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Powdern mit der Lawinenkommission

Auf Tour mit den Arlberger Lawinensprengern

von Tobias Kurzeder • 14.11.2008
Neuschnee am Arlberg, blauer Himmel, klirrende Kälte. Letzte Eiskristalle schweben glitzernd in der Morgensonne zu Boden. Selbst die schroffen Felsgipfel oberhalb St. Antons sind dick eingezuckert. Ein Traumtag für Wintersportler, besonders für die Tiefschneefahrer und Freerider. An die hundert von ihnen drängen in die erste Gondel, die die pulverschnee-hungrigen Sportler ins Skigebiet bringt. Angespannte Atmosphäre.

Neuschnee am Arlberg, blauer Himmel, klirrende Kälte. Letzte Eiskristalle schweben glitzernd in der Morgensonne zu Boden. Selbst die schroffen Felsgipfel oberhalb St. Antons sind dick eingezuckert. Ein Traumtag für Wintersportler, besonders für die Tiefschneefahrer und Freerider. An die hundert von ihnen drängen in die erste Gondel, die die pulverschnee-hungrigen Sportler ins Skigebiet bringt. Angespannte Atmosphäre.

Lawinen-Verschütteten-Suchgeräte werden angelegt, vereinzeltes nervöses Gelächter. Auffallend viele Fremdsprachen: Skandinavische Klänge vermischen sich mit den Englisch-Akzenten verschiedenster Erdteile: Neuseeland, Oxford-, US-Westküsten-Slang. Dazwischen auch Deutsch, sogar Österreichisch. Für die präparierten Pisten scheint sich keiner zu interessieren.

Nur wenige Gebiete können in Sachen Tiefschnee und weitläufigem Freeride-Gelände mit der Arlbergregion mithalten. Und das hat sich herumgesprochen: Immer mehr Wintersportler tummeln sich im grenzenlosen Pulverschnee. Jeder der Tiefschneefahrer hat schon von Lawinenunfällen gehört, manche haben selbst Lawinenabgänge erlebt. Doch davon lässt sich fast keiner abschrecken. Der Trend geht zu Abfahrten im immer extremeren Gelände. Verständlicherweise stellt diese Entwicklung den Sicherheitsverantwortlichen der Skigebiete Probleme. Obwohl sie eigentlich für die Sicherheit der geöffneten Pisten und Routen verantwortlich sind, bleibt ihnen aufgrund der großen Anzahl von Tiefschneefahrern nichts anderes übrig, als das Freeride-Gelände – so gut es eben geht – ebenfalls zu sichern. Neben den nur schwer durchsetzbaren Sperrungen bleibt den Mitarbeitern der Lawinenkommission nur die Möglichkeit, Gefahrenstellen vor dem Eintreffen der Sportler, durch Absprengen von Lawinen unschädlich zu machen. Ein harter Job.
Ich treffe die Männer der Lawinenkommission in der Bergstation der Galzig-Bahn. Wir fahren mit der für das Publikum gesperrten Valuga-Bahn hinauf. Ich sehe einige sehr verlockende Variantenabfahrten, aber zum Tiefschneefahren sind wir nicht hier ?
Oben angekommen erklärt Tobias Hafele, der stellvertretende Leiter der Kommission, wie die Lawinensprengseilbahn funktioniert. Mit ihr wird an einem Drahtseil eine Sprengladung in den Lawinenhang gebracht und gezündet. Ich spüre die Druckwelle der Explosion im ganzen Körper. Dann wird noch, per Computersteuerung, die Gas-Kanone gezündet. Lange noch klirrt der Knall in den Ohren. Eigentlich sollten wir noch zur Valuga-Spitze hinauf, doch sind die Wetterbedingungen dermaßen schlecht, dass die Sprengung auf den nächsten Tag verschoben wird. Das Wetter ist föhnig und mild, doch der starke Wind lässt mich frösteln. Es beginnt leicht zu schneien. Bei einem Glas Tee im verwaisten Bergrestaurant erzählen die "Sprengmeister" von ihrer Arbeit. Martin Klimmer, der Leiter der Lawinenkommission, verbringt den Sommer als Hirte auf einer Alm. Tobias und Hermann arbeiten auch im Sommer bei den Arlbergbahnen. Tobias erzählt lachend, er sei früher Ski-Bum gewesen. Heute ist für ihn das Skifahren nur noch Beruf.

