Die erste Gruppe Spezialtouristen kommt uns bereits wenige Meter nach Verlassen des präparierten Skigebiets entgegen. Heute sei kein guter Tag für einen Gipfelversuch teilt uns der anführende Bergführer mit – während seine Klienten den mäßig geneigten Hang hinabtorkeln und versuchen nicht über ihre eigenen Füße zu stolpern. Sie tragen Steigeisen an den Wanderschuhen, haben einen Eispickel in der einen und einen "Po-Schneeflitzer" in der anderen Hand. Ohne Steigeisen geht es heute nicht, umdrehen sei sinnvoll, bekräftigt er in rudimentärem Englisch.
Es ist eine dieser Szenen, die typisch für den Tourismus in Südamerika ist: Atemberaubende Landschaften, die für den Bergsport prädestiniert sind. Andererseits werden die Versuche eine Art alpinen Massentourismus wie in Europa zu entwickeln, auf eine nahezu absurde Weise umgesetzt. Unsere Skitour auf den Vulkan Villarica genießen wir dennoch in vollen Zügen.
Pucon
Wir befinden uns in Pucon, eine Stadt im Süden Chiles in der Region Araucania. Pucon ist bekannt wegen seiner atemberaubenden Landschaft. Hoher Niederschlag und damit einhergehender Wasserreichtum und üppige Vegetation, eine Vielzahl an Thermalquellen, der malerische See Lago Villarica und natürlich der Stratovulkan Villarica. Mit 2840 m Höhe ragt er fast 2600 Meter aus der Landschaft hervor und besticht durch seine beinahe perfekte kegelförmige Vulkanform.
Durch die unschwierige Besteigung ist der Hausberg Pucons einer der Touristenmagneten Chiles. Ein Lieschen Müller versucht sich hier ebenso, wie komplett sportunerfahrene Südamerikaner. Kein Wunder, denn in den zahllosen „Guiding“-Agenturen in der Touristenmeile Pucons wird die Vulkanbesteigung als einfacher Halbtagsspaziergang verkauft. Für umgerechnet rund 40 Euro wird jedem versprochen, den Gipfel erreichen zu können - sollte er nur bereit sein wenige Dollares und etwa 6 Stunden seiner kostbaren Urlaubszeit zu opfern. Im Preis inklusive ist nicht nur „hochwertiges Guiding“ von selbst ausgebildeten und selbsternannten „Guias de Montana“, sondern auch die komplette Ausrüstung. Ein sicherlich unpassender Skieinteiler aus den 80er Jahren gibt’s ebenso wie Steigeisen und Eispickel. Und für die Abfahrt darf ein klassischer Popo-Schneeflitzer natürlich nicht fehlen. Immerhin, der Kegelvulkan ist nicht sonderlich steil. Selbst an der steilsten Stelle misst er keine 40° Steilheit und ist aus alpinistischer Sicht daher als einfach bis mittelschwer einzustufen. Dennoch können die Wetterbedingungen, insbesondere der oft starke Wind dem Bergsteiger schwer zusetzen. Kein Wunder, dass hier täglich mehrere Gruppen, in den Ferienzeiten sogar teilweise Hundertschaften die Besteigung in bester Lemminge-Manier versuchen und nur allzu oft an den 1600 Metern Höhenunterschied scheitern.
Der touristischen Vermarktung ungeachtet ist der Villarica ein toller Skitourenberg. Einfach zu erreichen über das gleichnamige Skigebiet mit den typischen Einrichtungen. Denn eine fahrbare Zufahrtsstraße oder gar ein erlaubter Zugang zu Bergen stellt in Südamerika oft keine Selbstverständlichkeit dar. Wer möchte kann sich den Zustieg gar mit den vorhandenen Liften vereinfachen. Die Tageskarte berechtigt zum Nutzen der zwei bis fünf geöffneten Lifte und kann auch nach der Skitour genutzt werden. Eine einfache Bergfahrt gibt es leider nur für den ersten Lift, der in Rekord-Zeitlupe die ersten 200 Höhenmeter erklimmt: Wer hier einigermaßen gut zu Fuß ist, kann locker die Geschwindigkeit dieses Lifts erreichen.
