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Safety-Themen

Lawine am Burgstall: Wie wir mit Fehlern umgehen

Hinterher ist man immer schlauer, oder?

von Lea Hartl 20.02.2017
Eigentlich wusste sie, wo an diesem Tag die Gefahren lauerten. Warum hinderte es sie nicht daran, aufzusteigen? Eine Geschichte über Scheitern und den Mut, über Fehler zu reden.

In der ersten Januarhälfte schneite es in vielen Teilen der Nordalpen in diesem Winter zum ersten Mal ordentlich. Zuvor lag nur in hohen, schattigen Nordhängen Schnee, der noch vom Herbst übrig geblieben war. Nach ersten Schneefällen Anfang des Monats kam am 13. und 14. Januar nochmal Nachschub mit starkem Wind. Waldgelände wurde in vielen Gebieten Tirols erstmals in der Saison fahrbar. Der 15. Januar war schließlich der erste größtenteils sonnige Tag. Es herrschte in Tirol die allgemeine Lawinenwarnstufe 3. Neben frischem Triebschnee in allen Expositionen oberhalb von 1800 Metern wurde im Lagebericht vor einem Altschneeproblem in schattseitigen Hängen oberhalb von 2000 Metern gewarnt.

Fehler machen

Am Nachmittag des 14. Januar ist Daniela Hochmuth dabei, den morgigen Tag zu organisieren. Fast immer geht sie mit ihren zwei besten Freundinnen zum Freeriden. Die drei sind ein eingespieltes Team und müssen die Skitage nicht lange planen: Sie entscheiden sich für ein Gebiet und gehen dann dort fahren. Morgen allerdings würde noch Antoine (Name geändert) dazu stoßen - ein Franzose, von dem Daniela schon viel gehört, den sie aber noch nie getroffen hatte.

Dani fährt Snowboard. Ursprünglich kommt sie aus dem Slalom und Freestyle Bereich und erst vor ein paar Jahren ist sie vornehmlich aufs Freeriden umgestiegen. Freunde hatten sie in den Powder mitgenommen. Gleich zu Anfang fuhr sie Contests der FWQ-Serie mit, war dort auch schnell erfolgreich und bekam Sponsoren, obwohl sie sich bald entschied, die Wettkampfkarriere nicht weiter zu verfolgen. Antoine dagegen kommt eher aus dem Skialpinismus, ist bekannt für skibergsteigerische Leistungen und anspruchsvolle, steile Abfahrten. Auch er hat namhafte Sponsoren.

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In ein paar Wochen wollen die beiden nun einen gemeinsamen Trip starten. Das soll reibungslos funktionieren. Zum Kennenlernen wird Antoine Dani also morgen in Tirol besuchen und sie werden gemeinsam Fahren gehen. Dani fragt sich, ob sie dem bekannten Skifahrer wohl auf ihrem Brett hinterherkommen wird und hofft, dass sie sich gut mit ihm versteht.

Den Lawinenlagebericht vom 14. Januar hatte Dani am Nachmittag gelesen und daraufhin mental abgespeichert: "Wir gehen Treeruns fahren, über der Baumgrenze ist es gefährlich." Ihre beiden Freundinnen schlagen Hochfügen als Ziel vor. Dani kennt sich dort jedoch nicht so gut aus und will Antoine ja die Gegend zeigen. Deshalb entscheiden sie sich dann für die Schlick. An Danis Homespot gibt es schönes Waldgelände.

Am nächsten Morgen geht es ihr nicht gut, sie hat schlecht geschlafen, ist spät dran, fühlt sich gestresst. Am liebsten wäre sie zuhause geblieben, aber weil Antoine extra angereist ist, will sie ihn nicht hängen lassen. Sie kommt zu spät zum vereinbarten Treffpunkt am Parkplatz. Antoine wartet schon, ihre beiden Freundinnen sind bereits mit der Gondel hochgefahren. Wenn Dani mit den Mädls unterwegs ist, hören sie sich den Lagebericht in der Früh im Auto gemeinsam an. Heute kam sie in der Eile nicht dazu.

Endlich am Berg, rückt der morgendliche Stress in den Hintergrund. Antoine und Dani verstehen sich gut und passen auch fahrerisch super zusammen. Die Mädls werden sie den ganzen Tag nicht mehr treffen. Der Schnee im Wald staubt bei jedem Turn und auch in den engeren Waldschneisen erwischen sie nur selten den Untergrund. Gegen Mittag sind beide eigentlich schon ziemlich zufrieden mit dem Tag - aufhören wollen sie dennoch nicht.

