Erst sobald wir die Ausgangsschichtung der Hochwinterschneedecke nicht mehr erkennen können, sondern eine recht einheitliche Masse aus Schmelzformen vorfinden, sprechen wir von der „klassischen Frühjahrssituation“. Die klassische Frühjahrssituation charakterisiert sich anhand einer durchgehend aus Schmelzformen bestehenden Schneedecke, wo die nächtliche Harschdeckelbildung, also eine oberflächliche Verfestigung, die Lawinengefahr bestimmt. Unter dem Harschdeckel findet man Sulz – also Schmelzformen mit hohem Wasseranteil - bis zum Boden. Bildet sich kein oberflächlicher Harschdeckel aus, spricht man von „Sumpf“.
Die Frühjahrssituation teilt sich also auf in einen ersten Teil, mit dem Gefahrenanstieg durch die erste Durchfeuchtung von alten Schichten, und in einen zweiten Teil, die klassische Situation.
Die isotherme Schneedecke
Der Begriff „isotherm“ beschreibt eigentlich eine vollkommen gleich temperierte Schneedecke, also gleich vorherrschende Temperatur von der ersten Schicht am Boden bis zur Schneeoberfläche. Das können theoretisch durchgehend -5°C, -11°C oder -2°C sein. In der Praxis wird eine Schneedecke allerdings nur als isotherm bezeichnet, wenn durchgehend 0°C vorherrschen, die Schneedecke also keine Temperaturreserve mehr aufweist. Das liegt zum einen daran, dass es aufgrund des Bodenwärmestroms normalerweise in Bodennähe keine Schneeschichten gibt, die wesentlich kälter als 0°C sind. Eine isotherme Schneedecke zu einem anderen Temperaturbereich außer 0°C ist also aufgrund der ohnehin bereits bis zu diesem Punkt erwärmten, bodennahen Schichten kaum möglich.
Übrig bleiben für den Begriff „isotherme Schneedecke“ die durchgängigen 0°C, also der Schmelzpunkt – hier kann die Schneedecke über lange Zeiträume (Wochen bis Monate) fast konstant verweilen. Bei einer weiterhin positiven Energiebilanz, also weiterem Zuführen von Wärme, schmilzt immer mehr Schnee. Da ein Schnee-/Wassergemisch nicht wärmer als 0°C werden kann, verharrt die Schneedecke bei dieser Temperatur bis sie weggeschmolzen ist. Es herrschen zwar ebenfalls Einflüsse von oben (Atmosphäre) und unten (Boden), die Temperatur ändert sich aber nicht mehr, lediglich der Wasseranteil und die Mächtigkeit, weil nur mehr Wärme zugeführt wird.
Der Wasseranteil (Liquid Water Content, LWC) kann etwa 15 Volumensprozent erreichen, danach beginnt das Wasser allerspätestens abzufließen, sich also vertikal wie horizontal bis zum Boden Bahnen zu suchen.
Nur bei nächtlicher Abstrahlung kühlen die maximal obersten 20cm wieder aus. Der Wasseranteil im nun vorhandenen Gemisch aus Eis und Wasser gefriert wieder und ein oberflächlicher Harschdeckel bildet sich. Dieser ist nur wenig kälter als 0°C. Ein Wetterumschwung kann nur mit sehr lang anhaltenden, kalten Temperaturen wieder ein vollständiges Durchfrieren der Schneedecke ermöglichen, oder gar die Temperaturreserve wieder „auffüllen“. In der Praxis passiert das kaum, da lang andauernde Kaltlufteinbrüche mit Temperaturen weit unter 0°C im Frühjahr kaum vorkommen. Außerdem kommt es dabei meist zuerst zu Neuschnee, bedingt durch die Kaltfront. Dieser frische Pulverschnee isoliert den Sulz darunter hervorragend. So kann die folgende, kalte Luft die durchnässte Altschneedecke nicht mehr abkühlen
Das Tauwetter
Unter „Tauwetter“ wird im Allgemeinen lediglich eine Wetterlage mit warmen Temperaturen verstanden, die zum Abtauen führt. In der Schnee- und Lawinenkunde versteht man darunter feucht-warmes „Schmudlwetter“. Je höher die Luftfeuchtigkeit, desto stärker kann die Schneedecke durchfeuchten, in weiterer Folge durchnässen und damit abschmelzen. Die tägliche Schneehöhenabnahme bei warmer Temperatur in Verbindung mit hoher Luftfeuchtigkeit ist um ein Vielfaches größer als bei warmer Temperatur aber trockener Luft. Gesellen sich dazu noch Regen und/oder bedeckte Nächte, kann man der Schneedecke beim Dahinraffen fast zuschauen. Beim Tauwetter arbeitet nicht nur die Lufttemperatur und die Sonnenstrahlung an der Schneeschmelze – die beiden tun sich mit einigen Komplizen zusammen: Der erhöhte Wärmeeintrag der diffusen Strahlung, der mangelnden Wärmeabstrahlung und damit Abkühlung der Oberfläche, der mangelnden Abkühlung durch schwache Verdunstung und Sublimation an der Oberfläche und mit der Zeit. Bei trockenem Hochdruckwetter ist die Energiebilanz der Schneedecke in der Nacht negativ, sie schmilzt nur am Tag weiter. Beim Tauwetter schmilzt die Schneedecke Tag und Nacht ununterbrochen 24 Stunden dahin.
„Die Harschdeckelakkumulation“ beim kühl-trockenen Hochdruckwetter
Nach einer weitgehenden Durchfeuchtung oder Durchnässung der Schneedecke in vielen Höhenlagen und Expositionen folgt eine kalte Schönwetterphase mit extrem trockener Luft. Die Energiebilanz der Schneedecke kann so in Summe aus Tag und Nacht negativ sein. Die Abstrahlung (die natürlich auch untertags stattfindet) ist durch die niedrige Luftfeuchtigkeit und den wolkenlosen Himmel ausgesprochen stark, dazu kommt ein hoher Anteil an Verdunstungskälte bzw. hoher Energieverlust durch starke Sublimation an der Oberfläche, ebenfalls bedingt durch die niedrige Luftfeuchtigkeit. Zusätzlich liegt die Lufttemperatur einige Grad unterhalb der Schneetemperatur, also unter 0°C. So reicht die zugeführte Strahlungsenergie der Sonne nicht aus, den vorhandenen Harschdeckel aus der Nacht vollständig aufzuweichen, da alle anderen Parameter in diesem Fall keine Erwärmung sondern eine Abkühlung der Schneedecke verursachen. Dieser Deckel wird Nacht für Nacht dicker und dicker, die feuchte Schneedecke friert also immer weiter in tiefere Schichten wieder durch. Die Temperaturreserve füllt sich langsam von oben nach unten wieder ganz schwach auf. So kann sich ein dutzende Zentimeter dicker Harschdeckel ausbilden - der trotz schönen Wetters nicht aufweicht und die Lawinengefahr damit untertags kaum mehr ansteigt.
Folgt auf eine solche Periode wieder „normales“ Frühlingswetter mit wärmerer, vor allem feuchterer Luft, oder einfach nur bewölktes Wetter mit diffuser Strahlung und mangelnder Abstrahlung, kann es ein paar Tage dauern, bis der sehr mächtige Harschdeckel wieder von oben nach unten vollständig durchfeuchtet wird und so wieder einen tageszeitlichen Anstieg der Lawinengefahr mit sich bringt.