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Welt der Wissenschaft | Rückschau ISSW2018: Lawinenschutzmaßnahmen

Was tut sich in der Schneewissenschaft?

von Anselm Köhler 05.03.2020
Beim International Snow Science Workshop (ISSW) kommen alle zwei Jahre Wissenschaftler und Praktiker aus verschiedensten, aber immer schneebezogenen Themenbereichen zusammen. Unterteilt in verschiedene Themenblöcke – sog. Sessions – werden neue Erkenntnisse und Forschungsergebnisse präsentiert. Wir untergliedern das Ganze nochmal in mehr oder weniger verdauliche Häppchen und fassen alle zwei Wochen Sessions der ISSW2018 für euch zusammen.

Diesmal: Protection measures: Risk management and engineering solutions (Session 2)

Eine Session um Ingenieure und Wissenschaftler zu vereinen, um reale Schutzbauwerke in numerische Simulationen zu validieren, um aus Case Studies generelle Lösungen zu finden. Kurz, wieder ein exzellentes Beispiel wie Theorie und Praxis verbunden werden können. Die Themenbereiche der Session lassen sich in vier Kategorien grob zusammenfassen: Drücke und Kräfte der Schneedecke und Lawinen auf Schutzbauwerke, Konstruktion und Bauen von Schutzbauwerken im alpinen Gelände, Gefahrenzonenpläne und Validierung von Schutzbauwerken, und Schneeverfrachtung als Gefährdungsgrundlage für Lawinen und Beeinflussung von Sichtverhältnissen auf Verkehrswegen.

Drei dieser vier Themenblöcke handeln von Schutzbauwerken, also die bauliche Antwort der Ingenieure auf vorhandene Gefahren durch Schnee oder Lawinen. Bei Lawinen sind vor allem zwei Typen zu unterscheiden: Verbauungen im Anriss- und im Auslaufbereich. Beide Typen können weiter in je zwei Klassen untergliedert werden. Verwehungsverbauung als Maßnahmen gegen Schneeablagerung durch Wind in potenziellen Anbruchgebieten und Anbruchverbauung, die das spontane Loslösen von Lawinen verhindern sollen. Im Auslauf von Lawinen wird zwischen Auffang- bzw. Bremsverbauungen und Ablenk- bzw. Überleitungsbauwerken unterschieden. Beispiele dafür sind Auffangdämme, Bremshöcker und Lawinenbrecher, sowie Ablenkdämme, Lawinengalerien, Tunnel und Rohrbrücken.

Exkurs: Rohrbrücken sind durchaus interessante Bauwerke, werden respektive wurden aber selten gebaut. Ein prominentes Beispiel findet sich in der Rohrbrücke Großer Gröben, bei der ein Brücke relativ flach über einen lawinengefährdeten Tobel führt. Die Idee dahinter ist, dass die Strasse quasi durch einen künstlichen Tunnel fährt und somit von einer möglichen Staublawine nicht betroffen wird und es zu keiner Sperrung kommt (Rohrbrücke Großer Gröben).

Drücke und Kräfte

Bemessungsgrundlagen für viele, wenn nicht alle Schutzbauwerke sind Druck und Kraft, die auf die Strukturen einwirken. Entsprechend befassen sich ein großer Teil der Beiträge mit theoretischen Ableitungen der Kräfte, beziehungsweise mit deren Messungen. Zum einen gibt es die dynamischen Kräfte, die durch Lawinen auf Objekte im Lawinenpfad wirken. Zum anderen beschäftigen sich die Beiträge mit Schneelasten auf zum Beispiel Schneenetzen und -zäunen.

Beitrag P2.3 (Monitoring forces in steel wire rope nets: Evaluation of short and long term influences) untersucht die Schneelast auf die zwei etwas deplaziert wirkenden Schneenetze am Hafelekar bei der Einfahrt in die Direttissima. Allein durch Kriechbewegung der Schneedecke entstehen Kräfte bis zu 300 kN auf die bergseitigen Verankerungen – im Vergleich zu typischen Bruchlasten von Kletterausrüstung entspricht dies in etwa dem Zehnfachen. Statische Schneedrücke auf Stahlschneebrücken untersucht auch eine Gruppe aus Japan im Beitrag P2.12 (Changes in the snow pressure acting on snow bridges in the Hokkaido Region of Japan). Aufgrund der ordentlichen Mengen an Japow in der Gegend benötigen dortige Schneebrücken das anderthalbfache an Stützkraft verglichen mit den Richtlinien aus der Schweiz.