Am nächsten Morgen fahren wir um 7:45 Uhr mit der Personal-Gondel hinauf.

Mit Hermann und dem Pistenkontrolleur Gerhard fahren wir erst zur Valuga und dann in der winzigen Gondel auf deren 2811 Meter hohe Spitze. Minimale Sicht, das Wetter ist schlecht: stĂĽrmisch und neblig. An eine Abfahrt ist nicht zu denken.
Wir steigen einen vereisten Grat ab. Dankbar greife ich nach dem Halteseil. Schnell erreichen wir die Stelle, wo die erste Sprengung gezündet wird. Zweieinhalb Kilo TNT-haltiger Sprengstoff werden zur Explosion gebracht. Die Lunte wird in die wurstförmige Sprengladung gesteckt – anschließend die Zündschnur zum Glimmen gebracht. Nach 25 Sekunden die Detonation. Damit die Trommelfelle nicht platzen, müssen die Ohren zugehalten werden. Der Explosionsdampf beißt in Nase und Lunge. Der Rauch nimmt mir den Atem. "Kopfweh-Rauch" sagen die Sprengmeister dazu. Wir steigen weiter über den Grat: noch an fünf weiteren Stellen werden Sprengladungen an einer Schnur direkt in den überwechteten Lawinenhang geworfen. Teils mit Erfolg; und kleinere Lawinen verschwinden im Nebel. Trotz der Kälte schwitze ich. Sprengen, Absteigen, Sprengen weiter absteigen, nochmals Sprengen. Eineinhalb Stunden später erreichen wir die Station der Valuga-Bahn. Das Gebäude ist verweist. Rund 4 Meter Schnee blockieren den Eingang. Durch ein Loch kriechen wir hinein.

In den letzten 10 Tagen fiel zweimal rund ein Meter Neuschnee. Noch immer sind Abfahrten gesperrt, die meisten Bahnen und Lifte bereits wieder geöffnet. Die Lawinengefahr ist zurückgegangen, die milde Luft hat zur Setzung und Entspannung der Schneedecke geführt. Noch ist die Situation kritisch. Auch mit vereinzelten Nassschneelawinen muss gerechnet werden. Mit Tobias begutachten wir einen Riss in einem sulzig durchfeuchteten Steilhang. Mit quer gestellten Ski schiebt er Schnee den Hang runter. Natürlich helfe ich gerne und mache das Selbe. Tonnen feuchter Neuschnee wälzen sich als träge Masse hinab.
Das Wetter ist sehr warm: Regen im Dorf, leichter Schneegriesel ab 1900 Meter Höhe. Der Neuschnee ist zusammengesackt, zu Sulz- und Pappschnee geworden. Wegen schlechtem Wetter werden heute keine weiteren Bahnen und Hänge mehr freigegeben. Das legendäre Schindlerkar und die meisten Varianten bleiben geschlossen. "An den Absperrungen kommt keiner vorbei, zumindest nicht ohne sie zu bemerken" meint Hermann "und wer dann doch fährt, der soll es halt tun". Da die Freerider permanent die Absperrungen missachten, ist man dazu übergegangen, Wintersportler, die gesperrte Hänge befahren von der Polizei abmahnen zu lassen: 150 Euro kann das gefährliche Tiefschnee-Vergnügen kosten. Besonders teuer wird es, wenn die Sicherheit anderer Wintersportler gefährdet wird. Nachdenklich erzählt uns Tobias, dass er, je mehr er über Lawinen weiß, immer vorsichtiger wird. "Beim Tourengehen weiß man nie, wie nah man am Lawinenunfall war – durch die Sprengungen kann man sich ein Bild davon machen, wie instabil die Schneedecke ist". Letztendlich bleibt die Lawinenbeurteilung eine Gleichung mit jeder Menge Unbekannter: Schnee ist ein extrem komplexer Stoff. Wenige Wochen nach unserem Besuch gerät Tobias Hafele bei Sicherungsarbeiten in eine Lawine, wird mitgerissen und dabei schwer verletzt.
Das Arlbergdorf St. Anton, auch "Stänten" genannt, ist ein Freeride-Dorado. Immer mehr Sportler kommen nicht wegen der erstklassigen Pisten, sondern wegen der Abfahrten im unberührten Pulverschnee: dem Arlberg-Powder. Und davon fällt hier dank der wetter-exponierten Lage des Gebirges jede Menge.
Die meisten Gäste können in zwei Gruppen eingeordnet werden: Wohlhabende Skifahrer mittleren Alters oder helmtragende Freerider mit dicken Rucksäcken. Skandinavier, Engländer, Neuseeländer, Schweizer und Deutsche, – Tiefschnee ist das, was sie suchen. Deshalb sind sie hier und viele verbringen die ganze Saison hier.