Aufstieg und Wind gratis
Insgesamt gilt es 1600 Höhenmeter ab dem Skigebietsparkplatz auf den Villarica zu bewältigen. Die Wegführung ist dabei denkbar einfach. Über die einzige Piste bis zur Bergstation des ersten roten Sessellifts geht es gemütlich los. Anschließend links auf dem Ziehweg zum orangenen Sessellift queren. Dieser ist im Hochwinter oft geschlossenen, und öffnet meist erst gegen Mitte August – wenn überhaupt. Eine Einzelfahrkarte für diesen Lift gibt es leider nicht. Allmählich steiler werdend, steigt man in unmittelbarer Liftnähe auf dem Rücken bis zur Bergstation (1800m). Anschließend geht’s weiter links (östlich) in einen Hang bis zu der gut sichtbaren einsamen Bergstation eines nicht fertiggestellten Lifts. Weiter geradeaus über einen breiten Hang und linkerhand des Piedra del Condor (markanter Felsriegel) haltend aufsteigen bis zum Sattel. Auf der Schulter, nun allmählich steiler werdend, steigt man weitere 300 Höhenmeter entlang und folgt schließlich, je nach Bedingungen nun linker (etwas steiler) oder rechterhand des Eis- bzw. Felsrückens immer in Richtung Bergspitze (Kraterrand). Nach einer kurzen steileren Stufe erreicht man binnen weniger Minuten nun den Kraterrand – und kann ins Auge des Vulkans blicken.
Unser erster Gipfelversuch klappt am Villarica gleich auf Anhieb. Durch die exponierte Lage des Kegelvulkans ist dies selbst für erfahrene Skitourengeher trotz der eher geringen Schwierigkeit keine Selbstverständlichkeit. Oft stürmt es, teilweise macht ein dicker Wolkenumhang eine Besteigung wenig einladend, oft regnet es und manchmal ist eine Besteigung gar wegen des starken Schwefelaustritts des aktiven Vulkans nicht zu empfehlen. Der letzte größere Ausbruch des Villaricas war im Jahr 1984, seitdem gab es nur einen kleinen Ausbruch. Die Tatsache, dass der nächste Ausbruch seit mehreren Jahren statistisch gesehen überfällig ist, erfahren wir glücklicherweise erst nach unserer Besteigung. Unser Hostelwirt Fernando jedenfalls weiß, wie es sich anfühlt, wenn es mal wirklich brenzlig wird. Im Sommer 2010 war er mit Freunden am Kraterrand, zückte seine Kamera für ein Gruppen-Gipfelbild und plötzlich schießt eine Lavafontäne aus dem Krater. Das unscharfe Bild mit den in Panik wegrennenden Freunden ziert stolz seine Unterkunft - „and then, you just run…“ schildert er uns sein Abenteuer plastisch. Meist sieht man zumindest nachts den rotglühenden Förderschlot, doch uns wird dieser Blick wegen des kurzen Schönwetterfenster leider nicht gegönnt.
Verbogene Harscheisen und Abfahrtsspaß
Mit großer Zuversicht auf eine seltene Pulverschnee-Skitour starten wir unsere erste Vulkanskitour. Moritz, Uwe und ich sind uns sicher, dass die weiße Fläche, die uns schon von Pucon aus anlächelt bis zum Krater hinauf weicher Schnee sein muss. Später erleben wir hautnah, dass wir uns da gewaltig geirrt haben. Die Idee das Gewicht der Steigeisen, Pickel und Harscheisen zu sparen und sie im Auto zu lassen, bereuen wir bereits, als uns die erste Gruppe Pauschalwanderer entgegenkommt. Statt Pulverschneeauflage finden wir eine gut ein bis zwei Zentimeter dicke Eis-Regenkruste vor. Noch weit vor Erreichen des Spitzkehrengeländes hat Uwe seine Harscheisen bereits mehrfach um seine Ski verbogen. Ich, leider auch gänzlich ohne Harscheisen, laufe schon länger mit Ski am Rucksack und schlage mühsam jeden einzelnen Schritt durch die Eiskruste, um im weichen Schnee darunter Halt zu finden. Der Eispanzer bietet trotz Vibramsohle nämlich einfach keinen Halt. Satte drei anstrengende und zermürbende Stunden brauchen wir für die ersten 600 Höhenmeter bis zur Bergstation des orangenen Lifts. Meine Motivation ist soweit auf dem Nullpunkt, dass mir nicht mal mehr der sagenhafte Weitblick gefällt. Moritz dagegen will es noch weiter versuchen. Alleine kann man ihn ja auch nicht ziehen lassen, also Kopfhörer in die Ohren, die Lieblingsmusik im Smartphone angeschaltet und fröhlich mitgesummt. So schleppt es sich bekanntlich leichter hinterher.
Und siehe da, kaum steigen wir wenige Meter weiter auf, wird die Eiskruste merklich dünner und sogar etwas weicher Schnee mischt sich darunter. Weitere 300 Höhenmeter später beschließen wir, es nun doch bis zum Gipfelkrater zu versuchen. Ein Bergführer scheint mit seiner Gruppe schon recht weit oben zu sein und hat eine angenehm begehbare Spur getreten. Stellenweise müssen wir zwar auf seinen mit Steigeisen geschlagenen Tritten etwas balancieren, irgendwie gelingt es uns aber ohne größere Probleme. In jedem Fall wäre ein Sturz zumindest nicht sonderlich gefährlich. Sicher würde man bei dem mäßig geneigten Hang viele Meter abrutschen ehe man zum Stehen kommt, allerdings herrscht keine Absturzgefahr in den weiten gleichmäßigen Schneeflächen.
