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Schneegestöber

SchneeGestöber 21 2016/17 | Wissenswertes zur Frühjahrssituation

Die Lawinenlage in den Ostalpen steuert auf eine Frühjahrssituation hin

von Lukas Ruetz 23.03.2017
Die Durchfeuchtung und die nächtliche Abstrahlung wirdnun zum primär lawinenbildenden Faktor. Wie war das mit Temperaturreserve, ursprünglicher Schichtabfolge, Luftfeuchtigkeit und der Isothermie?

Die Temperaturreserve und die Frühjahrssituationen

Schnee schmilzt erst sobald er auf 0°C erwärmt wurde. Schneeschichten haben aber durch ihre variierende Ausgansgstemperatur beim Einschneien unterschiedliche Temperaturbereiche, also einfach gesagt: Kälte gespeichert. Folgen die ersten warmen Frühjahrstage, beginnt sich die Schneedecke von der Oberfläche her langsam zu erwärmen. Die Temperaturreserve wird also langsam aufgefüllt, der Schnee steuert auf 0°C zu. Das geht durch die hohe Isolationsleistung von Schnee in tieferen Schichten relativ langsam voran. Während die Oberfläche bereits stark durchfeuchtet ist, können tiefere Schichten noch Reserven von bspw. -10°C aufweisen.

Das erklärt, warum sich eine Frühjahrssituation aus Lawinensicht, also eine vollkommen durchnässte Schneedecke vom Boden bis zur Oberfläche, erst ausbilden muss und dafür etwas Zeit mit Wärmeeintrag benötigt. Das sind häufig die letzten Tage im März oder April, wo man ganztags auf Skitour gehen kann und nur einen sehr geringen bis nicht vorhandenen, tageszeitlichen Gefahrenanstieg aufgrund von Erwärmung beobachtet – obwohl man sich während der sportlichen Aktivität bereits wie in der Infrarotkabine fühlt.

Durch die bereits oberflächlich angefeuchtete Schneedecke kann sich zwar ein Harschdeckel an der Oberfläche bilden, dieser lagert jedoch auf einem noch „kalten“ oder nur ganz schwach durchfeuchteten Fundament. Bricht man durch einen solchen Deckel durch, hat das nichts mit dem Gefahrenanstieg bei einer „klassischen Frühjahrssituation“ zu tun.

Bevor sich diese klassische Frühjahrssituation jedoch einstellt, erlangen vorhandene, womöglich bereits wieder als „gutartig“ einzustufende (weil inzwischen wieder besser verbundene) Schwachschichten Relevanz. Das ist der erste Abschnitt der Gesamt-Lawinen-Frühjahrssituation: Der Gefahrenanstieg aufgrund von Schwächung vorhandener Schwachschichten durch ersten Feuchtigkeitseintrag. Damit werden die Bindungen zwischen den Kristallen wieder schwächer, die Auslösebereitschaft nimmt wieder zu. Die lawinenaktivste Zeit eines Winters ist neben Sturm- und Starkschneefällen meist die erste Durchfeuchtung der Schneedecke bis zum Boden und die damit einhergehende Schwächung alter Schwachschichten.

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Erst sobald wir die Ausgangsschichtung der Hochwinterschneedecke nicht mehr erkennen können, sondern eine recht einheitliche Masse aus Schmelzformen vorfinden, sprechen wir von der „klassischen Frühjahrssituation“. Die klassische Frühjahrssituation charakterisiert sich anhand einer durchgehend aus Schmelzformen bestehenden Schneedecke, wo die nächtliche Harschdeckelbildung, also eine oberflächliche Verfestigung, die Lawinengefahr bestimmt. Unter dem Harschdeckel findet man Sulz – also Schmelzformen mit hohem Wasseranteil - bis zum Boden. Bildet sich kein oberflächlicher Harschdeckel aus, spricht man von „Sumpf“.

Die Frühjahrssituation teilt sich also auf in einen ersten Teil, mit dem Gefahrenanstieg durch die erste Durchfeuchtung von alten Schichten, und in einen zweiten Teil, die klassische Situation.

