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Safety-Reports

Der Altschnee als menschliches Problem

Wie ich das Fürchten zu schätzen lernte

von Lea Hartl • 07.01.2018
An einem Wintermorgen vor gut drei Jahren habe ich mich mit der Angst angefreundet. Seither ist sie mir ein liebgewonnener Begleiter.

Es war ein Tag von vielen in einem mittelmäßigen Winter. Die Basis war mager, über Nacht hatte es mit viel Wind gut 10 Zentimeter geschneit. Auf Freeriden im Gebiet hatte keiner Lust, auf eine längere Tour auch nicht. Der Lagebericht sprach von einem kombinierten Trieb- und Altschneeproblem, Gefahrenstufe Erheblich. Das Altschneeproblem stand seit Wochen jeden Tag im Textteil des Bulletins, eine Art Hintergrundrauschen der Saison. Gedanklich deutlich präsenter war uns an dem Tag der frische Triebschnee. Wir überlegten uns eine Variante mit einem kurzen Aufstieg vom Lift aus, zu einer längeren Abfahrt über flaches, gemütliches Almgelände.

Die einzige kritische Stelle war ein kurzer, etwas steilerer Hangbereich ganz am Anfang der Abfahrt: links begrenzt durch ein paar herausschauende Grasbüschel und Steine, die obersten 15 Meter vielleicht 30-32° steil, dann schnell deutlich flacher werdend. Wir standen gemeinsam oben und besprachen, ob es besser wäre, noch außen herum zu gehen und mit einigem Schieben auf das nächste Flachstück zu queren. Andererseits waren ja wirklich nur die ersten paar Meter etwas steiler. Und mit ein bisschen Schwung über das Flachstück zu fahren, wäre auf jeden Fall die angenehmere Variante. Wir waren uns einig: Maximal würde beim ersten Turn oberflächlich der wenig gebundene Triebschnee mit abgehen, aber selbst wenn – in diesem Gelände sollte das kein Problem sein.

Einer meiner beiden Tourenkollegen machte sich an die Abfahrt, während wir ihm vom Einstieg aus zuschauten. Ein paar zügige Kurven und er war unten im Flachen, der Schnee sah sogar ziemlich gut aus. Wir beobachteten, wie er das Flachstück überquerte – ob es sich ohne Schieben ausgeht? - und machten uns abfahrtsbereit.

Der Kollege fuhr in vielleicht 300m Entfernung gerade hinter die nächsten Kuppe, als oben im Einstiegshang ein Riss aufging. Der Hang schien sich als Ganzes zu lösen, zunächst ohne in kleinere Schollen zu zerbrechen. Ein paar Sekunden später löste sich auch der Hang neben unserem, und noch ein paar Sekunden später auch der daneben. Der Kollege stand mittlerweile noch deutlich weiter unten auf einer anderen Kuppe – schon lang außerhalb des Gefahrenbereichs. Auch unser Standpunkt am Einstieg war nicht gefährdet. Die Lawine kam dank des flachen Geländes nicht weit, aber die Anrisskante war an die 150m lang. Der Auslösepunkt lag wahrscheinlich in dem ersten Flachstück an einer der zahlreichen schneearmen Stellen. Der Bruch setzte sich flächig den Hang hinauf fort, bis das Gelände steil genug wurde für einen Abgang.

Der steilere Hang am Anfang war laut Munter an diesem Tag grenzwertig, aber nicht völlig jenseits von Gut und Böse. Und wenn wir den Hang umfahren hätten und direkt in das Flachstück gequert wären – nach Munter eine „erlaubte“, nicht mal grenzwertige, Variante? Wissen werde ich es natürlich nie, aber ich vermute, wir hätten die Lawine trotzdem ausgelöst.

