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Welt der Wissenschaft | Snowpack: Stability and variability

Was tut sich in der Schneewissenschaft?

09.01.2020 von Anselm Köhler
Beim International Snow Science Workshop (ISSW) kommen alle zwei Jahre Wissenschaftler und Praktiker aus verschiedensten, aber immer schneebezogenen Themenbereichen zusammen. Unterteilt in verschiedene Themenblöcke – sog. Sessions – werden neue Erkenntnisse und Forschungsergebnisse präsentiert. Wir untergliedern das Ganze nochmal in mehr oder weniger verdauliche Häppchen und fassen alle zwei Wochen Sessions der ISSW2018 für euch zusammen.

Diesmal: Snowpack: Stability and variability (Session 10)

Schneedeckenstabilität und -variabilität sind essentielle Faktoren für uns Wintersportler. Beide Größen bilden die integrale Basis der Lawinenvorhersage. Dort werden die Faktoren jedoch etwas anders benannt und gehen als „Wahrscheinlichkeit der Lawinenauslösung“ und „Umfang der Gefahrenstellen“ in die EAWS-Matrix der Lawinengefahrenstufen ein. Grund genug, dass sich auch die Forschung fortwährend damit beschäftigt. Und so ist es nicht verwunderlich, dass die Session 10 „Snowpack: Stability and variability“ die meisten Beiträge enthält. Alle der vorgestellten 43 Beiträgen können hier nicht in 3 Seiten zusammengefasst werden, so beschränkt sich dieser Artikel vor allem auf Beiträge zu Schneebrettlawinen, Schwachschichten und deren Verbreitung. Und als Bonus diesmal mit Do-it-yourself Schneebrettexperiment!

Anti-Crack: Ein Bruch, der sich schließt

Für den Bruch einer Schwachschicht braucht es drei Zutaten: Eine Schwachschicht, ein gebundenes Schneebrett und einen Auslöser. Wenn ein Bruch der Schwachschicht, auch Kollaps genannt, zu einer Schneebrettlawine führt, wird noch eine Hangneigung ab 28-30° oder steiler benötigt. Wenn nun eine solche Schneedecke zum Beispiel betreten wird und es einzelne (schwache) Verbindungen in der Schwachschicht brechen, dann „schließt“ das aufliegende Schneebrett den entstandenen Riss – heutzutage wird bei der Schneebrettauslösung von diesem sogenannten „Anti-Crack Modell“ ausgegangen. Wenn die freiwerdende Energie durch diesen Kollaps reicht, um benachbarte Verbindungen in der Schwachschicht zum Brechen zu bringen, gibt es selbstständige Bruchausbreitung bzw. Bruchfortpflanzung, die zu größeren Schneebrettlawinen führt.

Mehrere Beiträge präsentieren Computermodelle zur Beschreibung dieser Bruchprozesse in der Schwachschicht. Diese Modelle berechnen das komplexe Zusammenspiel zwischen der Beschaffenheit des Schneebretts, der Stabilität der Schwachschicht und freiwerdenden Energie, welche zur Bruchausbreitung führt. Zum einen gibt es das Modell, welches für den Film „Frozen“ entwickelt wurde (jaja, dieser Catcher ist schon abgenutzt), zum anderen werden hier zwei weitere Modelltypen vorgestellt. Sicherlich herausragend ist das analytische Bruchmodell der TU Darmstadt, welches Wissen aus dem Fachgebiet der Strukturmechanik mit der Schneeforschung verknüpft (O10.6). Im Gegensatz zu rein numerischen Modellen, ist dieses „Phillip&Phillip“-Modell zwar nicht so flexibel, was die Materialeigenschaften angeht, dafür benötigt es sehr wenig Rechenkapazität und könnte auch in Echtzeit auf einem Smartphone gerechnet werden. Mehr zu diesem neuen Modell gibt es in der ISSW2018 Spezialausgabe von Berg&Steigen und auch der Vortrag von der Konferenz ist online.

Die beiden vorgestellten numerischen Modelle basieren beide auf der Diskrete-Elemente-Methode. Dabei werden einzelne Partikel (meistens Kugeln) geschickt gestapelt, um entweder Schwachschicht (wenige Verbindungen) oder Schneebrett (dichteste Kugelpackung oder Orangenverkäuferproblem) darzustellen. Das Modell von Beitrag P10.23 benutzt die Kugelanordnung um Propagation-Saw-Tests (PST) zu simulieren und die Critical Crack Length (CCL, Definition weiter unten) zu bestimmen. Das Modell von Beitrag P10.36 versucht der Frage auf den Grund zu gehen, ob es neben dem Anti-Crack-Modell, welches auf Kollaps basiert, auch die Ausbreitungsform durch Scherung (horizontale Verschiebung) in der Schwachschicht gibt. Alle Modelle benötigen als Eingangsparameter die mechanischen Eigenschaften der Schneedecke, welche indirekt aus Schneedeckentests gewonnen werden können.

