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Welt der Wissenschaft | Rückschau ISSW2018: Session Snow and Avalanche Dynamics

Was tut sich in der Schneewissenschaft?

von Anselm Köhler 12.12.2019
Beim International Snow Science Workshop (ISSW) kommen alle zwei Jahre Wissenschaftler und Praktiker aus verschiedensten, aber immer schneebezogenen, Themenbereichen zusammen. Unterteilt in verschiedene Themenblöcke – sog. Sessions – werden neue Erkenntnisse und Forschungsergebnisse präsentiert. Wir untergliedern das Ganze nochmal in mehr oder weniger verdauliche Häppchen und fassen alle zwei Wochen Sessions der ISSW2018 für euch zusammen. Diesmal: Snow and Avalanche Dynamics (Session 1).

Die erste Session der ISSW2018 handelt vom Themenbereich der Lawinendynamik, welcher im weitesten Sinne das Fließverhalten von Lawinen untersucht. Die aktuelle Forschung fährt dabei mehrgleisig – einige Wissenschaftler untersuchen Großlawinen experimentell, andere versuchen Effekte im Labor nachzubilden und zu messen, und weitere entwickeln und bemühen Computermodelle. Heutzutage werden Computermodelle immer wichtiger und so ist es nicht verwunderlich, Wer den allerersten Talk auf der Konferenz bekommen hat:

Was hat Lawinendynamik mit den Animationsstudios von Disney zu tun?

Seit geraumer Zeit beflügelt eine Win-Win-Situation die Schneewissenschaften. Während eines Aufenthalts in Los Angeles hat der junge Professor und professionelle Snowboarder Johan Gaume zusammen mit Disney ein Schneemodel entwickelt, das nicht nur gut aussieht sondern auch außergewöhnlich gut funktioniert (O1.1). Wer wissen will, wie es aussieht, kann den aktuellen Kinofilm "Die Eiskönigin 2" besuchen. Wer die wissenschaftliche Reichweite des Modells verfolgen will, dem sei der Twitterkanal von Johan bzw. die Website des SLAB (snow and avalanche simulation laboratory) der EPFL in Lausanne empfohlen.

Das faszinierende an dem Modell ist, dass die Eigenschaften von Schnee simuliert und sich alle Anwendungen wie Bruchmechanik und Fließdynamik daraus ergeben. Technisch gesehen basiert das Modell auf der Grundlage der „Material Points Method“ (kurzes Erklärungvideo). Anstatt auf einem starren Rechengitter zu basieren, werden "Material Points" (quasi einzelne Schneekörner oder Granulare/Schneebälle) definiert, welche Eigenschaften wie Masse, Impuls und Deformation tragen. Das ermöglicht die Simulation über mehrere Größenordnungen - also von der Schwachschicht im Zentimeterbereich zum Fließen der Lawine im Hundertmeterbereich. Ferner ist genau diese Simulationsmethode geeignet, Übergänge von der Festkörpermechanik zur Fließdynamik zu modellieren: Die ruhende Schneedecke verhält sich wie ein verformbarer Festkörper, die Lawine jedoch eher wie eine granulare Flüssigkeit.

Bisher wurde das Modell hauptsächlich in klein-skaligen Experimenten für die Bruchausbreitung in der Schwachschicht validiert. Genauer gesagt, wurden Propagation Saw Tests (PST) verglichen - beim PST wird in einem länglichen Block die Schwachschicht angesägt und geschaut, ab welcher Sägweite (Critical Crack length) die Schwachschicht selbstständig weiter bricht. Dass Modell schafft es nicht nur, die Critical Crack length zu reproduzieren, sondern auch Fälle nachzubilden, bei denen anstatt komplettem Bruch der Schwachschicht das Schneebrett selbst darüber abbricht. Es fehlt jetzt noch die Validierung des Modells mit der Dynamik des kompletten Lawinenabganges - mit Geschwindigkeiten, Auslauflängen, Druckwerten, Schneeaufnahmen, granularer Zusammensetzung, und so weiter.

Wer misst, misst Mist, wer modelliert verliert

Eine solche Validierung - auch Back calculation genannt - funktioniert im Prinzip unabhängig vom zugrundeliegenden Modell. Als Eingabe nimmt man die vorhandenen Lawinendaten und versucht, diese mit dem Modell nachzuzeichnen. Dazu variiert man alle möglichen Modellparameter (Anrissvolumen, vorhandener Schnee in der Sturzbahn und dessen "Aufnahmevermögen", Reibungsparameter ... ) und passt so die Simulation an die Daten an. Das schwierige dabei ist, dass es eine paar Modellparameter gibt, die in der Realität gar nicht gemessen werden können, sondern Faktoren im Model sind, wie eben die Parametrisierung des Aufnahmevermögens der vorhandenen Schneedecke.