Sie haben Tourenmaterial dabei, "falls doch was geht" und jetzt beschließen die beiden, noch ein Stück aufzusteigen um die Gegend zu erkunden. Sie folgen einer viel befahrenen Querung in den pistennahen Variantenbereich, doch statt wieder zurück ins Skigebiet zu fahren, fellen sie am Ende der Querung an. Durch die kalten Temperaturen kleben bei beiden die Felle nicht. Antoine löst das Problem mit etwas Tape und befestigt ganz selbstverständlich auch Danis Felle an ihrem Splitboard. Sie steigen ein paar Höhenmeter nach Westen in einen flachen Kessel auf etwa 2200 Meter auf. Von hier kann man entweder in gleicher Richtung weiter gehen aufs Schlicker Schartl (2456m) oder man biegt nach links (Süden) in Richtung Hoher Burgstall (2611m) ab. Oft gibt es gut ausgetretene Aufstiegsspuren in alle Richtungen, aber heute sind Dani und Antoine völlig allein.

Kurz besprechen sie, wie sie weiter vorgehen werden. Antoine äußert Bedenken, dass der Weg zur Scharte sie in kammnahe, eingeblasene Bereiche bringen würde. Dani erscheint das plausibel und so biegen sie Richtung Hoher Burgstall ab. Antoine spurt und legt die ersten Spitzkehren in den steiler werdenden Nordhang. Dani weiß, dass sie weniger Tourenerfahrung hat als Antoine. Ohne konkret an das Thema Lawinen zu denken, fragt sie ihn aus reinem Interesse, wie steil er den Hang schätzt. Sie glaubt 37°, er etwas weniger. Sie messen mit den Stöcken und einer App auf Antoines Handy nach und kommen auf 35°.

Mit Abstand steigen sie weiter auf. Plötzlich rutscht Danis Skitock beim Gehen deutlich tiefer in den Schnee als zuvor. Sie spürt, wie sie mit dem Stock durch eine weichere, ungebundenere Schicht sticht, die sie bisher unter dem Neuschnee an der Oberfläche nicht bemerkt hatte. „Ist sowas nicht ein schlechtes Zeichen?" Sie erschrickt und überlegt kurz, ob sie Antoine etwas zurufen soll. Da sie nicht ängstlich wirken will und seiner Einschätzung vertraut, lässt sie es.

Kurz darauf kommt Antoine an einer kleinen Felsinsel an. Hier bauen beide für den weiteren Aufstieg zu Fuß um und montieren Ski beziehungsweise Splitboard am Rucksack. Dani braucht etwas länger. Antoine beginnt erneut zu spuren und stapft den Hang hinauf. Er ist etwa zehn Schritte voraus, als sich an seiner Spur ein Riss bildet, der sich nach rechts fortsetzt. Der ganze Hang rechts der Spur löst sich in großen Schollen. Dani sieht die Lawine wie in Zeitlupe von oben auf sich zukommen und springt nach links zur Seite.

Nach der ersten Schrecksekunde wird ihr klar: Sie ist in Sicherheit, die Lawine ist seitlich an ihr vorbei ins Tal gerauscht. Sie überlegt schon, welche Nummer sie anrufen wird um einen Notruf anzusetzen und stellt sich die Rettung vor, aber auch Antoine wird zum Glück nicht mitgerissen. Sie hatte ihn die ganze Zeit aus dem Augenwinkel beobachtet. Er steht noch immer ein paar Meter über ihr. Dani atmet auf – der Spuk ist vorbei. Gemeinsam betrachten sie nun die Anrisskante und schießen ein paar Fotos. Der Anriss ist etwa 1,25 Meter hoch. Es sind deutlich verschiedene Schichten im Schnee zu erkennen. Dani fragt, ob sie jemand anrufen soll, um Bescheid zu geben, dass nichts passiert ist, aber Antoine winkt ab: "Wo ich herkomme macht man das nicht!" Auf dem Weg zurück ins Skigebiet gelingen ihnen noch einige schöne Powderturns.

Unten an der Piste warten bereits ein Skifahrer und ein Liftangestellter, die den Abgang beobachtet haben: "Seids vollkommen blöd? Habts den Triebschnee nicht gesehen? Ihr könnt froh sein, dass wir nicht in Italien sind, da würden sie euch jetzt Handschellen anlegen!" Dani und Antoine fahren zum Parkplatz ab. Auf dem Weg nach Hause halten sie an einem Gasthaus, um noch ein gemeinsames Bier zu trinken. Sie sprechen über den Tag und die Lawine. Antoine fasst das Erlebnis schulterzuckend zusammen: „Naja, Glück gehabt."