Das geblümte Wort „Stabilität“

oder: Wie bestimmt man Schneedecken-Stabilität durch Stabilitätstests. In Beiträgen dieser Session wurden vier verschiedene Stabilitätstest benutzt – eine Übersicht über die verschiedenen Tests ist hier zu finden.

Beitrag P10.3 erweitert den Extended Column Test (ECT), indem sie die Front des Blockes mit schwarzer Farbe sprenkeln und mit einer High-Speed Kamera die Verschiebung der Farbpunkte beobachten, die beim Schlagen auf die Schaufel und unmittelbar beim Bruch auftreten. Aus der Verschiebung in vertikaler und horizontaler Achse diskutieren sie über den oben genannten Kollaps- oder Scherungsmechanismus zur Bruchausbreitung.

Ein modifizierter Column Test (CT) wird zum bayrischen „kleinen Blocktest“, wenn statt vertikal lateral geklopft wird. Beitrag P10.4 beschäftigt sich systematisch mit dem Vergleich von vertikalem und lateralem Klopfen und kommt zum Schluss, dass laterales Klopfen besser geeignet ist, um potentielle Schwachschichten zu finden, jedoch nicht, um daraus eine Aussage über die „Schwäche“ dieser Schicht zu treffen.

Die Bruchfreudigkeit einer bestimmten Schicht wird heutzutage häufig mit einem PST getestet. Es wird also ein recht großer Block freigelegt und von der hangabwärts liegenden Seite in die zu testende Schwachschicht gesägt. Die erwähnte Critical Crack Length ist dann die Strecke, die gesägt wurde, bis der Bruch von sich aus durch den ganzen Block propagiert. Beitrag P10.12 benutzt einen solchen PST zusammen mit einer High-Speed-Kamera, um die Bruchausbreitungsgeschwindigkeit zu bestimmen. Über diese Experimente (und andere aktuelle Forschung) erschien kürzlich eine gute Arte-Dokumentation, die Bilder von dem PST gibt’s ab Minute 17.

Leider ohne schriftliche Hinterlassenschaft für die Nachwelt gab es einen Beitrag über die Validierung des sogenannten Cross(-slope)-PST. Beim CPST geht darum, die Vorteile von ECT und PST zu verbinden da z.B. ECT unzuverlässig ist bei tief gelegenen Schwachschichten und der klassische PST recht aufwändig zu graben ist (30x100cm jedoch hangaufwärts, nicht hangparalell wie beim ECT). Für den CPST Test wird einfach ein Block der Größe eines ECT freigelegt und die zu testende Schwachschicht hang-parallel mit der glatten Seite der Schneesäge penetriert (siehe hier).

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Experiment für die nächste Tour: „Do It Yourself“-Schneebrett

Unwissend über die Existenz des Cross-PST haben wir letztens ein ähnliches Stabilitätsexperiment an einem künstlichem Schneebrett gemacht. Und zwar haben wir in der Nähe eines Bachlaufes wunderbar großen Oberflächenreif gefunden (mittlerweile kann man diesen auch künstlich erzeugen, aber die Maschine aus Beitrag P10.34 geht über das typische DIY-Equipment auf Skitour hinaus…), und haben ein kleines Schneebrett darüber gelegt. Hier die Schritt-für-Schritt Anleitung:

1) Man suche sich eine Stelle mit Oberflächenreif.

2) Man nehme Gries-artigem Schnee, und riesle vorsichtig eine ca. 10cm mächtige Schicht auf den Reif (Bild rechts).

3) Mit der Schaufel sticht man dieses künstliche Schneebrett vorsichtig seitlich ab, sodass man einen Block in der Größe eines typischen ECT bekommt (30x90cm).

4) Mit der Schneesäge (oder alternativ mit einer flachen Schaufel) fährt man seitlich in die Reifschicht, solange bis das „Kartenhaus aus Reif“ zusammenbricht (siehe Video).

Merke, obwohl das künstliche Schneebrett kaum gebunden ist (Gries) und auch nur 10cm mächtig ist, gibt es Bruchausbreitung im Oberflächenreif. Wenn der Lawinenlagebericht von eingeschneitem Oberflächenreif spricht, müssen alle Alarmglocken klingeln!

Professionelle Experimente sind auch nur DIY

Abermals unwissend ergab sich im Rahmen dieser Artikelrecherche, dass auch zwei ISSW Beiträge genau solche DIY-Schneebretter auf Oberflächenreif untersucht haben. In Beitrag O10.2 haben die Autoren 30 solcher 10cm-Schneebretter vorbereitet und zu verschiedenen Zeiten per PST geprüft. Sie stellen fest, dass die Critical Crack Length mit der Zeit größer wird, also weiter in die Schwachschicht gesägt werden muss, um Bruchausbreitung zu erzeugen, und finden somit eine entsprechende Schneedeckenstabilisierung mit der Zeit. Der zweite Beitrag O10.3 untersucht die mechanische Verfestigung der 10cm-Schneebretter mit der Zeit genauer.