Auch die Reibungswerte können in großskaligen, sprich natürlichen Lawinenabgängen nicht direkt bestimmt werden, haben jedoch einen recht zentralen Einfluss auf etwa die Auslauflänge. Entsprechend wichtig ist es, zumindest näherungsweise Reibungswerte zu kennen, um die Auslauflängen von Lawinen vor dem eigentlichen Abgang zu bestimmen. Solche Analysen wurden in der Vergangenheit häufiger gemacht, hier in der aktuellen Session beschäftigen sich zwei Arbeiten mit den Reibungskoeffizienten von Eislawinen, erzeugt durch große Gletscherabbrüche. Im Gegensatz zu Schneelawinen haben Eislawinen geringere Reibung, fließen schneller und stoßen somit weiter in die Täler vor (P1.11).

Neben der erwähnten Statistik durch Modellvalidierung anhand vieler Lawinenabgänge, ist die Probabilistik eine weitere Möglichkeit, sich der Unsicherheit der Modellparameter zu nähern. Zum einen kann das "poor man's ensemble" durch die Anwendung von unterschiedlichen Fließmodellen durchgeführt werden; Oder aber die Sensitivität eines Modellparameters auf das Resultat wird in den Ergebnissen selbst als Unsicherheit beachtet. Entsprechend definiert der Beitrag O1.4, den sogenannten "Runout Gradient", also die Änderung eines Parameters, welche die simulierte Auslauflänge um 100m vergrößert. Grob gesagt, bewirkt eine Verdopplung der Anrissmächtigkeit oder die Reduktion der Reibung um 5% die Verlängerung der Auslauflänge um 100m. Ein solches probabilistisches Konzept ermöglicht somit, die unterschiedlichen Fehler der Eingangsparameter zu vergleichen und die Unsicherheit der Parameter auf das Simulationsergebnis zu übertragen.

Wer sich mehr über Lawinenmodellierung und Back calculation einzelner Lawinenabgänge informieren möchte, dem sei der Beitrag O1.2 über das Lawinenunglück von Rigopiano (Mittelitalien), bei dem ein komplettes Hotel zerstört wurde, empfohlen.

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15Kg Sprengstoff, 100.000m³ Schnee und jede Menge Daten

Experimentelle Lawinendynamik ist absolut großartig. Es ist eine der wenigen experimentellen geophysikalischen Disziplinen, wo es noch richtig Wumms macht – und wenn die Medien beteiligt sind, dann gibt‘s nicht nur spektakuläre Bilder sondern auch mal ein komplettes Auto in der Lawine. Natürlich war das Auto nicht nur mit Kameras ausgestattet, sondern auch mit Beschleunigungs- und Rotationssensoren, um die Interaktion mit der Lawine zu messen.

Apropos mitfließende Messungen: Zwei Beträge beschreiben 3D-gedruckte Bälle, welche mit Bewegungs- und Positionierungssensoren ausgestattet sind, um die Bedingungen in der Lawine aufzuzeichnen. Prinzipiell überschneidet sich hier die Lawinenforschung mit der Forschung an Steinschlägen, wo sich ähnliche Sensorik in den Steinen befindet. Einzelne eingefärbte Steine lassen sich recht einfach mittels Kamerabildern lokalisieren, in einer Lawinen ist es jedoch schwieriger und es bleiben nur die Beschleunigungsrichtungen, um die Position der Bälle zurück zu rechnen (P1.2). Beitrag P1.3 entwickelt als Antwort darauf ein auf WLAN basierendes Positionierungssystem, welches möglicherweise in naher Zukunft durch Radartracking ergänzt wird.

Große Testgelände für Lawinen, die mit vielen verschiedenen Sensoren ausgestattet sind, lassen sich an einer Hand aufzählen. Umso erfreulicher ist der Beitrag P1.8, welcher über ein neues Gelände in Niseko, Japan, berichtet. Also genau im bekannten Powder Skigebiet in Hokkaido – gleichzeitig Messen und Powdern gehen ist auch für Lawinenforscher ein absoluter Standortvorteil. Die Testhänge haben zwar nur einen Höhenunterschied von etwa 200m, dafür lassen sich Lawinen untersuchen, die sonst als „dynamisch uninteressante kleine Skifahrerrutsche“ abgestempelt werden. Das ist natürlich Quatsch, weil gerade solche Lawinen an der Grenze zwischen Fließ- und Staublawinen sind. Über diesen Übergang ist übrigens so gut wie gar nichts bekannt.

Natürlich sind auch Beiträge aus dem prominentesten Lawinentestgelände „Vallée de la Sionne“ im Wallis dabei. Die beiden Beiträge handeln von Druckmessungen an einem 20m hohen Stahlpylon, welcher im Lawinenpfad steht und direkt umflossen wird. Beitrag O1.5 beschäftigt sich mit dem Druck und Biegemoment durch unterschiedliche Fließregime auf den Stahlpylon. So finden die Autoren, dass Staublawinen vor allem impulsive, kurzzeitige und sehr hohe dynamische Drücke im Bereich von bis zu 1000kPa bewirken. Hingegen verursachen langsame Nassschneelawinen aufgrund der hohen Dichte kontinuierliche Drücke um etwa 400kPa. Als Vergleich für die Lawinengefahrenzonen gilt die Abgrenzung von der roten zur gelbe Zone um 10kPa, und die Grenze zu den unzonierten Bereichen liegt bei 1kPa. Anschaulicher: eine Wassersäule von 1m Höhe verursacht etwa 10kPa statischem Druck.

