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Beobachten und Beurteilen – Worauf kommt es an?

PowderGuide zu Besuch beim SLF

von Lea Hartl • 17.12.2017
Im Seminarraum eines Davoser Hotels sitzen etwa 60 Leute. Darunter BergfĂĽhrer, Sicherheitsbeauftragte von Gemeinden und Kantonen, Naturgefahrenexperten der Schweizer Bundesbahnen und Sprengmeister und Pistendienstmitarbeiter diverser Skigebiete. Lukas Duerr, Lawinenwarner am SLF, fragt in die Runde: "Was bedeutet eigentlich erhebliche Gefahr?"

Gemurmel. Geringe Zusatzbelastung, verbreitete Gefahrenstellen... Na, erheblich eben!

Duerr bittet alle, auf zu stehen und nach vorn zu kommen. Er verteilt Karteikarten mit Stichpunkten.

Es gibt 25 Karten, 5 für jede der 5 Gefahrenstufen. Auf den Karten stehen Satzfetzen und Schlagworte, wie sie im Bulletin verwendet werden, um die Gefahrenstufen zu beschreiben. Auf einigen Karten stehen Eckdaten zur Häufigkeit der Verwendung der unterschiedlichen Stufen, oder Verhaltensempfehlungen des SLF, wie sie ebenfalls im Bulletin auftauchen. Es sind also jene sprachlichen Wendungen, die das SLF nutzt, um die Gefahrenstufen einerseits zu kommunizieren, andererseits, zumindest teilweise, auch um zu bestimmen, welche Gefahrenstufe überhaupt herrscht.

Duerr bittet alle, die meinen, dass ihre Karte zu Stufe 1 passt, sich in die rechte Ecke des Raums zu stellen. Stufe 2 soll sich daneben aufstellen, Stufe 3 wiederum daneben und so weiter.

Für alle, die auch mitspielen wollen, haben wir das hier virtuell nachgestellt. Ergebnisse erscheinen, wenn man am Ende auf Submit drückt und dann auf "View results". 

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Die gemeinsame Sprache als Grundvoraussetzung der Lawinenwarnung

Anders als etwa in Österreich wird der Lawinenlagebericht für die gesamte Schweiz zentral in Davos erstellt. Die Lawinenwarner in Davos können sich zwar anhand von Wetterstationsdaten einen ungefähren Überblick über die Lage verschaffen, aber mindestens ebenso wichtig wie die automatischen Messungen sind die Einschätzungen und Rückmeldungen des menschlichen Beobachternetzwerks, welches das SLF in der gesamten Schweiz unterhält.

Es gibt verschiedene Arten von SLF Beobachtern, die unterschiedliche Daten generieren: die Flachfeldbeobachter messen täglich Neuschnee- und Schneehöhe, machen verschiedene Beobachtungen zur Einschätzung der Lawinengefahr und graben regelmäßig in abgesteckten Messfeldern in der Ebene Profile. Dabei geht es vor allem darum, wertvolle, lange Messzeitreihen fortzuführen. Zudem kann in Extremsituationen, wenn es nicht möglich ist, anderswo Schneedeckenuntersuchungen durchzuführen, immer noch auf die Flachfeldprofile zurückgegriffen werden.

Ausgewählte Bergführer melden ihre Beobachtungen aus dem Gelände über eine speziell dafür entwickelte App, mit der sie ihre Einschätzungen dem SLF mitteilen und sich untereinander austauschen können. Neben allgemeinen Beobachtungen, beispielsweise zu Gefahrenzeichen oder der Wetterentwicklung, nehmen die Beobachter Schichtprofile auf, führen Stabilitätstests durch und übermitteln eine Gefahreneinschätzung. Skigebietsangestellte und Lawinendienste melden ebenfalls Beobachtungen und Gefahreneinschätzungen aus ihren Regionen.

