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Welt der Wissenschaft | RĂĽckschau ISSW 2018: Lawinenvorhersage

Was tut sich in der Schneewissenschaft?

von Lea Hartl • 19.03.2020
Beim International Snow Science Workshop (ISSW) kommen alle zwei Jahre Wissenschaftler und Praktiker aus verschiedensten, aber immer schneebezogenen, Themenbereichen zusammen. Unterteilt in verschiedene Themenblöcke – sog. Sessions – werden neue Erkenntnisse und Forschungsergebnisse präsentiert. Wir untergliedern das Ganze nochmal in mehr oder weniger verdauliche Häppchen und fassen alle zwei Wochen Sessions der ISSW2018 für euch zusammen.

Diesmal: Avalanche Forecasting (Session 11)

In dieser Session geht es um die Vorhersage der Lawinensituation im operationellen Betrieb. Die Beiträge lassen sich grob in folgende thematische Untergruppen gliedern:

  • Datenbasierte Ansätze zum Schärfen von Definitionen.
  • Lokale vs. regionale Lawinenvorhersage und das ĂśberbrĂĽcken dieses Skalenunterschieds
  • Moderne technische Hilfsmittel fĂĽr die Warndienste

Wie ĂĽblich gehen wir der Reihe nach durch und fassen die Abstracts kurz zusammen.

    Datenbasierte Ansätze zum Schärfen schwammiger Definitionen, typische und untypische Muster

    Als skifahrende Nutzer von Lawinenwarnungen bzw. -vorhersagen sind wir die im Alpenraum üblichen, regionalen Lawinenlageberichte gewöhnt, die uns einen Überblick über die Situation in der Region – sei es ein Bundesland oder eine Gebirgsgruppe – geben. Als Wintersportler wissen wir natürlich, dass sich die Schneebedingungen oft kleinräumig stark unterscheiden und dass es daher häufig nicht so einfach ist, etwas allgemeingültiges über eine ganze Region zu sagen, auch wenn man nur dem Kumpel erzählen will, wie der Schnee momentan so ist. Die Warndienste müssen aber genau das tagtäglich tun. Für größtmögliche Konsistenz sorgen dabei die bekannte Gefahrenstufenskala, die Lawinenprobleme, und diverse weitere Formalismen, die sicher zu stellen, dass alle weitgehend vom gleichen reden und das gleiche verstehen. Andererseits lässt sich weder die Subjektivität der menschlichen Lawinenwarner/innen, noch jene der Nutzer/innen je völlig ausschalten. Die Gefahrenstufen der fünfteiligen europäischen Skala sind zwar anhand von Auslösewahrscheinlichkeit, Lawinengröße und Verbreitung von Gefahrenstellen definiert, aber bekanntlich bieten Wortwendungen wie „möglich“ und „wahrscheinlich“ durchaus Interpretationsspielraum.

    Ein SLF Team analysiert, bei welcher Gefahrenstufe wie viele Lawinen abgehen und wie groß sie sind, um Wörter wie "möglich" und "wahrscheinlich" besser zu quantifizieren. Die Häufigkeit von Spontanauslösungen nimmt mit der Gefahrenstufe stark zu (nicht-linear). Interessant erscheint vor allem, dass sich die Lawinengröße mit der Gefahrenstufe im Datensatz der Schweizer kaum ändert. Eine höhere Gefahrenstufe bedeutet mehr Lawinen, nicht unbedingt größere ( Quantifying the obvious: The avalanche danger level, Schweizer et al.). Anders sieht das aber offenbar in Colorado aus: Hier stellt man tendenziell eine Zunahme der Lawinengröße mit der Gefahrenstufe fest. Auch ist der Anstieg der Anzahl an beobachteten Lawinen mit der Gefahrenstufe mehr oder weniger linear. Die amerikanische Gefahrenstufenskala unterscheidet sich leicht von der europäischen, aber es ist nicht klar, ob die Unterschiede dadurch begründet sind (Patterns in avalanche events and regional scale avalanche forecasts in Colorado, USA, Logan and Greene).