Über Fehler reden

Im Nachhinein sagt Dani, dass sie erst abends zu Hause so richtig realisierte, was an dem Tag alles falsch gelaufen war und wie viel Glück sie gehabt hatten: Dass sie genau in dem Bereich unterwegs gewesen waren, vor dem der Lagebericht gewarnt hatte. Dass schon die Planung chaotisch gewesen war. Dass sie die Schlick als den bekannten Homespot unterschätzt und nicht auf ihr Bauchgefühl gehört hatte. Dass sie sich gegenüber dem erfahreneren Antoine beweisen wollte. Dass sie mithalten wollte. Dass sie zu passiv war und ihm, ohne darüber zu reden, die Führungsrolle überlassen hatte. Dass sie ihre eigenen Vorsätze („nur Treeruns") über Bord geworfen hatte, sich von den schönen Lines am Vormittag hatte hinreißen lassen. Dass sie auch danach eigentlich nicht mit Antoine darüber gesprochen hat, was schief gelaufen war.

Dani hat eine gewisse Bekanntheit innerhalb der Freeridezene, sie postet regelmäßig auf Instagram und Facebook über ihre Tage im Schnee, wegen der Sponsoren, der Follower und weil sie gern ihre Erlebnisse teilt. Sie verfügt außerdem über eine gute Portion Idealismus und eckt damit auch immer wieder irgendwo an. Die bunte Scheinwelt aus ständigem Social Media Stoke, Powder-Bildern und #epicday-Hashtags widerstrebt ihr. Sie macht zwar mit, versucht aber dabei ehrlich zu sein und überlegt, was für eine Botschaft sie übermitteln möchte. Dani hätte es unehrlich gefunden, ein Powderbild von den Treeruns am Vormittag zu posten, mit einem Kommentar, wie super der Tag gewesen war. Nachdem ihr eine Freundin gut zugesprochen hatte, postete sie ein Bild der Anrisskante:

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Patrick Nairz vom Tiroler Lawinenwarndienst war am 15. Januar zufällig ebenfalls in der Schlick unterwegs. Er beobachtete die beiden beim Aufstieg in Richtung Burgstall und fotografierte sie aus der Ferne vor und nach dem Abgang. Die Bilder erschienen am Abend in einem Blogeintrag des LWD, mit dem erneuten Hinweis auf das Altschneeproblem. Für Leute, die die Gegend kennen und die Innsbrucker Freeride Szene ein bisschen verfolgen – und davon gibt es viele – war es nicht schwer, Dani und Antoine im Post des LWD zu identifizieren.

Die öffentlichen Reaktionen auf Danis Post im Internet waren meist positiv: "Gut dass nichts passiert ist", "Danke fürs Teilen". Ein paar Kommentare drückten jedoch aus, was wohl viele dachten - auch angesichts der eindrücklichen Bilder im LWD-Blog: "Wie bescheuert seid ihr eigentlich?"

Aus Fehlern lernen

Fehler zuzugeben, gegenüber sich selbst genauso wie gegenüber anderen, ist nicht einfach. Drew Hardesty, langjähriger Lawinenwarner aus Utah und gelegentlicher, wortgewandter Blogger, schreibt in Shame and the Social Contract, dass wir uns die Anerkennung unserer Freunde und Skitourenpartner genauso wünschen, wie die der restlichen – inzwischen oft um hunderte Facebook-"Freunde" und Instagram-Follower erweiterten – Community. Wenn wir Fehler machen, kann das unserem Ruf schaden, die erwünschte Anerkennung wird uns entzogen. Wir schämen uns, weil wir meist wissen, wie dumm und vermeidbar unser Fehler war. Wir fürchten zu Recht den Spott der anderen, das reflexhafte "Wie bescheuert seid ihr eigentlich?". Vielleicht vor allem deswegen, weil wir selbst schon genauso auf die Fehler anderer reagiert haben.

Studien aus Kanada legen nahe, dass Wintersportler dort nur etwa 11 Prozent der nicht-tödlichen Lawinen melden, die sie auslösen oder beobachten. (The Effect of Under-Reporting on Non-Fatal Involvements in Snow Avalanche on Vulnerability, Jamieson & Jones, 2015) Das verfälscht nicht nur diverse Statistiken zu
Unfall- und Überlebenswahrscheinlichkeiten, sondern es entgehen den Warndiensten dadurch wertvolleInformationen. Zudem werden immer wieder unnötige Suchaktionen gestartet, weil unklar ist, ob jemand verschüttet wurde. Hinzu kommt: Wenn wir nicht über unsere Fehler reden, können weder wir noch jemand anders daraus lernen.