Stabilität auf großer Skala hat Beitrag P10.1 untersucht und die Anzahl von (spontanen) Lawinen mit der Zeit nach einem größeren Schneefall auf einer schwachen Altschneedecke verglichen. Sie quantifizieren somit das recht intuitive Ergebnis, dass mit Schneefall die Lawinengefahr sprunghaft ansteigt und danach kontinuierlich wieder zurück geht. Beitrag P10.27 untersucht die Bildung von Triebschnee. Dazu untersuchen sie die Wetterbedingungen wie z.B. die Windgeschwindigkeiten, die Temperatur und Luftfeuchte in der Zeit vor den Lawinenunfällen. Als Ergebnis gibt es wieder eine Quantifizierung von recht intuitivem Wissen: Starker Wind produziert eher harte Schneebretter. Aber auch eine hohe Luftfeuchte ist wichtig für harte und gut gebundene Triebschneeansammlungen.

Aus Japan kommen recht viele Beiträge zu sehr speziellen Schneeflocken, die so wahrscheinlich in den Alpen recht selten sind: Rimed Snow Flakes. Dabei handelt es sich um Schneeflocken, die beim Sinken durch unterkühlte Wolken fallen und dort von einer Reifschicht umhüllt werden. Da dieser Schnee hier wohl kaum vorkommt, sei nur auf Beitrag P10.3 verwiesen, der die Stabilität von Raureif-Schneeflocken untersucht. Beim nächsten Japow-Urlaub wisst ihr Bescheid…

Was Siri, Alexa und Co mit Schneedeckenvariabilität zu tun haben

Im Prinzip gibt es zwei Arten von Beiträgen zur Schneedeckenvariabilität in der Session. Zum einen werden Schneedeckenmodelle wie SNOWPACK und Alpine3D verwendet, um eine mögliche Variabilität zu berechnen, zum anderen gibt es Beiträge, die die klimatischen Besonderheiten verschiedener Gebirgsregionen als Schneedeckenmuster klassifizieren.

Bei den Modellen geht es vor allem darum, inwiefern Wettervorhersagen benutzt werden können, um die Schneedecke von Morgen zu bestimmen. Problematisch sind neben dem hohen Rechenaufwand (keine Vorhersagerechnung nutzt etwas, wenn das Ergebnis zu spät berechnet ist), vor allem die Prozesse, die maßgeblich die Schneeverteilung beeinflussen, also Windverfrachtung und Schneeverteilung in komplexem Gelände (O10.4). Ein zweiter Modellierungsbeitrag versucht eine Verknüpfung von Schneedeckenmodellierung mit einem Stabilitätsmodel ähnlich zu den oben genannten Computermodellen zur Bruchmechanik (P10.15).

Anknüpfend an solch flächige Modellierung der Schneedeckenvariabilität beschäftigt sich ein Beitrag mit der Vergleichbarkeit von Schneeprofilen (O10.5). Hier sind händisch aufgenommene Schneeprofile, oder aber auch simulierte gemeint. Als Technik kommt die sogenannte Dynamic Time Warping Methode zum Einsatz, die sehr verbreitet in der Spracherkennung benutzt wird. Dabei werden quasi nicht die Schichten an absoluten Positionen verglichen, sondern die Schichtabfolgen gegenüber gestellt – ähnlich, wie Alexa Wörter versteht unabhängig ob langsam oder schneller gesprochen wird.

Weiters untersucht Beitrag P10.28 wie die Ergebnisse der Schneedeckenmodelle an die Praktiker und Anwender kommuniziert werden können. Schneedeckenmodelle spielen im Lawinenlagebericht nach wie vor keine große Rolle, nicht weil sie falsch sind, sondern weil sie sehr komplex zu benutzen sind. Die Autoren schlagen vor, die Schlüsselfaktoren für die Bildung der Lawinenmuster und Probleme darzustellen und zu kommunizieren.

Buchen-Lärchen-Theorie

Die klimatischen Bedingungen einer Region spiegeln sich im Allgemeinen in der Schneedecke und auch im Bewuchs wieder. So gibt es mögliche Korrelationen zwischen Gebieten mit Lärchen-Zirben-Bewuchs und Altschneeproblemen, während in Gebieten mit Tannen und Buchen Altschnee seltener ein Problem darstellt. Unser Schneestöberer Lukas hat darüber geschrieben (P10.17), aber seine Worten relativieren das Wissen über die Baumarten: „Risk Management can be done with better tools“.

Basierend auf langjährigen Schneeprofi-Aufnahmen haben weitere Beiträge über die regional-typischen Schneedeckenmuster in Pyrenäen (P10.13), Tromso-Gegend (P10.24), Japan (P10.29) und Ost-Kanada (P10.37) berichtet.

Fazit

Allein die Größe der Session mit 43 Beiträgen zeigt, wie aktiv an dem Feld der Schneedeckenstabilität und -variabilität geforscht wird. Es tut sich definitiv etwas, aber die Ergebnisse in die Praxis zu übertragen ist ein weiterer, sehr komplexer Schritt. Letztendlich ist die Schneedecke ähnlich zu „Schrödinger‘s Katze“ – erst wenn man die ganze Schneedecke umgegraben hat, weiss man wie stabil und variabel sie gewesen ist.

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