    Wenn es viel schneit, gehen irgendwann Lawinen ab. Und im Frühjahr hängt das Timing von Nassschneelawinen mit dem Tagesgang der Temperatur zusammen. So weit, so offensichtlich. Diesen Zusammenhang datenbasiert zu quantifizieren und die zeitliche Abhängigkeit von Abgang und Wetterereignis näher zu definieren, ist dann aber schon wieder gar nicht so einfach. Eine weitere SLF Studie erläutert, dass Informationen von zunehmend verfügbaren, automatischen Lawinendetektionssystemen (Radar, Seismik) dabei helfen können, entsprechende Muster zu erkennen. Vor allem, weil sie mehr Abgänge bemerken, als menschliche Beobachter, die auf gute Sichtverhältnisse angewiesen sind. Nach einem Niederschlagsereignis kann es bis zu mehrere Tagen dauern, bis kausal mit dem Niederschlag zusammenhängende Lawinen abgehen. Bei Energieeintrag im Frühjahr und Nassschneelawinen dauert das meist nur einige Stunden. Je besser die Datengrundlage, desto besser erkennt man auch solche Muster und desto besser lassen sie sich in die Lawinenvorhersage integrieren (When do avalanches release: Investigating time scales in avalanche formation, van Herwijnen et al.).

    Wenn sich Wetter und Schnee mal nicht an bekannte Muster halten – egal ob diese nun statistisch erwiesen sind oder nur intuitiv verstanden wurden – wird es schwierig, die resultierenden Lawinen mit den auf die bekannten Muster abgestimmten Werkzeugen der Warndienste zu beschreiben.

    Ein Beitrag aus den USA analysiert beispielsweise ein intensives Niederschlagsereignis mit schwankender Schneefallgrenze, das bei schwacher Altschneedecke sowohl zu trockenen, als auch zu nassen Lawinen führte. Zum Teil gab es Mischformen, sowie einige große Abgänge, die – so vermuten die Autoren – als trockene Altschneelawinen anfingen und als Nassschneelawinen endeten. Sowas in ein paar Zeilen Vorhersagetext treffend auszudrücken, klappt dann nicht mehr so gut, insbesondere wenn die Situation auch für die Vorhersagenden neu ist (Forecasting for dry and wet avalanches during mixed rain and snow storm, Savage et al.).

    Auch das Sierra Avalanche Center (Kalifornien & Nevada) war mit einer ungewöhnlichen Situation konfrontiert und überlegt sich ein einem Sessionbeitrag, ob Graupel zu einem länger andauernden Altschneeproblem werden kann. Graupel kommt besonders in einem maritimem Klima recht häufig vor und in der Regel geht man davon aus, dass Schwachschichten aus Graupel relativ schnell wieder verschwinden. Im Winter 2017/18 gab es in einem regional begrenzten Teil des Vorhersagegebiets der Autoren aber eine eingeschneite Graupelschicht, die in einem Zeitraum von über einer Woche für Lawinenabgänge ausschlaggebend war. Die Autoren präsentieren Schneeprofile und Gedanken zum Wetterverlauf. Die ungewöhnlich hohe Anzahl an mit dem Graupel zusammenhängenden Lawinen wird auf ein Zusammenspiel aus Graupel und Schmelzkruste zurückgeführt, aber einige Fragen bleiben offen (Graupel as a persistent weak layer in a maritime climate, Reynaud).

    Lokal vs. regional

    Der regionale Lagebericht mit Gefahrenstufen und Informationen, die so allgemein wie nötig und so spezifisch wie möglich sind, ist also das Eine (und es sollte sich glücklich schätzen, wer einen bekommt). Die Einzelhangbeurteilung ist das Andere. Die lokale Situation kann stark von der im regionalen LLB beschriebenen abweichen. Deswegen liegt der LLB nicht falsch, das ergibt sich schlicht aus dem Skalenunterschied: 

    In Livigno wurde der Versuch unternommen, die regionale Gefahrenstufe des LLB mit Einzelhangbeurteilungen von Bergführern zu vergleichen und die Ergebnisse werden wohl viele an das eigene Vorgehen im Gelände erinnern: Die Guides notierten bei jedem befahrenen Hang, welche Gefahrenstufe sie für diesen Hang ausgeben würden. In der Regel lagen die Einzelhanggefahrenstufen bei 1 oder 2, auch bei höherer Stufe im LLB. Es wurden einfach nur Hänge befahren, die als vergleichsweise ungefährlich eingestuft wurden. Die Diskrepanz zwischen lokal und regional hängt also in erster Linie mit dem Gelände- und Gruppenmanagement vor Ort zusammen und nicht mit systematischen Unterschieden in der Gefahrenstufenbeurteilung (Regional versus local avalanche danger evaluation, Monti et al., kein extended Abstract).

