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Schnee von morgen

Schnee von morgen | Was sind klimatische Kipppunkte?

Tipping Points: Was ist es und warum interessiert es uns?

von Lea Hartl 08.03.2021
In der letzten Ausgabe dieser Kolumne ging es um die sogenannten planetaren Grenzen, die für verschiedene Bereiche aufzeigen, wieviel Veränderung das System verträgt und ab wo es kritisch wird. Nicht nur im Zusammenhang mit den planetaren Grenzen geht es im Diskurs zu Umweltveränderungen zunehmend um Kipppunkte (Tipping Points). Was steckt hinter dem Buzzword?

Der Tropfen, der das Fass zum überlaufen bringt

Zu Anfangszeiten des IPCC gehörten klimatische Tipping Points noch eher zu den exzentrischeren, extremen Zukunftsvisionen, die den Mainstream wenig beschäftigten. Mittlerweile hat sich das geändert. Tipping Points sind längst im Mainstream der Klimawissenschaft angekommen und damit nach und nach auch im öffentlichen Diskurs. Der IPCC definiert Tipping Points als jene Punkte, ab denen sich irreversible Veränderungen des Klimasystems einstellen.

Mathematisch formaler betrachtet handelt es sich bei klimatischen Tipping Points um Bifurkation in Kombination mit Hysterese in einem dynamischen System. Wir verzichten auf Details, aber Hysterese ist ein wichtiges Konzept, um das Prinzip der Tipping Points zu verstehen, daher gehen wir darauf kurz ein: Hysterese bezeichnet, vereinfacht formuliert, die Abhängigkeit eines Systemzustands von seiner Historie.

Stellen wir uns einen 32° steilen, verschneiten Hang vor. Noch ist in diesem Hang keine Lawine abgegangen (Systemzustand 1: Hang intakt). Nun schneit es einen halben Meter. Ob sich durch das Gewicht des Neuschnees eine spontane Lawine löst, hängt vom Schneedeckenaufbau, also der Vorgeschichte des Systems, ab. Bei günstiger Altschneedecke passiert vielleicht nichts. Ist die Situation aber ungünstig, beispielsweise weil Oberflächenreif als Schwachschicht dient, geht eine Lawine ab. Der Systemzustand hat sich somit abrupt und irreversibel verändert (Systemzustand 2: Hang ist abgegangen)!

Also, Hysterese: Je nach dem, wie die Vorgeschichte aussieht, bewirken kleine, graduelle Veränderungen einer Variable (z.B. Neuschnee) kleine, gut vorhersagbare Änderungen im Gesamtsystem (Schneehöhe nimmt zu), oder aber eine grundlegende Änderung des Systemzustands (Lawine geht ab). Wann genau letzteres Eintritt, ist bei Lawinen wie auch beim Klima mit einigen Unsicherheiten behaftet – wir wissen ungefähr, wie das ganze funktioniert und wann es anfängt kritisch zu werden, aber ab welchem Moment genau das System kippt (bei wieviel Zentimeter Neuschnee bricht die Schwachschicht?), ist nicht so einfach vorherzusagen.

Beispiele für Klima Tipping Points

Abschmelzen der Gletscher und Eisschilde: Sind die Alpengletscher mal weg, werden sie sich nicht wieder bilden, auch wenn die Temperatur dann konstant bleibt. Damit sie wieder wachsen, bräuchte es eine deutliche Abkühlung und viel Zeit. Auf deutlich größerer Skala gilt das für Eismassen in der Antarktis und Grönland. Hier gibt es Feedback Mechanismen, die sich verstärken, wenn der Zerfall der Eisschilde ein gewisses Ausmaß überschreitet. Der entsprechende Meeresspiegelanstieg würde die Küstenregionen weltweit massiv verändern.

Vor allem das Eis in Grönland gehört noch aus einem anderen Grund zur kritischen Infrastruktur des Klimasystems. Schmilzt es, gelangen die ehemaligen Gletscher als Süßwasser in der Nordatlantik. Salzwasser ist dichter, also schwerer, als Süßwasser. Wenn nun rund um Grönland viel Schmelzwasser ins Meer fließt, wird das Wasser an der Oberfläche weniger salzig und sinkt nicht wie bisher in tiefere Meeresbereiche. Dieses Absinken von Wasser im Nordatlantik ist wichtig für die Atlantische Umwälzzirkulation, meist AMOC genannt (Atlantic Meridional Overturning Circulation). Der Golfstrom ist ein Teil dieser größeren Meereszirkulation. AMOC ist seit Mitte des letzten Jahrhunderts sehr wahrscheinlich bereits schwächer geworden. Ein kompletter Ausfall im Sinne von The Day After Tomorrow ist zumindest zeitnah aber nicht zu erwarten.

