Das hochkomplexe Gebilde der Schnee-Lawinenkunde und die meist ebenso komplexen LLBs, die kaum mehr jemand versteht, der nicht täglich unterwegs ist und sich damit beschäftigt, scheinen langsam in verschiedene Schienen für verschiedene Nutzergruppen aufgeteilt zu werden. Warum macht das Sinn?
Letztendlich gibt es einen fließenden Übergang zwischen Einsteigern, erfahrenen Wintersportlern und Lawinenexperten. Auch ausgesprochene Lawinenexperten sind nicht gegen heuristische Fallen und kognitive Fallen gefeit. Ich bin mir deshalb nicht sicher, ob sich die Nutzergruppen aufteilen werden bzw. ob sie sich aufteilen sollten. Skitourenguru kann eben gerade erfahrenen Nutzern einen hohen Mehrwert bieten, denn erst erfahrene Wintersportler können optimalen Gebrauch aller Informationen machen, die Skitourenguru zur Verfügung stellt. Ohnehin würde ich mir wünschen, dass sich Einsteiger auf das Abenteuer „Lawinenkunde“ einlassen und sich in Praxis und Theorie mit Lawinen auseinandersetzen.
Die Reduktionsmethode nach Munter wurde als Durchbruch in der praktischen Lawinenkunde gefeiert. Heute wissen wir, dass sie und die davon abgeleiteten Methoden konsequent genug nur in der Ausbildung, kaum aber in der eigenständigen Praxis von Benutzern aller Level später verwendet werden. Kommt der eigentliche Durchbruch der Verbindung von Hangsteilheit und Gefahrenstufe nach statistischer Wahrscheinlichkeit erst jetzt durch Tools und Automatismen wie Skitourenguru?
Eine eben erschienene Studie aus Norwegen zeigt auf, dass weder Reduktionsmethoden noch andere Werkzeuge breite Anwendung finden. In der real existierenden Tourenpraxis wird sehr stark mit der Intuition gearbeitet. Der Nobelpreisträger Daniel Kahneman hat aufgezeigt, dass uns die Intuition systematisch in die Irre führen muss, wenn wir mit tiefen Ereigniswahrscheinlichkeiten und schwachen Gefahrenzeichnen konfrontiert sind. In Anbetracht von diesen neuen Erkenntnissen erstaunt es mich, dass die probabilistische Lawinenkunde zur Zeit in der Defensive ist. Zugegeben, die probabilistische Lawinenkunde hat zwei Handicaps: Einerseits schlägt sie dem Experten ein paar Zacken aus der Krone und anderseits ist sie nicht besonders benutzerfreundlich. Wenn wir das Rechnen dem Computer überlassen und zudem komplexere Modelle entwickeln, können wir beide Probleme adressieren. In diesem Sinne, ja ich denke Entwicklungen wie Skitourenguru können der probabilistischen Lawinenkunde zum Durchbruch verhelfen. Letztendlich geht es aber darum, die drei großen Strömungen der Lawinenkunde (Probabilistik, Analytik und Intuition) auf clevere Art und Weise zu kombinieren.
In der letzten Zeit hat sich in der Lawinenkunde für Wintersportler vieles getan. Seien es die nun wesentlich aussagekräftigeren Schneedeckentests wie ECT und PST oder die Lawinenprobleme. Im Grunde hat sich in den letzten zehn Jahren mehr weiterentwickelt als in 100 Jahren zuvor. Wie lässt Skitourenguru die neuesten Entwicklungen – in Sachen Technik sowie Naturwissenschaft – einfließen? Ist Skitourenguru damit die Spitze der derzeitigen Entwicklungen in Sachen Lawinenprävention?
Die große Schwachstelle von Skitourenguru ist der LLB. Die Lawinenforschung hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht. Ziel ist die Entwicklung einer Modellkette, die bei den Wetterdaten beginnt, daraus die Schneedecke modelliert und zum Schluss sinntragende Stabilitätsindikatoren ableitet. Wer sich mit den Forschern austauscht, stellt aber schnell fest, dass es immer noch eine ganze Reihe von ungelösten Problemen gibt. Auf jeden Fall warten die Lawinenwarnungen sehnlichst auf eine Stabilitätskarte, die vollautomatisch aus Wetterdaten abgeleitet wird.
Skitourenguru beobachtet aufmerksam die Fortschritte und wird zu gegebener Zeit den LLB durch bessere Nachfolgeprodukte ersetzen. Skitourenguru ist deshalb nicht an der Spitze, die Spitze gibt es leider erst auf dem Reißbrett.
Wohin entwickelt sich das Risikomanagement im Schnee deiner Meinung nach? Wird irgendwann ein Chip im Kopf sitzen, der nicht nur das Risiko meldet, sondern genau die Stellen im Hang ausfindig macht, wo man an diesem Tag eine Lawine auslösen kann?
Wir müssen sauber unterscheiden zwischen einer statistischen Schätzung und einer physikalischen Vorhersage. Ich befürchte, eine physikalische Vorhersage für den Einzelhang wird es aus zwei Gründen nicht geben: Zum einen kann die oben aufgeführte Kette im besten Fall die wahrscheinliche Schneedecke modellieren. Zum anderen werden wir die physikalischen Zusammenhänge innerhalb der Schneedecke nie wirklich vollständig verstehen. In Zukunft wird es sicher Apps geben, die uns warnen, wenn wir uns einem Hang nähern, der alle Anzeichen aufweist, die eine Lawinenauslösung wahrscheinlich machen. Eine eigentliche physikalische Vorhersage wird es in absehbarer Zeit nicht geben.
Was sind die nächsten, absehbaren Entwicklungsschritte für Skitourenguru?
Wie erwähnt würde ich gerne den LLB durch obige Modellkette ablösen, dies wird aber frühestens in einigen Jahren möglich sein. Für Skitourenguru stehen zwei wichtige Aufgaben auf dem Programm: Erstens die Abdeckung des ganzen Alpenbogen mit einem Vollangebot an Routen. Zweitens die Möglichkeit nutzergenerierte Routen bewerten zu lassen. Auf der einen Seite sind hier Routen gemeint, die vor der Skitour von Hand auf der Karte digitalisiert wurden. Auf der anderen Seite geht es aber auch um GPS-Tracks real durchgeführter Skitouren. Der User würde bei der zweiten Anwendung sehen, welchen Risiken er sich ausgesetzt hat. D.h. er würde ein Feedback zu seiner Routenanlage erhalten. Gleichzeitig arbeitet Skitourenguru ständig an der Optimierung des Algorithmus.