Die isotherme Schneedecke

Der Begriff „isotherm“ beschreibt eigentlich eine vollkommen gleich temperierte Schneedecke, also gleich vorherrschende Temperatur von der ersten Schicht am Boden bis zur Schneeoberfläche. Das können theoretisch durchgehend -5°C, -11°C oder -2°C sein. In der Praxis wird eine Schneedecke allerdings nur als isotherm bezeichnet, wenn durchgehend 0°C vorherrschen, die Schneedecke also keine Temperaturreserve mehr aufweist. Das liegt zum einen daran, dass es aufgrund des Bodenwärmestroms normalerweise in Bodennähe keine Schneeschichten gibt, die wesentlich kälter als 0°C sind. Eine isotherme Schneedecke zu einem anderen Temperaturbereich außer 0°C ist also aufgrund der ohnehin bereits bis zu diesem Punkt erwärmten, bodennahen Schichten kaum möglich.

Übrig bleiben für den Begriff „isotherme Schneedecke“ die durchgängigen 0°C, also der Schmelzpunkt – hier kann die Schneedecke über lange Zeiträume (Wochen bis Monate) fast konstant verweilen. Bei einer weiterhin positiven Energiebilanz, also weiterem Zuführen von Wärme, schmilzt immer mehr Schnee. Da ein Schnee-/Wassergemisch nicht wärmer als 0°C werden kann, verharrt die Schneedecke bei dieser Temperatur bis sie weggeschmolzen ist. Es herrschen zwar ebenfalls Einflüsse von oben (Atmosphäre) und unten (Boden), die Temperatur ändert sich aber nicht mehr, lediglich der Wasseranteil und die Mächtigkeit, weil nur mehr Wärme zugeführt wird.

Der Wasseranteil (Liquid Water Content, LWC) kann etwa 15 Volumensprozent erreichen, danach beginnt das Wasser allerspätestens abzufließen, sich also vertikal wie horizontal bis zum Boden Bahnen zu suchen.

Nur bei nächtlicher Abstrahlung kühlen die maximal obersten 20cm wieder aus. Der Wasseranteil im nun vorhandenen Gemisch aus Eis und Wasser gefriert wieder und ein oberflächlicher Harschdeckel bildet sich. Dieser ist nur wenig kälter als 0°C. Ein Wetterumschwung kann nur mit sehr lang anhaltenden, kalten Temperaturen wieder ein vollständiges Durchfrieren der Schneedecke ermöglichen, oder gar die Temperaturreserve wieder „auffüllen“. In der Praxis passiert das kaum, da lang andauernde Kaltlufteinbrüche mit Temperaturen weit unter 0°C im Frühjahr kaum vorkommen. Außerdem kommt es dabei meist zuerst zu Neuschnee, bedingt durch die Kaltfront. Dieser frische Pulverschnee isoliert den Sulz darunter hervorragend. So kann die folgende, kalte Luft die durchnässte Altschneedecke nicht mehr abkühlen

Das Tauwetter

Unter „Tauwetter“ wird im Allgemeinen lediglich eine Wetterlage mit warmen Temperaturen verstanden, die zum Abtauen führt. In der Schnee- und Lawinenkunde versteht man darunter feucht-warmes „Schmudlwetter“. Je höher die Luftfeuchtigkeit, desto stärker kann die Schneedecke durchfeuchten, in weiterer Folge durchnässen und damit abschmelzen. Die tägliche Schneehöhenabnahme bei warmer Temperatur in Verbindung mit hoher Luftfeuchtigkeit ist um ein Vielfaches größer als bei warmer Temperatur aber trockener Luft. Gesellen sich dazu noch Regen und/oder bedeckte Nächte, kann man der Schneedecke beim Dahinraffen fast zuschauen. Beim Tauwetter arbeitet nicht nur die Lufttemperatur und die Sonnenstrahlung an der Schneeschmelze – die beiden tun sich mit einigen Komplizen zusammen: Der erhöhte Wärmeeintrag der diffusen Strahlung, der mangelnden Wärmeabstrahlung und damit Abkühlung der Oberfläche, der mangelnden Abkühlung durch schwache Verdunstung und Sublimation an der Oberfläche und mit der Zeit. Bei trockenem Hochdruckwetter ist die Energiebilanz der Schneedecke in der Nacht negativ, sie schmilzt nur am Tag weiter. Beim Tauwetter schmilzt die Schneedecke Tag und Nacht ununterbrochen 24 Stunden dahin.

