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Schneegestöber

SchneeGestöber 20 2016/17 | Werner, wir haben ein Kommunikationsproblem!

Schatz, lass uns über Altschneeproblem und Gefahrenstufen reden.

von Lukas Ruetz 16.03.2017
Das leidige Thema mit dem menschlichen Versagen beim Altschneeproblem bleibt - genau so wie das menschliche Versagen mit den Gefahrenstufen.

Ausgangslage

Beim Schneegestöber handelt es sich um eine Kolumne – wissenschaftliche Grundlagen spielen zwar eine große Rolle, ordnen sich jedoch im Sinne des meinungsbetonten Naturells einer Kolumne unter. Der heutige Anlass: Der Lawinenunfall mit vier Todesopfern vom 15.3.2017 am Jochgrubenkopf in der Nähe des Brennerpasses: Es handelt sich um einen steilen bis extrem steilen nordexponierten Gipfelhang zwischen 2100m und 2450m. Analyse des LWD Tirol.

Das Kommunikationsproblem, erster Teil

Ganz egal, ob die Gesamtsituation auf die Gefahrenstufe Mäßig, mit ihrer Definition „Die Schneedecke ist an einigen Steilhängen nur mäßig verfestigt, ansonsten allgemein gut verfestigt. Lawinenauslösung ist insbesondere bei großer Zusatzbelastung, vor allem an den angegebenen Steilhängen möglich. Große spontane Lawinen sind nicht zu erwarten.“ oder Erheblich: „Die Schneedecke ist an vielen Steilhängen nur mäßig bis schwach verfestigt und die Lawinenauslösung ist bereits bei geringer Zusatzbelastung möglich. Fallweise sind spontan einige mittlere, vereinzelt aber auch große Lawinen möglich.“ zugetroffen hätte, der Hang am Jochgrubenkopf lag genau in dem Bereich, wo die Schneedecke derzeit bekanntlich nicht gut verfestigt war.

Die heutige Meinung: der Schneestöberer glaubt, dass der Unfall nicht passiert wäre, wenn die Gefahrenstufe an diesem Tag "Erheblich" entsprochen hätte und im Lagebericht ausgegeben gewesen wäre (was aber ganz klar nicht der vorherrschenden Lawinengesamtsituation entsprochen hätte). Wäre die Schneedecke beispielsweise sonnseitig bereits stärker durchnässt und hätte eine voran gegangene bewölkte Nacht die Ausstrahlung behindert, wäre eine Gefahrenstufe Erheblich in diesem Gebiet und dieser Höhenlage durchaus möglich gewesen. Obwohl sich für den nordseitigen Unfallhang nichts geändert hätte.

Es geht wie immer nicht um Schuldzuweisungen. Der bevorstehende Prozess gegen den überlebenden Bergführer macht auch keinen Sinn, weil die Gruppe, sofern die obere Vermutung wahr wäre, genau gleich agiert hat, wie das ein Großteil der Wintersportler macht – zu stark gefahrenstufenorientiert, zu wenig informationsorientiert. Außerdem ist die Strafe schon groß genug.

Es geht um unser Kommunikationsproblem in der angewandten Lawinenkunde. Der Laie – dazu zählen auch viele Bergführer - versteht den Lagebericht nicht ausreichend und kann ihn nicht anwenden. Wer einen Führerschein besitzt, kann noch nicht gut Autofahren.

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Nun, wie soll man dann Anwenden derzeit? Tausende von nordexponierten Steilhängen in dieser Höhenlage wurden in den letzten Wochen befahren, fast nichts ist passiert. Die Auslösewahrscheinlichkeit ist gering und eben nur mehr an ganz, ganz wenigen, schneearmen, bisher unverspurten Stellen denkbar, die benötigte Belastung sehr hoch. Also einfach hineinfahren und hoffen, dass es einen nicht erwischt?

Auch keine dauerhafte Lösung

(Rechnerische) Reduktionsmethoden bringen viel für jene, die sich wenig bis gar nicht auskennen oder mit den Hintergründen beschäftigen. Ein externer Mitarbeiter eines deutschsprachigen Lawinenwarndienstes formulierte die Anwendung von Reduktionsmethoden wie folgt: „Die Snowcard z.B. ist der Versuch einem komplexen Problem – in diesem Fall Lawinen - mit einfachen Mitteln zu begegnen. Das mag für den Laien auf gemäßigten Touren durchaus im Gros der Fälle funktionieren. Im Spezialfall versagen solche Lösungen.“ Weiter:

„Die Menschheit sehnt sich in einer immer komplexeren Welt nach einfachen Lösungen. Ergebnis: Trump oder beim Schnee eben Snowcard, Stop or Go. Mag alles auch mal richtig sein. Dauerhafte Lösungen bieten solche verkürzten Sichtweisen kaum.“

Risikomanagement in allen Situation – auch in den Wintersportmonaten vor und nach Lageberichtsausgabezeitraum - mit wirklich guten Entscheidungen kann man nur mit einer massiv zeitaufwändigen Auseinandersetzung mit Theorie und vor allem der Umsetzung der Schnee- und Lawinenkunde betreiben. Die Zeit kann und vor allem will sich aber kaum jemand nehmen. Verständlich, Schnee und Brettlrutschen ist ja nur ein Teil des Lebens und nur bei den allerallerwenigsten der zentrale Teil. Außerdem: wer gern Pulver fährt, muss sich noch lange nicht für Schnee- und Lawinenkunde interessieren – die Korrelation ist hier nur mäßig ausgeprägt, nicht direkt proportional.