Statischer Druck aufgrund von der Last von meterhohen Lawinenablagerungen ist das Thema von Beitrag P2.14 (How reliable are design avalanche loads? A systematic approach to estimate their uncertainty). Die Autoren untersuchen mit einer Reihe von Lawinensimulationsläufen Drücke auf das Dach einer Lawinengalerie. Dabei wurden die Eingangsparameter für die Simulation (Anrissvolumen und Reibungsparameter) durch drei erfahrene Ingenieure abgeschätzt, um so die Unsicherheit der Bemessungsergebnisse abzubilden. Sie finden fast einen Faktor drei in den Schneedrücken zwischen den Experten…

Beitrag P2.5 (Everyday work of an avalanche engineer – focus on assessment criteria, avalanche loads on masts and buildings) beschäftigt sich mit dynamischen Drücken durch Lawinenabänge auf einen runden Mast. Ihre Ergebnisse zeigen, dass ein Keil in Richtung der Lawine die Drücke mindert – ähnlich etwa einem Schneeräumkeil an einer Lokomotive. Sie schlagen vor, in Zukunft Druckversuche mit solchen Keilen oder anderen Formen an der Front von Schneemobilen durchzuführen – Jemand Lust auf eine Masterarbeit?

Natürlich gibt es auch eine ganze Reihe an experimentellen Studien zu dynamischen Drücken von Lawinen – die meisten davon befinden sich jedoch in der Session für Lawinendynamik (siehe WdW: Lawinendynamik). Hier stellt ein französisches Forscherteam ihre Messeinrichtung und Datenauswertung im Testgelände bei Grenoble vor: P2.9: Fast versus slow avalanche impact dynamics: Insights from measurements at Lautaret pass avalanche test-site, France.

Konstruktion

Die Bemessung und Konstruktion von Schutzbauwerken ist eigentlich wie überall immer ein Abwägen zwischen Kosten und Nutzen: Für einen großen Nutzen werden die Bauwerke auf bis zu 300 jährige Ereignisse ausgelegt, jedoch mag das dann die Gemeinde auch nicht unbedingt zahlen. Wie oben erwähnt, können auch verschiedene Experten zu unterschiedlichen Bemessungsgrößen kommen.

Wie gewaltig dann solche Bauwerke aussehen können, zeigt Beitrag P2.7 (Lawinenbrecher in Osttirol) über einen Lawinenbrecher, der in einem Tobel oberhalb eines Dorfes errichtet wurde. Der Beitrag berichtet sehr detailliert über die Bemessung, die Konstruktion und die Ausführung. Ein ähnlicher Lawinenbrecher ist übrigens in der Mühlauer Klamm bei Innsbruck zu besichtigen.

Aus Neuseeland gibt es einen Beitrag P2.18 (Design and construction of an avalanche deflecting berm ...) über die Erweiterung eines Ablenkdamms zum Schutz einer kleinen Siedlung. Der ursprünglich 2 m hohe Damm wurde mit groben Steinen auf bis zu 10 m Höhe vergrößert.

Aus Spitzbergen kommt Beitrag P2.19 über die Errichtung von Schneezäunen und -brücken im Permafrost (The challenges of mitigation measures in Longyearbyen, Svalbard). Zwischen Sommer und Winter taut und friert eine bis zu 3m mächtige Schicht Permafrost, sodass die Fundamente der Verbauung 4m tief einzementiert werden müssen. Ebenso konnten solche tiefen Löcher nur im Winter, d.h. in der kalten Polarnacht, gebohrt werden.

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Gefahrenzonen

Gefahrenzonenpläne sind vor allem raumplanerische Mittel, um auf Landesebene einen Überblick über Lawinengefährdung zu behalten. Und ebenso sind sie auf Gemeindeebene Planungsgrundlage für Neu- und Umbauten. Zum Beispiel darf in der roten Zone gar nicht gebaut werden und in der blauen bzw. gelben nur unter Auflagen, wie z.B. Gebäude ohne bergseitige Fenster. Generell basieren solche Gefahrenzonenpläne auf historischen Lawinenereignissen, Experteneinschätzungen und auch Simulationen.