Der gemessene Lawinendruck ist natürlich abhängig von der Geometrie der Messeinrichtung, hier also ist der Grundriss des Stahlpylons ausschlaggebend. Die gemessenen Drücke lassen sich nur unter Annahmen auf andere Objekte und Geometrien übertragen und am ehesten vielleicht noch auf die Masten von Skiliften. Der zweite Beitrag (P1.5) aus dem Schweizer Testgelände berichtet über die Entwicklung von einem Diskrete-Elemente-Modell, welches genau für die Untersuchung von Drücken auf generelle Geometrien, deren Widerstandsbeiwert und Verstärkungsfaktoren optimiert ist. Durch den Widerstandsbeiwert ist die Geschwindigkeit mit dem Druck verknüpft. Der Verstärkungsfaktor kommt vom Auftürmen und Aufstauen von Schnee vor dem Objekt, womit quasi die Angriffsfläche für die Lawine vergrößert wird.

Klein aber fein...

Neben solchen Messungen an realen Lawinen gibt es immer wieder Messungen auf kontrollierten Laborskalen. Der Vorteil an Labor und Kältekammer ist die gute Kontrolle der externen Bedingungen. Der Nachteil aber ist, dass die Ergebnisse nur bedingt auf die realen Skalen übertragbar sind. Gerade Experimente zu Reibungswerten oder Auslauflängen auf kleinen Rutschen sind schwer zu vergleichen, da sich gewisse Fließstrukturen nur bei genügend Volumen und Fließlänge ausbilden. Zum Beispiel steht in der Ausstellung des Instituts für Schnee- und Lawinenforschung in Davos ein kleines Staublawinenmodell, welches nur funktioniert, weil die Glasperlen in einem mit Wasser gefüllten Behältnis fließen und somit Fließenergie, Dichteunterschiede und Fallhöhen eine verhältnismäßige Ähnlichkeit zum echten Pendant haben.

Trotz dieser Skalierungsschwierigkeiten haben zwei Beiträge sich an die Labormessung der Reibung und Auslauflänge herangewagt. Beitrag P1.17 lässt unterschiedliche Mengen Glas-Kügelchen eine Rutsche hinab fließen und findet mit zunehmendem Volumen größere Auslauflängen. Beitrag P1.15 verwendet anstatt einer Rutsche eine rotierende Trommel und erzeugt somit quasi eine unendlich lang fließende Lawine. Darin bewegt sich tatsächlich Schnee unterschiedlicher Korngröße, jedoch können nur marginal unterschiedliche Reibungskoeffizienten festgestellt werden.

Ein weiterer Laborbeitrag wiederholt quasi wissenschaftlich-korrekt ein Experiment von vor 3 Jahren, bei dem Schnee unterschiedlicher Temperatur in einen Betonmischer geschaufelt wurde, um die Bildung von granularen Schneebällen zu beobachten. Dabei wurde festgestellt dass der Schnee bei Temperaturen wärmer -2°C ziemlich schnell von fein-körnigem Schnee zu faustgroßen Kugeln zusammen glopptTM – trivial für Bayrische Grundschüler, komplexes Ergebnis für die Akademiker. Dieser Beitrag P1.16 benutzt ebenso eine rotierende Trommel mit 2.5m Durchmesser. Die Verbesserung gegenüber dem Betonmischer ist eine Drehzahlkontrolle und die direkte Messung von Temperatur, Flüssigwassergehalt und Fließprofil. Genauso wurde der Grenzwert von -2°C bis -1°C festgestellt, bei dem sich recht schlagartig die Korngröße ändert.

Nassschnee vs. Warmschnee

Nach den Betonmischer-Experimenten wurde die Schneetemperatur von verschiedenen Lawinendynamikern in den Fokus genommen. Im Gegensatz zu Flüssigwassergehalt ist Temperatur eine klassisch messbare Größe, die sich recht gut mit Schneedecken Modellen simulieren und auch aus historischen Daten grob abschätzen lässt. Der Beitrag P1.14 berichtet von einer möglichen Parametrisierung der Schneetemperatur in Lawinenmodellen. Ebenso kommt der weiter oben erwähnte Beitrag zum Hotel-Unglück in Rigopiano zu dem Schluss, dass warmer Schnee im unteren Teil des Lawinenpfades entscheidend für die weite Auslauflänge war. Auch wenn möglicherweise der Begriff Nassschneelawine nicht optimal ist, finde ich persönlich den Begriff Warmschneelawine ebenfalls schwach.

Fazit

Es ist immer schwierig, aus Beiträgen einer Konferenz den aktuellen Stand der Forschung auf einem Gebiet aufzuzeigen. In der Lawinendynamik tut sich momentan sicherlich viel, und es ist spannend zu verfolgen, wie die Lawinenwissenschaft in 10 Jahren aussehen wird. Herausragende Neuigkeiten bei der ISSW 2018 waren definitiv das Disney-Modell, die mitfließenden Sensorknoten und das mittlerweile mehrere Beiträge von warmem statt nassem Schnee sprechen.

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