„Die Harschdeckelakkumulation“ beim kühl-trockenen Hochdruckwetter

Nach einer weitgehenden Durchfeuchtung oder Durchnässung der Schneedecke in vielen Höhenlagen und Expositionen folgt eine kalte Schönwetterphase mit extrem trockener Luft. Die Energiebilanz der Schneedecke kann so in Summe aus Tag und Nacht negativ sein. Die Abstrahlung (die natürlich auch untertags stattfindet) ist durch die niedrige Luftfeuchtigkeit und den wolkenlosen Himmel ausgesprochen stark, dazu kommt ein hoher Anteil an Verdunstungskälte bzw. hoher Energieverlust durch starke Sublimation an der Oberfläche, ebenfalls bedingt durch die niedrige Luftfeuchtigkeit. Zusätzlich liegt die Lufttemperatur einige Grad unterhalb der Schneetemperatur, also unter 0°C. So reicht die zugeführte Strahlungsenergie der Sonne nicht aus, den vorhandenen Harschdeckel aus der Nacht vollständig aufzuweichen, da alle anderen Parameter in diesem Fall keine Erwärmung sondern eine Abkühlung der Schneedecke verursachen. Dieser Deckel wird Nacht für Nacht dicker und dicker, die feuchte Schneedecke friert also immer weiter in tiefere Schichten wieder durch. Die Temperaturreserve füllt sich langsam von oben nach unten wieder ganz schwach auf. So kann sich ein dutzende Zentimeter dicker Harschdeckel ausbilden - der trotz schönen Wetters nicht aufweicht und die Lawinengefahr damit untertags kaum mehr ansteigt.

Folgt auf eine solche Periode wieder „normales“ Frühlingswetter mit wärmerer, vor allem feuchterer Luft, oder einfach nur bewölktes Wetter mit diffuser Strahlung und mangelnder Abstrahlung, kann es ein paar Tage dauern, bis der sehr mächtige Harschdeckel wieder von oben nach unten vollständig durchfeuchtet wird und so wieder einen tageszeitlichen Anstieg der Lawinengefahr mit sich bringt.

Fallbeispiele

Kühl-trockenes Hochdruckwetter Ende April 2015

Auf eine klassische Frühjahrssituation mit einem starken tageszeitlichen Anstieg der Lawinengefahr folgten einige Tage ohne tageszeitlichen Gefahrenanstieg: Am Vormittag ist man bei kühlen Temperaturen und einer Luftfeuchtigkeit, die an Skitouren in den Zentralanden erinnert, auch in Südosthängen noch auf gefrorener Oberfläche runtergerattert. Am Nachmittag gab es besten Firn in steilen Südhängen. Durchbrechen konnte man ganztags nirgends. Der auf Sulz lagernde Harschdeckel wurde täglich um ein paar Zentimeter dicker und erreichte über 30cm Mächtigkeit.

Tauwetter Anfang April 2016

Am 1.4.2016 hielt die erste massive Erwärmung des Frühjahrs Einzug. Eine Woche lang herrschten sommerliche Bedingungen, die die spärliche Schneedecke in Verbindung mit feuchter Luft und bedeckten Nächten dahinraffen ließ. Die Schneequalität änderte sich am ersten April innerhalb von 24 Stunden von „Frühjahrsbedingungen mit tragendem Harschdeckel bei leichtem tageszeitlichen Gefahrenanstieg“ auf „Versumpfen bis Knie- oder Hüftbereich bis in Höhenlagen von 2500m“.

Harschdeckelbildung am Vormittag bei klassischer Frühjahrssituation des 23.3.2017 im Allgäu

In den Morgenstunden führte das Eintreffen von deutlich wärmeren, trockeneren Luftmassen zu einer raschen Abnahme der relativen Luftfeuchtigkeit, bei gleichzeitiger Temperaturzunahme. Trotz erster Sonnenstrahlen und ansteigender Temperatur konnte die Schneedecke in kurzer Zeit während des Morgens noch tragfähig verharschen. Beim Aufstieg gab es Bruchharsch auf Sumpf, bei der Abfahrt hat der Deckel dann knapp getragen. Danke an Kristian Rath für die Schilderung dieses Beispiels.

Merke: Die Luftfeuchtigkeit übt einen gleich großen Einfluss aus wie die Temperatur, da sie die Ein- und Abstrahlung stark beeinflusst. Im Frühjahr muss nicht zwingend eine Lawinenfrühjahrssituation mit einem ausgeprägten, tageszeitlichen Gefahrenanstieg herrschen.

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