “günstigere” Jahre gibt es immer wieder, wie es auch wirklich “schlimme” Winter gibt. Im Winter 2019/20 wirkte sich sicher begünstigend aus, dass es zwei Phasen gab, in welchen die Lawinensituation während je fast einem Monat recht günstig war. Dazu kam im Frühling 2020 der Lockdown, das hat sicher auch noch eine Rolle gespielt.

Grundsätzlich kann man aber sagen, dass die Anzahl der Lawinenopfer im Durchschnitt seit vielen Jahren konstant ist und nicht steigt, obwohl tendenziell immer mehr Menschen auf Tour oder Offpiste unterwegs sind.

PG: Wie verhält sich die Corona-Situation zur Lawinenlage? 

Das ist schwierig zu beurteilen. Man hört ja immer wieder von einem ein "Run" auf Schneeschuhe und Tourenmaterial in den Sportgeschäften. Ob die Situation mehr oder weniger Menschen auf Skitour treibt, wird sich zeigen. Und ob es dadurch zu mehr neuen und unerfahrenen Schneesportlern abseits der Pisten kommt und dadurch auch zu mehr Lawinenunfällen, wird selbst Ende des Winters noch kaum abzuschätzen sein.

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PG: Schneeschuhgänger sind nicht nur Corona-bedingt eine wachsende Zielgruppe. Welche Rolle spielt diese Zielgruppe bei Schadenlawinen?

Schneeschuhgänger sind statistisch gesehen eher wenig in Lawinenunfälle involviert. Im Vergleich zu Skitourengehern sind sie seltener im Lawinengelände unterwegs. Sie haben – wie mein Kollege Kurt Winkler ausgewertet hat – ein fünf Mal geringeres Lawinenrisiko als Skitourengeher. Kommt es aber zu einer Lawinenerfassung, dann leider auch öfter mit Todesfolge. Es ist daher ganz wichtig, dass auch Schneeschuhläufer, wenn sie im Lawinengelände unterwegs sind, sich der Lawinengefahr bewusst sind, die Sicherheitsausrüstung dabei haben und sich über die Lawinensituation im Bulletin informieren. 

Wir arbeiten ständig daran, dass unser Produkt für alle, die sich abseits der gesicherten Gebiete in den winterlichen Bergen bewegen wollen, hilfreich ist. Auch für Schneeschuhgänger. So publizieren wir seit 2017 auch für den Jura (CH), einem populären Gebiet für Schneeschuhtouren, täglich ein Lawinenbulletin.

PG: Wir sind mit powderguide.com eine Seite für den Wintersport. Lass uns da mal ein bisschen noch über Dich persönlich sprechen.  Wo kommst du her und wir kommst du zu so einem Beruf?

Ich komme ursprünglich aus dem Osten von Deutschland, wo man mit Schnee eher wenig am Hut hat. Vor fast 30 Jahren bin ich dann beruflich in die Schweiz gekommen. Ich habe zunächst noch einige Jahre als Koch gearbeitet. Der Besuch eines Lawinenkurses in Neuseeland hat dann in mir die Faszination für Schnee und Lawinen, und ganz besonders auch für den Blick in die Schneedecke, geweckt. Anschliessend war ich als Beobachter für das SLF tätig und habe mich so auch mit dem Thema beschäftigt. Nach einigen Wintern bei einem Strassenlawinendienst in Neuseeland sowie als Pistenpatrouilleur im Engadin habe ich mich dazu entschieden, Geografie in Fribourg und Bern zu studieren. Nach Bachelor- und Masterarbeit im Bereich Schnee hatte ich das grosse Glück, eine Stelle in der Lawinenwarnung am SLF in Davos zu bekommen. Hier konnte ich dann auch meine Doktorarbeit machen.

PG: Wow, also quasi vom Tellerwäscher zum Doktor! Ich nehme an, das ist eine überflüssige Frage, aber bist du selbst auch noch viel unterwegs in den Bergen? Und wo trifft man dich an? Im Skigebiet oder beim Skitouren?

Für mich ist sehr wichtig, dass man den Bezug zu draußen nicht verliert. Ich habe im Winter sehr lange Arbeitstage im Warndienst, aber wenn ich dann mal frei habe, bin ich immer draußen und wenn möglich auf Skitour. 

PG: Was sind denn deine "Tools" für den Schnee? Welche Ausrüstung ist immer mit dabei?

Ich mache oft auf Tour ein Schneeprofil. Daher habe ich neben der Sicherheitsausrüstung immer eine Schneesäge, ein Raster und eine Lupe dabei. Vielleicht eine Berufskrankheit!

PG: Bist du durch deinen Beruf eher defensiv unterwegs?

Ich habe in den letzten 10 Jahren in der Lawinenwarnung so viele Lawinenunfälle mitbekommen. Ja, ich glaube, dass mich dies geprägt hat, und ich eher defensiv unterwegs bin.

PG: Wie verhältst du dich in einer Gruppe beim Touren? Wird von dir immer der "Profi" erwartet?

Klar, als “Profi” sollte man sich auch so verhalten. Ob ich aber als Führer in einer Gruppe fungiere, kommt ganz drauf an, mit wem ich unterwegs bin. Wenn ich klar der erfahrenste bin, bin ich auch eher der Führer der Gruppe. Grundsätzlich sollte aber auch dann jeder in der Gruppe Verantwortung übernehmen und seine Meinung einbringen.

PG: Hast du selbst schon Bekanntschaft mit Lawinen gemacht?

Ja, da habe ich wohl die typische Lernkurve durchgemacht. Es ist schon lange her, aber es lief wahrscheinlich wie bei Vielen: Man macht Kurse, geht viel ins Gelände und hat irgendwann das Gefühl, dass man Ahnung hat. Dann kam ich in eine Lawine, wurde teilweise verschüttet. Ich blieb aber glücklicherweise unverletzt und verlor nur einen Ski. Diese Erfahrung war ein wichtiger Weckruf, der mich bis heute prägt.

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