Ich fahre im Spätwinter vom sommerlichen Innsbruck nach Zermatt. Dort soll es unendlich viel Schnee geben diese Saison. Lange, einsame Autofahrten sind toll. Zumindest finde ich das. Sie sind meist von einer ausführlichen Gedankenreise geprägt. Ich freue mich dadurch auf die Fahrt gleichsam wie auf die bevorstehenden Skitouren und verlasse Innsbruck gegen Westen. Am Arlberg, ich bin bereits in die Nordwand des Lyskamm verträumt, höre ich ein Interview im Radio über einen Lawinenunfall mit tödlichem Ausgang. Aus dem Lautsprecher ertönt folgendes: „Die Beteiligten waren bei Lawinenwarnstufe 3 in einem Hang steiler als 35° unterwegs, ein absolutes No-Go.“ Es reißt mich aus meinen noch steileren Firnträumen und befördert mich in eine andere Welt.
Jeder Zeit ihre Strömung, jeder Strömung ihr Fortschritt
Wie in der Wissenschaft und in der Kunst, gibt und gab es verschiedene Epochen und Strömungen auch in Bezug auf Schnee und wie Menschen mit ihm umgehen – auch das ist schließlich je nach Blickwinkel Wissenschaft und/oder Kunst. Teilweise existieren die Strömungen nebeneinander, teilweise gehen sie ineinander über. Jede einzelne hat Verbesserungen mit sich gebracht - beim Schnee am meisten das Aufkommen der wahrscheinlichkeitsbasierten Entscheidungsstrategien in den 1990ern. Seit 20 Jahren scheint diese Strömung aber festgefahren zu sein: Das gleiche System erfindet sich seitdem immer wieder von selbst neu – ohne grundlegende Änderungen, zielt am Menschen selbst vorbei und verbessert die Entscheidungsqualität im Gelände nicht mehr weiter. Doch schauen wir uns die Geschichte der Lawinenprävention dazu kurz genauer an:
Die Antike der Schnee- & Lawinenkunde | Erste Hälfte des 20. Jahrhunderts
Als Skipionier Mathias Zdarsky im Jahr 1916 zum ersten Mal in Bezug auf die Schneedecke die Sublimation beschrieb, ahnte er sicher nicht, dass er den Grundstein für die Anwendung einer Wissenschaft legte, die heute Millionen von schneebegeisterten Brettlrutschern andauernd beeinflusst. Spätestens als Welzenbach und Paulcke um 1930 den Schwimmschnee und seine Zusammenhänge für die Aktivität im winterlichen Gebirge genauer unter die Lupe nahmen, wurde Wissen um die aufbauende Umwandlung, also die Bildung von Schwachschichten, salonfähig und konnte erstmals für die Praxis im Gelände umgesetzt werden. Man verstand grundlegend, was sich im Schnee tut und wofür man dieses Wissen anwenden konnte.
Das Mittelalter | Die Zeit vor Munter
Bis in die 1990er Jahre hat sich an der praktischen Umsetzung dieser Erkenntnisse nur wenig geändert, obwohl sich das physikalische Verständnis von Schnee und Lawinen kontinuierlich verbessert hat. Das System war träge, wenig innovativ und klammerte sich vor allem an das repräsentative Schneeprofil zur Einzelhangbeurteilung. Keine erfreuliche Entwicklung, wie man später feststellte. Doch das Mittelalter wurde Gott sei Dank auch irgendwann abgelöst.