    Abgesehen von der persönlichen Wintersportlerentscheidung, „fahre ich da jetzt rein oder nicht?“ ist lokale Lawinenwarnung überall da wichtig, wo es um einen bestimmten Hang oder Lawinenstrich geht, nicht um die ganze Region. Praktisch also beispielsweise für Lawinenkomissionen oder Skigebiete, die entscheiden müssen, ob eine bestimmte Straße oder Piste gesperrt wird. Im Gegensatz zu den methodisch zumindest theoretisch einheitlichen, regionalen Lawinenvorhersagen, gibt es bei der lokalen Variante erhebliche Unterschiede. Um diese als ersten Schritt zunächst mal grob zu erfassen, hat der EAWS einen Fragebogen an entsprechende Institutionen und Organisationen in Europa ausgesandt. Die meisten, aber nicht alle, Befragten produzieren ihre lokalen Einschätzungen auf Basis der regionalen LLBs, auch wenn die lokale Gefahrenstufe unter Umständen von der regionalen abweicht. Schneedeckenmodelle finden nur selten Anwendung im operationellen, lokalen Warnbetrieb. Zwischen den einzelnen EAWS Mitgliedsländern wie auch zwischen einzelnen Institutionen gibt es große Unterschiede, was die technischen, finanziellen und personellen Möglichkeiten angeht. Es werden wohl noch etliche weitere Fragebögen notwendig sein, damit ein europaweiter Überblick entsteht zum „Wer, was, warum und wie genau?“ der lokalen Lawinenwarnung (Local avalanche warning in Europe, Jaedicke et al.).

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    Das Gesamtbild mag noch etwas undurchsichtig sein, aber einzelne Fallstudien zeigen detailliert, wie es gehen kann: Am 19. Dezember 2015 traf eine Lawine die Ortschaft Longyearbyen auf Spitzbergen. 2 Personen kamen um und 12 Häuser wurden zerstört. 2017 erreichte erneut eine Lawine den Ort. Seit dem ersten Unglück wurde mit Hochdruck an einem lokalen Lawinenvorhersageprogramm und entsprechender Infrastruktur gearbeitet, insbesondere hinsichtlich Leitlinien für Evakuierungen. Spitzbergen liegt nördlich des Polarkreises. Im Winter ist es daher durchgehend dunkel und man ist auf automatisches Schneemonitoring und Wetterstationen angewiesen. Die automatischen Daten wurden mit Schneeprofilaufnahmen validiert und dienen als Input für ein Schneedeckenmodell. Da in Longyearbyen nur eine bestimmte Geländekammer den Ort gefährdet, handelt es sich bei diesem neu etablierten Programm nicht um eine regionale Lawinenvorhersage wie in den Alpen, sondern eben um ein praktisches Beispiel operationeller "Einzelhangbeurteilung" (Slope scale avalanche forecasting in the Arctic (Svalbard) Prokop et al.).

    Ein weiteres Beispiel für die Lawinenwarnung auf lokaler Skala präsentieren die Organisatoren eines Skitourenrennens in Italien. Von der Planung der Route und möglicher Ausweichrouten bis zum Rennen ist es ein weiter Weg, der in verschiedene Phasen unterteilt wird. Die Route wird einige Wochen vor dem Rennen anhand der Schneedeckenhistorie und des Geländes ausgewählt. Die Wetter- und Schneeentwicklung wird dann beobachtet und unter Umständen wird die Route angepasst. Auch während des Rennens wird laufend durch Experten beurteilt, ob und wie sich die Situation verändert. Außerdem sei unbedingt darauf zu achten, dass die Athleten funktionierende Sicherheitsausrüstung mitführen und dem Sicherheitsbriefing beiwohnen (Ski Alp Races: Avalanche Hazard evaluation and risk analysis, Raviglione et al.).

