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Bergwissen

Welt der Wissenschaft | ISSW 2016 Teil 1

Was ist bei der weltgrößten Schnee- und Lawinenkundekonferenz passiert?

von Lea Hartl 17.12.2016
Der International Snow Science Workshop (ISSW) findet alle zwei Jahre statt, im Wechsel zwischen den USA, Kanada und Europa. Zuletzt war die ISSW im Oktober 2016 in Breckenridge, Colorado, zu Gast. Die ISSW ist die größte wissenschaftliche Konferenz zum Thema Schnee und Lawinen und bietet Schneeforschern verschiedener Disziplinen die Gelegenheit für ein Stelldichein. Wir schauen uns in den nächsten Wochen genauer an, was für Erkenntnisse dort präsentiert wurden. Den Anfang machen einige News zu den Themen Modellketten, Bruchmechanik und Lawinendetektion.

Im Gegensatz zu manch anderer Konferenz finden bei der ISSW auch interessierte Laien den ein oder anderen spannenden und verständlichen Vortrag. Einerseits geht es viel um hoch-technische Themen wie Lawinendynamik, Schneedeckenmodellierung und Messtechnik, andererseits kommt zunehmend auch die wintersportliche Praxis zur Sprache. Im Folgenden fassen wir ein paar neue Erkenntnisse der eher technischen Sorte zusammen, den praxisnäheren Themen widmen wir uns in demnächst in separaten Artikeln. Vielen Dank an dieser Stelle an die Organisatoren des Innsbrucker Schneetisches, besonders an Christoph Mitterer und Sasha Bellaire, die bei der ISSW waren und uns von einigen interessanten Studien erzählt haben.

Modellketten

In der Lawinen- und Schneedeckenmodellierung kommen zunehmend Modellketten zum Einsatz. Das bedeutet, dass verschiedenartige Modelle zu einem großen Konstrukt zusammengeführt werden und nicht mehr nur einzeln vor sich hin rechnen.

Beispielsweise werden Wettermodelle an Schneedeckenmodelle gekoppelt, etwa um den „Liquid Water Content" (Flüssigwassergehalt, LWC) der Schneedecke besser vorhersagen zu können – ein wichtiger Faktor bei Nassschneelawinen. Bis dato wurde das Schneedeckenmodell SNOWPACK mit Wetterstationsdaten gefüttert, um den LWC zu berechnen. So ist aber naturgemäß maximal „Nowcasting" möglich – man sagt etwas vorher, das eigentlich schon passiert ist, beziehungsweise grade passiert. Füttert man das Schneedeckenmodell stattdessen mit hochaufgelösten Wetterprognosen, kann man entsprechend den LWC für die Zukunft vorhersagen. Ob und wie gut das funktioniert, haben Bellaire und seine Kollegen ausprobiert, mit vielversprechenden Ergebnissen, die vielleicht in Zukunft die Vorhersage von Nassschneelawinen erleichtern.

(Studie: Regional Forecasting of Wet Snow Avalanche Cycles: an Essential Tool for Avalanche Warning Services? Sascha Bellaire, Alec van Herwijnen, Christoph Mitterer, Nora Helbig, Tobias Jonas, Jürg Schweizer, Proceedings, International Snow Science Workshop, Breckenridge, Colorado, 2016)

 

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Ein weiteres Beispiel für das große Potential von Modellketten ist eine Studie zu operativer Lawinenwarnung für die Zufahrtsstraße einer Chilenischen Mine. Es geht hier darum, den Verantwortlichen eine fundierte Information darüber zu geben, ob und wann die Straße gesperrt werden muss. Es ist wichtig, dass sie ein Produkt bekommen, das intuitiv interpretierbar ist, auch von einem Büro in der Stadt aus. Dafür kommen drei Modelle zum Einsatz: Ein Schneedeckenmodell (auch hier wieder das Schweizer SNOWPACK), das die Stratigraphie berechnet, ein Zusatzmodul, welches das Ganze flächig für das Gelände vor Ort darstellt (Alpine 3D) und ein Lawinendynamikmodell, das überlegt, wohin sich die Lawine im Falle eines Abgangs bewegt und wie weit sie kommt (RAMMS). Diese Modellkette wurde bereits erfolgreich in Chile eingesetzt – damit wurde hier zum ersten Mal ein Schneedeckenmodell kombiniert mit einem Dynamikmodel für die operative Vorhersage genutzt.

(Studie: Coupling Operational Snowcover Simulations With Avalanche Dynamics Calculations to Assess Avalanche Danger in High Altitude Mining Operations, Cesar Vera, Nander Wever, Perry Bartelt, Proceedings, International Snow Science Workshop, Breckenridge, Colorado, 2016)

Bruchmechanik

Auch hier gibt es immer wieder neue Ansätze und Überlegungen. Jürg Schweizer hat für die ISSW den aktuellen Stand der Dinge zusammengefasst und ein konzeptionelles Modell vorgestellt. Eine Sequenz verschiedener bruchmechanischer Prozesse kommt beim Abgang einer Schneebrettlawine zu tragen: i) Bruchinitiierung in einer Schwachschicht (unter einer gebundenen Schicht) ii) Beginn der Bruchfortpflanzung iii) dynamische Bruchfortpflanzung in der Schwachschicht iv) Zugbruch. In den letzten Jahren hat sich bezüglich Verständnis der Bruchmechanik von Lawinen viel getan, unter anderem dank der Verbreitung des Propagation Saw Tests (PST) für Felderhebungen, der Entwicklung eines neuen Buchmodells (Anti-Crack Modell) und den daraus entstandenen Diskussionen, sowie verbesserten Messtechniken und Fortschritten bei der numerischen Modellierung. Schweizer betont jedoch, dass es noch viele offene Fragen gibt.

