Es ist 21:09 Uhr. Mein Nachbar schaut fern. Ich kann es an dem blau-violetten Licht erkennen, das sein Wohnzimmer erhellt. Vielleicht das aktuelle Spiel der Fußball-WM in Katar. Oder die Nachrichten. Einen Brennpunkt vielleicht. Über den Verlauf des Kriegs in der Ukraine. Die Übernahme von Twitter durch Elon Musk. Die Energiekrise. Die Ergebnisse der Klimakonferenz in Sharm-el-Sheik. Die Inflation. Die Symptome von Long-Covid. Ach ja, die aktuellen Corona-Fallzahlen und die Auslastung der Krankenhausbetten vielleicht. Gleichzeitig zeigt mir mein Instagramfeed eine lang vergessene Welt. Einen Raum, der zwar zu Beginn dieser Rubrik existierte, aber die letzten zwei Jahre in vollkommene Vergessenheit geraten ist: die ISPO. Neueste Produkte aus der Blase der Wintersportindustrie. Der Krieg, die Energiekrise, die Klimakrise? Mit dem Eintritt in das Messegelände draußen im grauen Münchner November gelassen und prompt vergessen. Ist das jetzt schlecht? Anders gefragt: Sollten wir uns deswegen schlecht fühlen?
Schnee von morgen | Die gute Seite
Es gibt viele schlechte Nachrichten, aber auch ein paar gute.
Quiet Quitting auf den Newsportalen
Öffnen wir heute eine Nachrichtenapp, schlagen die Zeitung auf oder schalten womöglich den Fernseher an, prangt das Wort „Krise“ über allem. Das kann entmutigen. Runterziehen. Soweit gehen, dass man gar nicht mehr in die Nachrichten schauen mag. Dass man vielleicht nicht nur im Job "Quiet Quitting" betreibt, sondern auch bei Newsportalen. Dabei bezeichnet laut Bundeszentrale für politische Bildung eine Krise "eine über einen gewissen (längeren) Zeitraum anhaltende massive Störung des gesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen Systems. Krisen bergen gleichzeitig auch die Chance zur (aktiv zu suchenden qualitativen) Verbesserung." Und auf eben diese Chance zur Verbesserung will ich hinaus.
Wir können jeden Tag den Liveticker zu Krise 1, 2 oder 3 anschauen, uns Push-Nachrichten schicken lassen und daraufhin entmutigt in die Sofaritze fallen. Oder: Wir suchen nach Chancen. Chancen zur Weiterentwicklung. Chancen zur Verbesserung. Chancen zum Überstehen dieser Krisen und zum gestärkten Hervorgehen aus eben diesen. Krisen sind nie schön oder angenehm. Sie sind existenziell.
Wie weit kann Skifahren gehen?
Was hat all das hier auf Powderguide verloren? In einem Skimagazin? Seit 2019 beschäftigen wir uns in Schnee von morgen zielgerichtet mit dem Klimawandel und wie wir ihm als Wintersportlerinnen und Wintersportler begegnen können. Angefangen bei unserer Bekleidung, der Anreise in die Berge, den Gebieten, die wir mit dem Kauf von Tickets unterstützen, unserer Ernährung, wie wir mit Klimaprotesten umgehen und wie wir in Zukunft die Berge, den Schnee sehen wollen und wie andere ihn sehen. Wir haben uns über die letzten drei Jahre auf eine Reise begeben. Auch ich habe mich als Autorin auf eine Reise begeben. Haben an uns gearbeitet, uns herausgefordert und über unsere Zukunft nachgedacht. Wir sind teilweise dahin gegangen, wo es weh getan hat (Sollen wir Lifte abreißen?), aber auch gemütlich war (Secondhand-Weihnachtsgeschenke shoppen). Ich hatte oft das Gefühl, dass wir immer mit einem missmutigen Blick auf das schauen, was wir, die Welt, schon erreicht haben. Nie war es genug und - keine Frage - das ist es nicht! Schnee von morgen ist auch zu einem Ort geworden, der uns schmerzlich vor Augen führt, dass wir das Skifahren, wie wir es lieben, so vielleicht nicht mehr ausführen können. Dabei haben wir manchmal vergessen, dass es Schnee von morgen doch vor allem gibt, weil wir noch nicht aufgeben wollen. Weil wir glauben, dass es anders gehen kann.
Wir sind immer noch ein Skimagazin. Wir sitzen hier und schreiben, weil wir glauben, dass es Leute gibt, die einfach nur Artikel rund ums Skifahren lesen wollen. Die wissen wollen, wo am Wochenende Powder fällt, welche Ski es in diesem Jahr gibt und welche Tourenempfehlungen die Redaktion hat. Wir wissen von all den Krisen da draußen, wir wissen, dass der Strom teurer wird, aber wir haben trotzdem dieses unglaubliche und schier unbeschreibliche Bedürfnis, unsere Füße in eigentlich viel zu enge Schuhe zu stecken und auf langen Latten schneebedeckte Hänge hinab zu gleiten. Einfach weil es sich gut anfühlt. Weil wir uns frei fühlen, wenn der Powder uns die Luft zum Atmen nimmt. Und auch, weil wir dann endlich mal den ganzen anderen Shit vergessen, der gerade so abgeht.
Mit Zuversicht Chancen nutzen
Damit das so bleibt und wir trotzdem nicht Peter Pan-mäßig vor unseren Erwachsenenproblemen und unserer Verantwortung als Teil dieser Gesellschaft davon laufen, gibt es Schnee von morgen. Das ist naturgemäß eine Gratwanderung zwischen purer und so oft harter Realität und kindlicher Tiefschneeliebe.
Deshalb wollen wir euch in diesem Jahr öfter mit auf die "gute Seite" nehmen. Wir wollen den Blick auf die Projekte lenken, die etwas erreicht haben. Auf Gletscherehen, die schon vor dem Traualtar geschieden wurden. Auf die Gründe, warum Bürgerproteste Sinn ergeben. Warum es sich lohnt, weiter aufzustehen. Warum wir die Klimakrise doch noch meistern können und warum wir die Hoffnung trotz aller Krisen nicht aufgeben. Wir wollen Schnee von morgen zu einem Ort machen, der uns trotz allem auch Hoffnung gibt und nicht immer noch eine Krisennachricht sendet. Zwar realistisch und berichtend, aber motivierend. Schließlich haben auch Die Zeit und die Süddeutschedie Good News der Woche! Nur schlechte Nachrichten ziehen runter, wir brauchen Erfolgserlebnisse. Deswegen seid frei nach den Sportis (Sportfreunde Stiller) willkommen: "Doch ehe dir dein Herz zerbricht/Hier kommt die gute Nachricht/Du und ich/Und sonst noch ein paar Leute/Wir sind auf der guten Seite."
Wie üblich gibt es bei Schnee von morgen auch diese Saison wieder eine Mischung aus Beiträgen von verschiedenen Autorinnen und Autoren. Lisa führt uns durch den Winter und die Abteilung Raumplanung und Naturschutz des Österreichischen Alpenvereins ist auch wieder regelmäßig dabei. Wenn ihr Themenideen habt oder eine Ausgabe der Kolumne beitragen wollt - über good news, bad news, oder sonstige Gedanken rund um Skifahren in Zeiten des Klimawandels - meldet euch unter redaktion(at)powderguide.com.
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