Hören wir von einem Lawinenunfall, neigen wir dazu, als erstes nach Gründen zu suchen, warum uns das auf keinen Fall passiert wäre. "Niemals wäre ich bei einem Dreier den steilen Nordhang gefahren!" No na ned, wie der Tiroler sagt. Wir haben das offensichtliche Problem identifiziert und können uns nun weiterhin sicher sein, dass wir davon nicht betroffen sind. Klar, es gibt die Freerider, die sich immer sofort in die steilsten Hänge stürzen, und es gibt Tourengeher, die dauernd allein und ohne Ausrüstung unterwegs sind, aber das sind dann eben die anderen.

Diese saubere Unterteilung zwischen uns und den anderen, das gedankliche Abgrenzen einzelner schwarzer Schafe, die zu blöd sind, den Lagebericht zu lesen oder ein LVS dabei zu haben, ist bequem, praktisch und – so argumentiert Drew Hardesty – falsch. Es gibt nicht nur den einen, großen Fehler (Nordhang, steil, todgeiler Dreier!), sondern Fehlerketten, die uns dorthin bringen. Die wichtige Frage ist nicht unbedingt: "Was war der große Fehler?" - die Antwort ist oft, no na ned, offensichtlich. Die wichtigere Frage ist oft: "Wie ist es zu dem Fehler gekommen?" Und die Antwort hierauf hat fast immer mit dem viel theoretisch besprochenen, wenig praktisch berücksichtigten Lawinenfaktor Mensch zu tun, der uns per Definition alle und durchaus kollektiv als Gesellschaft betrifft.

Die Luftfahrtindustrie wird oft herangezogen als Beispiel für ein System mit effektivem, erfolgreichem Fehler-Management. Entgleisungen, vor allem auch die menschlichen, werden systematisch analysiert, diskutiert und anschließend passt man das System an, damit es nicht wieder passiert. Das ist nur möglich, wenn Fehler öffentlich gemacht werden. In Flugzeugen gibt es eine Blackbox, die nachhilft. Ohne Blackbox kann eine freiwillige, offene Fehlerkultur, in der einzelne ihre Fehler gegenüber der Community öffentlich machen, nur entstehen, wenn die Hauptarbeit von der Community übernommen wird. Hardesty nennt dafür einige Voraussetzungen:

  • Vorfälle müssen als "free lessons" gesehen werden - Gelegenheiten, etwas zu lernen, ohne, dass wir erst selbst die gleiche Erfahrung machen müssen.
  • Was für den einen ein akzeptables Risiko ist, mag für den anderen völlig inakzeptabel sein. Das ist okay und nicht grundsätzlich zu werten.
  • Es muss einen passenden Rahmen geben, in dem Fehler neutral diskutiert werden. Das kann zum Beispiel ein Unfallbericht des Lawinenwarndienstes sein. Mindestens sollte es aber ein Gespräch mit den Freeride Buddies oder Tourenkollegen sein und Ehrlichkeit sich selbst gegenüber – was lief heute gut, was nicht so? Warum? Hier braucht es mitunter die Bereitschaft, das eigene Ego durch den metaphorischen Fleischwolf zu drehen.
  • Meinungsführer jeglicher Art (Freeride-Pros, Bergführer, Filmproduktionen, ...) müssen mit gutem Beispiel vorangehen und aktiv und transparent über Missgeschicke reden.

Man ist hinterher nur schlauer, wenn man aktiv etwas dafür tut. Ein "Glück gehabt" oder ein "Wie bescheuert seid ihr denn?" reicht nicht aus.

Links, weitere Informationen:

Lawinen, bei denen definitiv nichts passiert ist, kann man der Leitstelle melden, etwa über den Euronotruf 112 oder die länderspezifischen Nummern der Rettungsdienste. Das ist vor allem dann wichtig, wenn für Außenstehende unklar sein könnte, ob jemand verschüttet wurde. Ein kurzer Anruf reicht aus, um aufwendige Suchaktionen der organisierten Rettung zu vermeiden.

Rückmeldungen LWD Tirol

Rückmeldungen SLF 

Blogpost Drew Hardesty, Utah Avalanche Center

Auch empfehlenswert: Podcast des Lawinenwarners Doug Krause zum Thema 

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