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Normale Gefahr – gefährliche Normalität

In der viel zitierten Arbeit von Ian McCammon zum Faktor Mensch geht es um die heuristischen Fallen, in die wir häufig tappen. Eine davon ist die “Familiarity” Falle, das F in McCammons FACETS. Vor allem geht es dabei um das Gelände: Wenn wir den Hang schon hundert mal gefahren sind, eh nur schnell am Hausberg eine Runde drehen, am Ende des Tages noch den Homerun ins Tal fahren, dann unterschätzen wir mitunter die Gefahren, die in der vermeintlich vertrauten Umgebung lauern. Die bewusste oder unbewusste Annahme ist, dass mir hier nichts passieren wird, weil mir hier noch nie etwas passiert ist.

Man gewöhnt sich nicht nur an das Gelände am eigenen Hausberg, sondern bekanntermaßen an alles. Ich hatte mich in den Wintern, die keine Altschneewinter waren, an eine bestimmte Auffassung der Gefahrenstufen gewöhnt. Ich hatte mir angewöhnt, die Gefahrenstufe mit der Lawinengefahr gleich zu setzen. Ich hatte mir die Vorstellung angewöhnt, dass es bei niedrigeren Stufen nicht nur weniger Gefahrenstellen gibt, sondern dass auch die Lawinen kleiner werden. Ich hatte mich daran gewöhnt, dass ich abschätzen kann, wo die gefährlichsten Bereiche im Hang sind und wo vermeintlich sichere Sammelpunkte liegen.

„Die steile Einfahrt in den eingewehten Hang ist die Schlüsselstelle. Das Flachstück da unten ist ein guter Sammelpunkt.“

In den letzten Wintern, die teils nur zeit- und stellenweise, teils dauerhaft und flächendeckend von der Altschneeproblematik geprägt waren, musste ich feststellen, dass die Dinge, an die ich mich gewöhnt hatte, nicht mehr galten.

Auch schwarze Schwäne haben Zähne

Wie jeder, der draußen unterwegs ist, habe ich schon hin und wieder Fehler gemacht. Manche, aber sicher nicht alle, sind mir bewusst. Ich bemühe mich, sie nicht zu wiederholen. Von all den Ereignissen in meinem persönlichen Katalog der dummen Entscheidungen war bis zu dem Tag vor drei Jahren nichts im Nachhinein gesehen überraschend, teilweise nicht mal im Vorhinein. Es war alles in mein Verständnis gewohnter, „normaler“ Gefahren einzuordnen. Weil die Fehler offensichtlich und klar definiert waren, sind auch die Möglichkeiten, sie zu vermeiden, offensichtlich und klar definiert. Die Lehren, die ich aus diesen Erlebnissen gezogen habe, haben in erster Linie mit Selbsterkenntnis zu tun, nicht mit Erkenntnissen, die mein Verständnis von Schnee und Lawinen betreffen.

Bei der Altschneeauslösung damals war das anders. Es kam niemand zu Schaden und es war nicht mal besonders knapp, aber dennoch war das Erlebnis einschneidender als andere Fehler mit teils unangenehmeren Folgen. Unsere Reaktion war erst mal ein geschlossenes „What The Fuck“, wie der moderne Freerider sagt. Und nicht, wie sonst: „das hätten wir doch eigentlich wissen müssen“.

(weiter gehts auf der nächsten Seite)

Dass es ein Altschneeproblem gab und dass Altschneeprobleme heimtückisch und schwer einschätzbar sind, war uns allen in der Theorie schon vorher klar. Aber wie der Mensch eben so ist: Manchmal muss man Dinge erst sehen, um sie auch praktisch zu begreifen.

Was McCammon als die Falle der Gewohnheit beschreibt, wird in der Psychologie auch als „Normalcy Bias“ beschrieben. Wir scheinen als Spezies eine angeborene Scheuklappenmentalität zu haben, durch die wir die Gefahren unterschätzen, die außerhalb unseres Normalitätsverständnisses liegen – sowohl was die Eintrittswahrscheinlichkeit betrifft, als auch was die möglichen Konsequenzen angeht.