(Studie: Avalanche Release 101, Jürg Schweizer, Benjamin Reuter, Alec van Herwijnen, Johan Gaume, Proceedings, International Snow Science Workshop, Breckenridge, Colorado, 2016)

Eine weitere Studie befasst sich näher mit dem Anti-Crack Modell und der hier bislang schwierigen Vereinbarkeit von Theorie und Praxis. Im Gegensatz zur klassischen Idee des Scherbruchs kann die Anti-Crack Theorie den flächigen Kollaps der Schwachschicht (und damit die Mechanik von Fernauslösungen) schlüssig erklären. Jedoch geht aus der Theorie auch hervor, dass die Hangneigung für die Bruchfortpflanzung keine wesentliche Rolle spielt, was sich nicht so recht mit Beobachtungen deckt. In einem neuen Ansatz wird nun die Elastizität der Schneedecke über der Schwachschicht mit einbezogen. Daraus ergibt sich eine neue Art der Berechnung der critical length for the onset of crack propagation. Diese Größe misst, wie lang der initiale Bruch sein muss, damit es zu einer Bruchfortpflanzung kommt. Es handelt sich um jene Distanz, die man bei einem PST mit der Schneesäge in die Schwachschicht fährt, bis es zum Bruch kommt. Mit dieser Methode bewegt sich die Abhängigkeit der critical length von der Hangneigung zwischen dem reinen Schermodell (je steiler, desto weniger weit muss man beim PST für einen Bruch schneiden) und dem Anti-Crack Modell (wie weit man beim PST schneiden muss, ist mehr oder weniger unabhängig von der Hangneigung).

(Studie: Critical Length for the Onset of Crack Propagation in Snow: Reconciling Shear and Collapse, Johan Gaume, Alec van Herwijnen, Guillaume Chambon, Nander Wever, Jürg Schweizer, Proceedings, International Snow Science Workshop, Breckenridge, Colorado, 2016)

Lawinendetektion

Eine Studie aus Norwegen befasst sich mit einer Gleitschneelawine, die jedes Jahr an der gleichen Stelle oberhalb einer Straße abgeht. Die Straße sollte natürlich gesperrt sein, wenn die Lawine abgeht, aber man möchte sie auch nicht wochenlang schließen, weil die Lawine vielleicht abgehen könnte. Deformationen von Felswänden werden häufig mittels Radar vermessen. Diese Technik wurde auch für das Norwegische Gleitschneemaul verwendet. Das Radar sieht, wie schnell der Gleitschneeriss aufgeht und zwar im Gegensatz zu normalen Kameras auch wenn es dunkel oder neblig ist. Vor dem Abgang verändert sich das Gleitschneemaul immer schneller und das Radar misst diese Bewegung. Anhand dieser Beschleunigungsphase könnte sich kurz vorher vorhersagen lassen, dass die Gleitschneelawine bald ab geht (und man kann die Straße sperren).

(Studie: Use of Ground Based INSAR Radar to Monitor Glide Avalanches, Ingrid Skrede, Lene Kristensen, Carlo Rivolta, Proceedings, International Snow Science Workshop, Breckenridge, Colorado, 2016)

Ein anderes Radarsystem kam in der Schweiz zum Einsatz, an der Zufahrtsstraße nach Zermatt. Hier beobachten zwei Doppler-Radargeräte den Hang oberhalb der Straße. Wenn sie Bewegung im Hang (Lawine!) feststellen, schalten an das System gekoppelte Ampeln an der Straße links und rechts des Lawinenstrichs auf rot. Alle abgegangenen Lawinen wurden so detektiert, es gab allerdings hin und wieder Fehlalarme (z.B. wenn Hubschrauber durchs Bild fliegen, was in Zermatt öfter passiert). Die Beobachter vor Ort sind gut auf das System eingestellt und kontrollieren innerhalb weniger Minuten, ob tatsächlich eine Lawine abgegangen ist. Wenn nicht stellen sie die Ampeln wieder auf grün. Dieses System wurde 2010 zum ersten Mal vorgestellt und konnte im vergangenen Winter bereits erfolgreich im operativen Betrieb genutzt werden – eine sehr zügige Entwicklung von der Idee zur Fertigstellung.

(Studie: Real-time Avalanche Detection with long-range, wide-angle radars for road safety in Zermatt, Switzerland, Lorenz Meier, Mylène Jacquemart, Bernhard Blattmann, and Bernhard Arnold, Proceedings, International Snow Science Workshop, Breckenridge, Colorado, 2016)

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Natürlich sind nicht nur einzelne Lawinenstriche oder Gleitschneemäuler von Interesse, sondern auch die Verteilung von Lawinen über größere Regionen. Auch hier eignen sich Radaraufnahmen, allerdings muss sie ein Satellit machen. Anhand der frei verfügbaren Sentinel Daten wurden in zwei Wintern jeweils über 700 Lawinen im Bereich Tamokdalen, Norwegen, identifiziert. Daraus können Informationen darüber gewonnen werden, welche Lawinenstriche wie oft und wann abgehen. Zudem sind solch flächige Daten wichtig, um beispielsweise ausgegebene Lawinenwarnstufen oder modellierte Stabilitätsindizes zu verifizieren.

(Studie: Snow avalanche activity monitoring from space: creating a complete avalanche activity dataset for a Norwegian forecasting region. Markus Eckerstorfer, Hannah Vickers and Eirik Malnes, Proceedings, International Snow Science Workshop, Breckenridge, Colorado, 2016)

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