    Auf skigebietsweiter Skala wurde in einer französisch-georgischen Kooperation ein Lawinenwarnungskonzept für das Skigebiet in Tetnuldi entwickelt. Aufgrund fehlender Infrastruktur und finanzieller Mittel ist man hier auf vergleichsweise einfache Lösungen angewiesen. Da das Interesse am Tourengehen und Freeriden in der Region steigt, ist es für das Skigebiet dennoch wichtig, ein funktionierendes Sicherheits- bzw. Warnkonzept zu haben. In einem speziellen Trainingsprogramm wurde die Ski-Patrol vor Ort darin geschult, anhand einheitlicher Kriterien einen Lagebericht für das Skigebiet zu erstellen. Der Fokus liegt auf der Art des Lawinenproblems und der räumlichen Verteilung des Problems, also „was?“ und „wo?“. Man orientiert sich an in Europa und Nordamerika etablierten konzeptionellen Handlungshilfen wie dem Avaluator und der ATES Klassifikation und erstellt mittlerweile regelmäßige Bulletins. Die Autoren hoffen, dass ähnliche Programme auch in anderen Georgischen Skigebieten aufgebaut werden (Local avalanche danger assessment in reduced means context: An example in Tetnuldi (Georgia-Caucasus), Escande et al.).

    Technische Hilfsmittel

    Wie in vielen anderen Sessions wurden auch im Lawinenvorhersage-Themenblock diverse Apps, Webinterfaces und interaktive Datenmanagement Lösungen vorgestellt.

    Das bei der ISSW 2018 allgemein stark vertretene Projekt Albina, bzw. der grenzübergreifende Lawinen.Report für Tirol, Südtirol und Trentino erläutert in einem Beitrag beispielsweise Hintergründe zu Agile Software Development im Kontext von Albina (Project Albina: The technical framework for a consistent, cross-border and multilingual regional avalanche forecasting system, Lanzanasto et al.).

    Für die Südtiroler Lawinenkommissionen wurde ein Tool entwickelt, dass helfen soll, den Skalenunterschied zwischen regionalem LLB und lokalen Entscheidungen zu überbrücken. In einem Webinterface werden LLB und Wetterdaten erfasst - sowohl die Trends der letzten Tage als auch die Prognosen - und Kommissionsmitglieder können ergänzende Informationen eintragen. Als Output entsteht eine Art zusammenfassendes Dokument, das als pdf ausgegeben werden kann und einerseits bei der Entscheidungsfindung helfen, andererseits diese auch einheitlicher und nachvollziehbarer gestalten soll (Evaluation tool for avalanche commissions, Nadalet).

    Auch in Wyoming nutzt man die Möglichkeiten moderner Datenvisualisierung, um den Prognostikern die Arbeit zu erleichtern. Ein entsprechendes Webinterface erlaubt das interaktive Erkunden von Informationen aus unterschiedlichen, wetter- und schneebezogenen Datenquellen (Snowpack tracker: The development and application of a web-based visualization tool for avalanche and weather data, Comey et al.).

    Aus der Lombardei und dem Trentino kommt ein Beitrag, der ein in diesen Regionen vereinheitlichtes Vorgehen für das Sammeln von Informationen und die Profilaufnahme durch die Beobachter beschreibt. Auch hier werden die erhobenen Daten in eine WebGIS Plattform eingepflegt und so allen Beteiligten zugänglich gemacht (Touring snowpack observations, a tool for avalanche forecasting programs – the Italian experience, Berbenni et al.).

    Fazit

    Lässt man kommunikative Fragestellungen (wie präsentiere ich eine Lawinenprognose so, dass der Nutzer sie 1. bemerkt und 2. versteht?) außen vor, besteht die Herausforderung beim Vorhersagen der Entwicklung der Lawinensituation darin, hochkomplexe Vorgänge zu erfassen und dann aufs Wesentliche zu reduzieren. Was das Wesentliche ist, kann von der aktuellen Schnee- und Wettersituation abhängen, ebenso wie vom genauen Anwendungsbereich und der räumlichen und zeitlichen Skala, auf der man sich bewegt. Neue Möglichkeiten zur Datenerfassung und -dokumentation erleichtern den Warndiensten einiges. Schneedeckenmodelle sind fallweise hilfreich, aber bislang weit entfernt davon, menschliche Lawinenprognostiker/Innen ersetzen zu können. Eine möglichst gute Erfassung des Ist-Zustands und umfangreiches Prozesswissen in Kombination mit möglichst einheitlichen Kommunikationskonzepten und Definitionen (Gefahrenstufenskala, Lawinenprobleme, usw.) scheint entscheidend.

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