Wenn man einigermaßen „berechenbare“ Lawinenprobleme gewohnt ist, wie Triebschnee oder Nassschnee, liegen unberechenbarere Lawinenprobleme außerhalb dessen, was man als „normal“ empfindet. Was wir uns nicht vorstellen können, gibt es nicht. Genauso, wie ich die Lawinengefahr an meinem Hausberg tendenziell unterschätze, gerade weil ich den Hang kenne, kann es mir passieren, dass ich die „nicht normale“ Gefahr unterschätze, gerade weil ich eine genaue Vorstellung der „normalen“ Gefahr habe.

Es ist im Grunde das klassische Induktionsproblem (das mit den Schwänen und David Hume, nicht das mit mit der eingebrannten Tomatensoße auf dem Induktionskochfeld): Ich habe bisher nur weiße Schwäne (Triebschneelawinen) gesehen. Folglich nehme ich an, dass es keine schwarzen Schwäne (größere, unberechenbarere Altschneelawinen) gibt. Wenn mir irgendwann ein schwarzer Schwan beim Entenfüttern in den Finger beißt, ist das nicht nur schmerzhaft, sondern hebt mein Weltbild aus den Angeln – es hätte ihn doch gar nicht geben dürfen!

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Pistole schlägt König

Wenn ein Triebschneeproblem eine Art gefährliches Schachspiel ist, bemisst die Gefahrenstufe das Können des Gegners. Je nachdem mag der Gegner gut sein, auch unbezwingbar, aber er hält sich an gewisse Regeln. Ein Altschneeproblem hält sich im besten Fall an andere Regeln, im schlechtesten Fall an gar keine. Das Spiel ist weniger wie Schach und mehr wie russisches Roulette. Und die Gefahrenstufe ist die Anzahl der Kugeln im Magazin.

Damit ist die Gefahrenstufe noch immer eine Art Maß der Gefahr, aber die Gefahr an sich hat sich verändert: Schach kann man lernen und üben und man kann sich Strategien von Leuten abschauen, die es besser können. Russisches Roulette spielt man besser gar nicht. Unabhängig vom Schachkönnen ist ein weiterer Schachzug nutzlos, wenn der Gegner eine Pistole zieht.

In dem sehr empfehlenswerten bergundsteigen Artikel „Fürchtet den Altschnee“ finden sich ein paar interessante Zahlen für die Schweiz: „Der Schneedeckenaufbau wirkt sich direkt auf das Risiko aus: bei ungünstigem Aufbau (ausgeprägtes Altschneeproblem) ist das Lawinenrisiko 50 % höher als bei gleicher Gefahrenstufe, aber anderem Lawinenproblem. Dieser höhere Wert rührt vor allem von der Gefahrenstufe 3 („erheblich") her: Dort war das Risiko bei Altschnee-Situationen sogar doppelt so hoch wie bei den anderen Gefahrenquellen.“

Der Artikel bezieht sich auf Unfallstatistiken und kommt klar zu dem Schluss: bei einem Altschneeproblem passiert bei gleicher Gefahrenstufe mehr als bei anderen Lawinenproblemen. Die Gefahrenstufe kann nicht mit dem Risiko, dem wir uns aussetzen, gleichgesetzt werden. Der Begriff Risiko beschreibt nicht nur die Eintrittswahrscheinlichkeit eines für mich ungünstigen Ereignisses, sondern auch die Schwere der zu erwartenden Konsequenzen. Ich kann bei Warnstufe 1 risikoreicher unterwegs sein, als bei Warnstufe 3, beispielsweise wenn ich mich in entsprechend gefährlicherem, ausgesetztem Gelände bewege, wo schon ein kleiner Rutscher schwerwiegende Folgen haben kann (kleine Eintrittswahrscheinlichkeit, schwerwiegende Konsequenzen).

Was beim Thema Geländewahl einleuchtet, ist bei den unterschiedlichen Lawinenproblemen vielleicht weniger offensichtlich (verglichen mit den sehr eindeutigen Gefahren etwa eines Absturzes über Felsgelände), aber genauso relevant: eine geringe Eintrittswahrscheinlichkeit kombiniert mit schwerwiegenden Folgen im Falle des Eintritts (russisches Roulette mit einer einzigen Kugel im Magazin - niedrige Auslösewahrscheinlichkeit bei latentem Altschneeproblem) kann ein großes Gesamtrisiko ergeben. Es mag unwahrscheinlich sein, dass etwas passiert. Aber wenn etwas passiert, dann so richtig.