Weitere Klimaprozesse mit Kipppunkten sind beispielsweise das Abtauen von Permafrost in der Arktis und dadurch frei werdende Treibhausgase, Veränderungen im Monsun, oder das Absterben des Amazonas Regenwalds, was neben dem Biodiversitätsverlust auch weniger Regen in der Region zur Folge hätte. Kipppunkte gibt es in großen, globalen Systemen, aber auch im Kleinen, auf lokaler und regionaler Skala.

Wer weiterlesen will, findet in diesem sehr guten Artikel viele weitere Informationen zu unterschiedlichen Kipppunkten und zum Wissensstand bezüglich: Wie weit sind wir noch davon entfernt?

Warum sind Kipppunkte so wichtig?

Warum interessiert uns, wann und wo Lawinen abgehen? Wenn wir einen Kipppunkt überschreiten (Lawine geht ab), nimmt die Unsicherheit der zukünftigen Entwicklung stark zu. Wir wissen nicht, ob wir von der Lawine verschüttet oder verletzt werden, was mit unseren Skitourenbuddies passiert und wie es weiter geht. Sobald wir mit der Lawine den Berg hinunter purzeln, ist auch unser Handlungsspielraum stark eingeschränkt: Mit Glück können wir noch ein bisschen reagieren und den Airbag ziehen, oder versuchen, die Arme vors Gesicht zu bringen für eine Atemhöhle, aber das wars auch schon. Wenn die Lawine zum Stehen kommt, müssen wir irgendwie mit der neuen Situation klar kommen, wir können nicht einfach in den vorherigen Systemzustand zurück kehren.

Wir verstehen Risiko als die Kombination aus Eintrittswahrscheinlichkeit und möglichen Konsequenzen, bei Lawinen genauso wie beim Klima. Ein Totalausfall von AMOC ist recht unwahrscheinlich, aber die globalen Konsequenzen wären dramatisch. Der Vergleich hinkt hier etwas, aber auch das „low probability-high consequences“ Problem kennen wir aus der Lawinenkunde. Andere Kipppunkte haben höhere Eintrittswahrscheinlichkeiten bei für die Menschheit vielleicht weniger verheerenden, weniger direkten Konsequenzen. Das Korallensterben aufgrund des Antiegs der Wassertemperaturen wäre hier ein Beispiel - einige Korallenriffe haben ihre Kipppunkte bereits überschritten. Das verändert das Ökosystem vor Ort, aber als Alpenbewohner ist man davon erstmal nicht beeinträchtigt. Wieder andere - das Schmelzen der großen Eisschilde - sind wiederum wahrscheinlicher und haben auch hohe Konsequenzen (mehrere Meter Meeresspiegelzunahme), die sich aber nicht sofort einstellen.

Soziale Kipppunkte

Klimatische Kipppunkte bieten viel Stoff für Katastrophenfilme, aber in Fatalismus zu verfallen, wäre die falsche Antwort. Noch gibt es in vielen Bereichen durchaus Handlungsspielraum. Wir können unsere Routenwahl noch anpassen und uns entscheiden, nicht durch den Lawinenhang aufzusteigen. Die Idee, dass auch gesellschaftliche Wandlung „Kipppunkte“ hat, ab denen Veränderungen viel schneller und radikaler stattfinden, hält zunehmend Einzug in die Klima-Kipppunkt Diskussion - nicht zuletzt um gegen den Fatalismus anzukämpfen! Ein Beispiel sind die sinkenden Kosten für erneuerbare Energien, die irgendwann hoffentlich zur Folge haben werden, dass sich die Politik endgültig von der Förderung fossiler Energien abwendet, da diese schlicht zu teuer werden. Die neuen Technologien werden nach und nach immer besser und billiger (vergleiche: es fällt immer mehr Neuschnee), bis es sich irgendwann nicht mehr lohnt, etwas anderes zu benutzen und die Energiewende vollzogen ist (Lawine geht ab/ Übergang zu neuem Systemzustand).

Eine graduelle Veränderung kann irgendwann einen systemischen Wandel bewirken und das sprichwörtliche Fass zum überlaufen bringen – im Schlechten wie im Guten.

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