Beitrag O2.2 (Rezoning after installing avalanche mitigation measures: Case study of the Vallascia avalanche in Airolo, Switzerland) beschreibt die Erneuerung des Gefahrenzonenplans für die Gemeinde Airolo im Tessin. Nach mehreren großen Lawinenabgängen, unter anderem einer Galtür-ähnlichen Katastrophe 1951, wurde ab 1984 aufgerüstet und 2012 eines der größten Schweizer Verbauungsprojekte mit 10km Schneezäunen, 2 Auffangdämmen und 54ha Aufforstung fertig gestellt. Ernüchternd ist die Änderung des Gefahrenplans: Die neue rote Zone ist sogar größer als vor dem ehemaligen Plan, dessen Bemessungsgrundlage aufgrund fehlender Dokumentation nicht nachvollzogen werden kann (und das in der Schweiz!). Aufgrund neuer Erkenntnisse aus z.B. der Lawinensimulation kommt es laut Autoren häufiger zu solchen Fällen. Anstatt den neuen Zonenplan mit den alten Karten zu vergleichen, schlagen die Autoren vor, quasi erst ein Update des alten Plans ohne Berücksichtigung der Schutzbauwerke zu erstellen und dann erst die Schutzwirkung in diesem Plan einbringen. Aber auch mit diesem Kniff ist das Ergebnis von Airolo ernüchternd: Die rote Zone ist um etwa zwei Häuserreihen bergwärts gerutscht.

Zwei weitere Beiträge beschäftigen sich ebenso detailliert mit zwei Lawinenpfaden und der Effektivität der Schutzbauwerke: Beitrag P2.2 (Braking mounds in avalanche simulations – a samosAT case study) untersucht die Arzler Alm Lawine vom Januar 2018 anhand von Luftbildern, Massenbilanzen und detaillierten Simulationen. Beitrag O2.6 (Effectiveness of avalanche protection structures in run-out zones: The Taconnaz avalanche path case in France) simuliert unterschiedliche Lawinen-Szenarien mit Variation der Anrissvolumen und der Reibungsparameter. Nach wie vor sind vor allem die Simulationen bei trockenem und kohäsionslosem Schnee nützlich, jedoch versagen sie mehrheitlich an den niedrigen Geschwindigkeiten und speziellen Ablagerungseffekten von Nassschneelawinen.

Gerade wenn es sehr wenige historische Lawinenaufzeichnungen gibt, ist es sehr schwierig einen räumlichen Gefahrenplan zu erstellen. Beitrag P2.10 (Protection of high mountain huts against avalanche hazard: A case study at Pave Lake, French Alps) entwickelt dafür eine statistische Methode, mit der die Eingangsparamter für Lawinensimulationen flächig variiert werden, um so einen schnellen und generellen Überblick über mögliche sichere Standorte von Berghütten zu bekommen.

Schneeverfrachtung

Ohne Frage ist Schneeverfrachtung ein wichtiger Baustein beim Abschätzen von Lawinengefährdung. Ohne Wind würden sich keine Triebschneepakete in den potentiellen Lawinenhängen bilden. Dennoch wirken die Beiträge hier etwas deplatziert. Beitrag O2.1 (Wind transport scenarios based on the slope aspect for avalanche risk management purposes) beschreibt ein Interpolationstool, um grobe Windrichtung und Stärke, sowie mögliche Verfrachtung in Geländekammern aus Wettermodelldaten zu berechnen. Das Tool stellt somit eine nützliche Hilfe für die Arbeit der lokalen Lawinenkommissionen dar. Beitrag P2.4 (leider ohne schriftlichen Beitrag) beschreibt die Entwicklung eines Schneeverfrachtungssensors, welcher somit die perfekte Validierung von dem obigen Interpolationstool darstellt.

Zwei Beiträge aus Japan berichten über andere Probleme mit Schneeverfrachtung: Sichtbehinderung auf Fahrstraßen während Schneestürmen. Beitrag P2.6 (Research on sudden visibility impairment associated with gaps in snow fences) berichtet über Versuche zur optimalen Platzierung von Windzäunen, damit es nicht in deren Lücken zu einer Häufig von Sichtbehinderung und Unfällen kommt. Ebenso untersucht Beitrag P2.15 (Relationship between the growth management of trees in the highway snowbreak wood and their snowbreak effectiveness) den Einfluss von Bäumen auf die Verminderung von Schneeverfrachtung entlang von Strassen.

Fazit

Generell sind schneebedingte Naturgefahren je nach Hang, Lawinenpfad und Gefährdungspotential sehr unterschiedlich ausgeprägt. Entsprechende Maßnahmen aus raumplanerischen Strategien, wie zum Beispiel Gefahrenzonenplänen, temporären Massnahmen, wie Straßensperren oder situationsbedingten Lawinenauslösungen, bilden zusammen mit den konstruktiven Lawinenverbauungen den technischen Lawinenschutz. Zwar gibt es (länder-)spezifische Richtlinien für den gesamten Bereich des technischen Lawinenschutz,es jedoch werden immer wieder sehr spezielle Lösungen für einzelne Lawinenpfade entwickelt. Eben solche Einzellösungen sind es, die zu Änderungen und Aktualisierungen der Richtlinienkataloge führen und die stetige Weiterentwicklungen des technischen Lawinenschutzes ermöglichen.

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