Strategische Angst

Seit dem Vorfall vor drei Jahren reagiere ich sehr viel sensibler auf das Hintergrundrauschen des Altschnees im Lagebericht. Ich kann mir nun wesentlich besser vorstellen, was ein Worst Case Szenario in einem bestimmten Hang unter Umständen bedeuten würde. Diese Vorstellung ist sehr unheimlich.

Manchmal allerdings kommt mir die Angst abhanden: Die Gefahrenstufe sinkt, es ist lange nichts passiert, Freunde fahren all die schönen, anspruchsvollen Lines im eigentlich Altschnee-gefährdeten Gelände, weil die Gefahrenstufe es ja „zulässt“. Immer dann, wenn ich in Versuchung gerate – was recht häufig der Fall ist – versuche ich, mir selbst Angst zu machen. Ich lege einen gedanklichen Horrorfilm ein, stelle mir riesige Super-GAU Lawinen vor und male mir detailliert aus, wie der ganze Hang in Schollen zerbricht und mich und meine Tourenkollegen auf nimmer Wiedersehen verschluckt. Der erwünschte Effekt stellt sich in der Regel schnell ein.

Strategische Risikominimierung nach Munter, beziehungsweise mit den gängigen Munter Nachfahren (Stop or Go, Snowcard), stößt, Restrisiko hin oder her, bei einem Altschneeproblem an gewisse, systembedingte Grenzen. Zumindest, wenn man diese Methoden nutzt, um sich kritischere Hänge anhand der Neigung und der Gefahrenstufe "herunter zu rechnen", wozu sie ja verleiten.

Das Lawinenproblem Nassschnee wurde bei Munter schon immer als Sonderfall behandelt, da manche Reduktionsfaktoren hier nicht gelten – lange bevor der Begriff „Lawinenprobleme“ es in den allgemeinen, lawinenkundlichen Sprachgebrauch geschafft hat. Gäbe es die Sonderregeln für Nassschnee nicht, würde das Ganze in einer Frühjahrssituation nicht funktionieren. Für andere Lawinenprobleme gibt es bisher keine Sonderregeln. Vielleicht wäre es an der Zeit, das für das Lawinenproblem Altschnee zu überdenken. Den bewährt-wertvollen strategischen Methoden des Risikomanagements, denen wir sehr viel verdanken, würde dadurch sicher kein Zacken aus der Krone brechen.

Formalisierte, auf konkrete Weise in die strategischen Methoden eingebaute Verhaltensempfehlungen für ein latentes Altschneeproblem könnten je nach Methode unterschiedlich aussehen (bestimmte Reduktionsfaktoren der PRM nicht erlaubt, Erweitern des räumlichen Geltungsbereichs bei Stop or Go, usw.), das Ergebnis bliebe schlussendlich das gleiche: großräumiger Verzicht auf die Problembereiche.

Ein weiterer empfehlenswerter bergundsteigen Artikel (Der Lawinenlagebericht, eine unverstandene Liebe?) gibt verständliche, aufschlussreiche Hinweise zur Art und Weise, wie man den Lagebericht nutzen kann und sollte (Zusammenfassung: Die Gefahrenstufe zur Kenntnis nehmen, aber unbedingt auch den Rest lesen) und schlägt vor, sich einen ganzheitlicheren Workflow anzugewöhnen, wie ihn auch das Österreichische Kuratorium für alpine Sicherheit empfiehlt. Nicht statt der strategischen Methoden, sondern zusätzlich.

Ich möchte derweil die Altschneeangst nicht missen, denn Angst als Form des Risikomanagements ist sehr effektiv: wo ich mich nicht hin traue, wird mir nichts passieren. Und ich traue mich nicht hin, weil mir eindrücklich klar geworden ist, dass mittelmäßiges Schachkönnen nicht ausreicht, um im russischen Roulette zu gewinnen.

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