Wer nur am Wochenende unterwegs ist und sonst einer anderen Tätigkeit nachgeht oder sich um eine Familie kümmern muss, dem ist es gar nicht möglich, sich so intensiv mit der Theorie und dem Winter-/Wetterverlauf auseinanderzusetzen um damit anständig im Gelände arbeiten zu können. Wer viel unterwegs ist, dem bleibt fast nichts anderes übrig als selbsternannter Nivologe zu werden – in Verbindung mit defensivem Verhalten bei gewissen Situationen. Die einzige Kompensationsmöglichkeit: man greift mittels exakter Auffassungsgabe und gewissenhafter, praktischer Umsetzung auf die hervorragend aufbereiteten Informationen von jenen zurück, die sich damit 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr mit persönlicher Leidenschaft beschäftigen: Studeregger, Rastner, Konetschny, Schweizer, Reuter, Mair, Nairz oder wie auch immer sie heißen mögen.

Was macht man nun, wenn die Auslösewahrscheinlichkeit und Verbreitung der Gefahrenstellen sehr gering ist, wie beim immer noch vorherrschenden aber schon weitgehend abgeklungenen Altschneeproblem? Entweder hoffen, dass man eine solche Stelle nicht trifft, oder wissen, dass man eine solche Stelle nicht trifft, also woanders als oberhalb von 2200m, steil, Nord, wenig befahren, schneearm unterwegs sein.

Und was bringen die Gefahrenstufen?

Naja, auch ziemlich viel, jedoch nur für einen schnellen Überblick! Aber nur wenn man deren Definitionen kennt, man weiß, dass eine Gefahrenstufe ein Mittelwert über die Gesamtsituation in einem Gebiet für alle Expositionen und Geländeformationen darstellt. Eine Gefahrenstufe kann nämlich niemals für einen Hang oder ein kleines Gebiet festgelegt werden. Hänge in gewissen Expositionen sind beispielsweise gefährlich, Hänge in anderen Expositionen safe. Und das direkt nebeneinander und damit schwer begreifbar für die Art, wie unser Gehirn arbeitet. Sogar alpine Qualitätsmedien postulieren auf Facebook: "Bei mäßiger Lawinengefahr (Lawinenwarnstufe 2) und bestens ausgerüstet auf Tour - und dann in ein wahres Monster geraten. Die Berge bleiben unberechenbar, vor allem im Winter!" - Leute, hört auf primär in Gefahrenstufen zu denken, bitte. Für diesen Zweck sind sie nicht gemacht!

Das Kommunikationsproblem, zweiter Teil: Zwei ist nicht gleich Zwei, Drei ist nicht gleich Drei – ein Beispiel

Situation 1: Hochwinter, 30cm Neuschnee, kalt, mäßiger, in Kammlagen starker Nordwestwind, keine Schwachschichten im Altschnee. Die Gefahrenstufe wird aufgrund von frischem Triebschnee der vor allem in Leehängen (meistens Süd-, Südost- und Nordosthänge) sehr leicht zu stören ist, ausgegeben. Es gibt von der Anzahl her genug Gefahrenstellen und der frische, spröde Triebschnee in jenen ist so leicht auslösbar, dass die Situation exakt zur Definition der Gefahrenstufe passt. Am gefährlichsten ist es vor allem in Kammnähe und weit oben.

Situation 2: April, klassische Frühjahrssituation, gute nächtliche Ausstrahlung und oberflächliche Verfestigung. Die Gefahrenstufe Erheblich am Nachmittag herrscht aufgrund der tageszeitlichen Erwärmung. Zuerst wird es in Osthängen gefährlicher, ab dem späteren Vormittag ziehen Süd- und Westhänge nach. Nordhänge in tieferen Lagen eventuell auch. Zusätzlich gibt es spontane Lawinenaktivität. Am gefährlichsten ist es je nach Tageszeit in verschiedenen Expositionen und vor allem in tieferen Lagen. Die Definition der Gefahrenstufe passt hier auch am Nachmittag.

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Beide Situationen haben trotz entsprechen der Gefahrenstufe 3 nichts miteinander zu tun. Es ist jeweils in ganz anderen Bereichen gefährlich und teilweise genau dort sicher, wo es beim anderen „Dreier“ brandheiß ist. Diese räumliche Variabilität bezüglich Verteilung der Gefahrenstellen und die Variabilität in der benötigten Auslösebelastung ist am ausgeprägtesten bei Gefahrenstufe 2 und 3. Am geringsten ist die Variabilität bei Gering 1 ("es ist fast überall safe")  und Sehr groß 5 ("es ist überall sehr gefährlich") und nur schwach ausgeprägt bei Gefahrenstufe Groß 4 ("es ist fast überall sehr gefährlich").

Dazu ein Selbstversuch für jedermann: Jemanden zuerst bitten, nur den Textteil des Lageberichtes auszuschneiden, damit man selbst nur den Text lesen kann, ohne Farben oder Bilder. Aus dem Textteil sollen außerdem alle wörtlichen Umschreibungen der Gefahrenstufe entfernt werden. Man legt damit sein Tourenziel fest. Danach liest man den vollständigen Lagebericht mit Gefahrenstufe. Hat sich die so Tourenplanung geändert? Wenn ja, sollte man sich selbst in Frage stellen...

Merke: Höchste Priorität hat die Verbreitung und nötige Auslösebelastung der Gefahrenstellen. Die Gefahrenstufe ist nur eine Zusammenfassung der genannten Punkte, alleine bringt die Stufe gleich viel wie ein Tourenski ohne Felle – nur was auf der Piste.

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