Am nächsten Morgen schneit es kräftig. Die Temperatur ist stark gesunken.

Im Tal sind 5-10 cm Neuschnee gefallen. Im Raum der Lawinenkommission findet die Lagebesprechung statt. Kaffeegeruch, dichter Zigaretten-Rauch und angestrengte, konzentrierte Gesichter. Die Mitglieder des Sicherungsdienstes dürfen sich keine Fehler erlauben. Die automatische Wetterstation auf der Valuga meldet 6 cm Neuschnee, ein Messfehler. Inzwischen steigt die Neuschneemenge auf deutlich über 20 cm. Neben den Mitgliedern der Lawinenkommission dürfen auch Mitarbeiter des Pisten-Diensts Lawinen sprengen. Zehn Männern rücken in Kleinteams aus. Die Rucksäcke sind mit Sprengstoff und Zündern bepackt. Zuerst wird der steile Nord-Osthang unterhalb des Galzigs durch eine Sprengung entschärft. Anschließend brechen wir erneut zur Valuga auf. Dort wird wieder die Gas-Kanone gezündet. Deren Explosionskraft entspricht sieben Kilo Sprengstoff. Propangas und Sauerstoff werden gemischt und durch einen Funken zur Explosion gebracht. Ein helles Zischen ertönt, wenn das Gas in das Rohr strömt. Die mächtige Explosion löst eine Lawine aus. Auch aus den benachbarten Couloirs fauchen Lawinen. Direkt im Anschluss wird das Gebiet freigegeben und die Gondel bringt Wintersportler hinauf. Der Rückweg als herrliche Tiefschneeabfahrt – Pulver- und Pappschnee satt. Ist die Arbeit bei der Lawinensicherung vielleicht doch ein Traumjob? Unterwegs stoppen wir am Sprengstoff-Bunker. Fünf Tonnen Sprengstoff dürfen dort eingelagert werden. Der Anblick des Explosivstoffvorrats lässt mich Frösteln.
Jede Sprengung wird in der Statistik vermerkt. Der Rekord der letzten Jahre war ein Februar-Tag 2000: 177 Sprengungen waren im Gebiet von St. Anton erforderlich, damit die Wintersportler möglichst gefahrlos Skifahren können.
Auf der Talfahrt komme ich mit drei Snowboard-Lehrern ins Gespräch. Auf die Frage, ob sie schon mal Lawinenerlebnisse hatten, wollen sie erst nicht antworten. Dann werden sie gesprächiger und sagen, dass wohl jeder der hier "Freerider" ist, schon mit Lawinen konfrontiert wurde. Einer von ihnen löste im letzten Jahr eine Lawine aus, die einen Skifahrer bis zum Hals verschüttet hat.