Eine Vulkantour ohne Wind zählt nicht
Eine der wichtigsten Regeln beim Skitouren in Südamerika ist die, dass eine Skitour und insbesondere Vulkantour ohne Wind nicht zählt. Während man in den Alpen ab rund 50 Km/h Wind nicht mal über Skifahren nachdenkt, scheint dies in Chile und Argentinien irgendwie Grundvoraussetzung eines guten Skitages zu sein. Nach insgesamt fünf Stunden Dauerpeeling durch den erbarmungslosen Westwind erreichen wir den Kraterrand. Vorbei an den weiß-glänzenden Coliflores, eine besondere Eisstruktur, die durch die Luftfeuchte und den Wind oft an Vulkanen in Südamerika anzutreffen ist. Der Wind ist hier nun so stark, dass wir unsere Rucksäcke nicht in der Ebene ablegen können, ohne dass sie wegrollen. Daher können wir uns leider nicht wie gewünscht nah an den Kraterrand bewegen, um einen Blick ins Vulkaninnere zu werfen. Immerhin haben wir Glück mit den sonst oft intensiven Schwefelfahnen. Wir bemerken sie nur am Rande, andere Skitourengeher berichteten uns von tagelangem, schleimigem Auswurf aus ihren verklebten Lungen.
Die Abfahrt gestaltet sich nicht so schlecht wie befürchtet. Nach den ersten etwa hundert Meter auf der Coliflores-Kruste geht es mit etwas Umsicht doch recht gut und zügig bergab. Der Schnee ist durch die Sonneneinstrahlung etwas weicher geworden und fährt sich sehr gleichmäßig. Uwe und Moritz hören hier ganz brav auf meine fotografischen Wünsche, und lassen sich freundlicherweise zu einigen Fotoschwüngen in der rötlichen Wolkenstimung hinreißen.
Noch im Aufstieg hatten wir drei Tourenfahrer sich herunterwürgen sehen – die einzigen, die es an diesem Tag außer uns zum Gipfel schafften. Einer der drei ist uns besonders ins Auge gestochen. In sagenhaft unkontrollierter Stemmbogentechnik wurschtelt er sich irgendwie halbwegs sturzfrei den Hang hinab. Später im Hostel treffen wir zwei der drei Skifahrer auch in unserem Hostel wieder. Es stellt sich heraus, dass der dritte im Bunde, der mit der herausragend miserablen Skitechnik, ihr Guide war, der sie sicher hoch und wieder runter vom Vulkan bringen sollte.
Informationen
Anreise: Ab Pucon RN nach Westen, nach ca 2 Km (keine Markierung oder Wegweiser) links abbiegen. Straße bis zum Parkplatz des Skigebiets folgen.Liftticket: Tageskarte ca. 36 Euro, Einzelfahrt mit unterem Lift (Zeitersparnis ca. 20 Minuten, 200 HM) ca. 11 Euro.Sicherheitsinformationen:Livecam VillaricaAusrüstung: Komplette Skitourenausrüstung, zzgl. Steigeisen und 1 Pickel. Winddichte und warme Kleidung sind am oft sehr windigen Gipfel notwendig.Leihequipment: in Pucon in jedem zweiten Haus erhältlich. Meist niedrige Qualität und veraltet (insb. Kleidung und Skiausrüstung), vergleichsweise gut ausgestattet ist z.B. die französisch geführte Agentur Agua Aventura.Preise: Geführte Tour ab ca. 40 Euro. Guides entsprechen nicht europäischen Maßstäben. Gruppen sind oft mit absolut unfitten Anfängern überladen. Privatguide inklusive Skiausrüstung ab ca. 80 Euro.Besondere Gefahren: Oft eisig, oft sehr starker Wind, Vulkanerruptionen jederzeit möglichSchwierigkeit: Einfache bis mittelschwere Skitour, oft eisige Verhältnisse. Steilheit um 35°Grad, im Gipfelbereich leicht darüber.Karte: Keine Topokarten erhältlich in Pucon. Den Kauf der Handgezeichneten Skizzen kann man sich getrost sparen.Zugang: Der Zugang zum Vulkan wird offiziell von Parkrangern kontrolliert und es ist ein Eintrittsgeld zu entrichten sowie gegebenenfalls die Ausrüstung vorzuzeigen. Unserer Erfahrung nach interessiert sich dafür zumindest im Winter niemand, da die Parkranger auf der Zufahrtsstrasse die Tourengeher von den Skigebietsfahrern nicht unterscheiden können oder wollen.Tipp: Wir empfehlen erfahrenen Alpinisten die Tour ohne Guide zu machen. Die Spur ist fast täglich frisch getreten und es werden keine besonderen Fähigkeiten benötigt.Sonstiges: Freeride-Guidung und Unterkunft www.chile-vida.cl