Nächster Tag: Bluebird

Über Nacht ist der Himmel aufklart und keine Wolke trübt den Sonnenaufgang. Tobias und die Anderen treffen wir um sieben Uhr an der Bahn. Mit laufenden Rotoren wartet bereits der Helikopter. Das Lawinensprengen aus der Luft hat den Vorteil, dass man auch abgelegene schwer zugängliche Gefahrenstellen sichern kann – und das Risiko selbst in eine Lawine zu geraten ist geringer. Zum Platzieren der Sprengladungen weist Tobias den Helikopter ein und Anton wirf die Sprengladungen aus der geöffneten Helikoptertüre in den Hang. Die Ladung detoniert und mehrere Lawinen rauschen aus den steilen Rinnen. Nach einer halben Stunde landet der Hubschrauber um Munition zu laden. Anschließend wird noch die Route "Matun" gesichert, sie soll später freigegeben werden.
Wieder geht es zur Valuga hinauf und von dort fahren wir in Richtung Matun-Tal ab. Hier muss noch eine Lawine abgesprengt werden. Und sie wird überraschend groß. Zuerst zerreißt die oberste Schneeschicht und 30 cm Schneedecke gleiten als Schneebrett ab. Die enorme Kraft reißt jedoch tiefere Schneeschichten mit, so dass die Lawine ziemlich groß wird. Tobias sprengt auf der Schindlerkar-Seite weitere Lawinen ab, damit die Abfahrt gefahrlos befahren werden kann. Doch in dem Moment, als er die Sprengladung in den Hang werfen möchte, fahren zwei Skifahrer und ein Snowboarder in den gesperrten Hang. Dabei kann die Ladung jeden Moment explodieren. Die Sprengmeister sind äußerst verärgert. Über Funk verständigen sie den Pistendienst. Der stoppt die Kamikaze-Tiefschneefahrer und nimmt ihre Liftkarten ab. Doch nur einen können sie aufhalten, die anderen flüchten. Jetzt werden die anderen Liftstationen informiert, um die beiden zu stoppen. Inzwischen ist aber das Hotel der Rowdies bekannt, wo man sie am Abend empfangen wird ?
Endlich, Tobias wedelt in bestem Skilehrerstil den Tiefschneehang hinab. Mitten im Skigebiet, aber wohin ich auch blicke, unverspurter Pulverschnee. Man könnte hunderte Spuren nebeneinander ziehen und es wäre immer noch genug übrig. Wir lassen die Bretter laufen – Schneefontänen schießen glitzernd in den Himmel. Auf der gegenüberliegenden Bergseite werden jetzt die Absperrzäune abgebaut und die wartenden Skifahrer und Snowboarder stürzen sich in die Tiefe. Ihr Verhalten kommt mir irrsinnig vor: Mindestens 50 Powder-Junkies fahren gleichzeitig den selben Hang. Zum Glück wurde hier alles gesprengt? ich will gar nicht weiterdenken! Innerhalb einer halben Stunde wird die unberührte Schneedecke zur zerfahrenen Freeride-Piste. Vereinzelt kommt es sogar zu Kollisionen zwischen den Tiefschneefahrenden.
Die Arbeit der Sprengmeister ist getan, zumindest vorerst. Ich habe noch Lust auf mehr Tiefschnee, doch es wird schnell schwierig unverspurtes Gelände zu finden. Abseits der Piste fahren wir in Richtung St. Christoph. Plötzlich sehe ich aus den Augenwinkeln eine "Wolke" heranrasen. Der Skifahrer oberhalb des Felsbandes hat ein mächtiges Schneebrett abgelöst. Das donnert nun über die Felsen – und wird zur Staublawine. 50 Meter entfernt haben fünf Snowboarder eine Rampe gebaut. Die Lawine donnert an ihnen vorbei. Ich flüchte in den Schutz einiger Felsen – und die Lawine schießt vorbei. Ich kann ihren Sog spüren?

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