Besonders bei den Gefahreneinschätzungen ist es nicht so einfach, einerseits auszudrücken, was man genau sagen will und andererseits die Aussagen anderer Leute richtig zu interpretieren. Welche Stufe würde ich heute geben? Warum? Und, stimmt meine Einschätzung mit dem Bulletin überein? Wenn Beobachter A meldet, "heute ist es gefährlich", meint er damit unter Umständen etwas ganz anderes als Beobachter B.

In einer Studie der SLF Forscher Frank Techel und Jürg Schweizer wurden diese Unterschiede genauer analysiert: die Auswertung von 10 000 lokalen Gefahrenstufeneinschätzungen von SLF Beobachtern zeigt, dass sich die Beobachter in 22% der Fälle untereinander nicht einig sind, auch bei geringer räumlicher Entfernung. In 76% der Fälle stimmen die lokalen Gefahrenstufeneinschätzungen der Beobachter mit jener des Bulletins überein, wobei es deutliche Unterschiede zwischen einzelnen Beobachtern gibt – manche schätzen die Gefahr konsistent höher oder niedriger ein als andere. Auch zwischen verschiedenen Beobachtergruppen zeigen sich gewisse Unterschiede. So schätzen etwa Flachfeldbeobachter und Skigebietsangestellte die Gefahr tendenziell höher ein als Beobachter, die selbst im freien Skiraum unterwegs sind (Bergführer, SLF Angestellte).

Um solchen Unterschieden entgegenzuwirken, stehen die Teilnehmer des SLF Fortbildungskurses "Beobachten und Beurteilen“, allesamt Beobachter für das SLF, nun mit ihren Karteikarten im Seminarraum.

Manche begeben sich zielstrebig an ihren Platz, andere zögern, beraten sich, vergleichen die Karten und stellen sich dann zu einer der Gruppen. Am Ende stehen deutlich mehr Leute auf der linken Seite des Raums, bei den geringeren Gefahrenstufen. Zu Stufe 4 und 5 zugehörig fühlen sich nur wenige.

Kursleiter Lukas Duerr geht die Karten einzeln durch, bis sich die Gruppen richtig angeordnet haben und bei jeder Gefahrenstufe 5 Leute stehen. Die allgemeine Erkenntnis aus der Ăśbung ist: "Doch alles gar nicht so eindeutig, aber auf den zweiten Blick logisch."

Die Übung macht deutlich, wie wichtig ein einheitliches Verständnis der Gefahrenstufendefinitionen ist und unterstreicht Duerrs Bitte, Gefahreneinschätzungen immer auch möglichst detailliert zu begründen und dafür eine einheitliche Sprache zu finden. Aus "heute ist es gefährlich" wird "heute ist es gefährlicher als gestern, weil sich frischer Triebschnee gebildet hat. Folgende Alarmzeichen waren zu sehen..." Wer Gefahreneinschätzungen inklusive Gefahrenstufe abgibt, denkt vielleicht in Zukunft genauer nach über den Unterschied zwischen "typisch" und "häufig", oder den zwischen "Lawinen sind möglich" und "Lawinen sind zu erwarten".

SkifahrerVierer vs. VerkehrsVierer

Dass sich das Verständnis der Gefahrenstufen im Laufe der Zeit auch ändern kann, zeigt der nächste Tagesordnungspunkt. Duerr präsentiert eine Karte des Alpenraums, auf der zu sehen ist, wie oft in den unterschiedlichen Ländern und Warnregionen die Gefahrenstufe Groß zum Einsatz kommt. Die Schweiz erscheint als eine Art Insel. Vor allem in Frankreich wird Groß relativ oft vergeben, aber auch die meisten anderen Alpenländer nutzen die Stufe 4 erkennbar häufiger als die Schweiz.

Diese Unterschiede sind allein durch Unterschiede in der Schneedecke nicht zu erklären, sondern begründen sich eben in der unterschiedlichen Auffassung der Bedeutung der Stufe. Die Verwendung der Gefahrenstufe 4 wird bestimmt auch die Gruppe der EAWS (European Avalanche Warning Services) in nächster Zeit beschäftigen.

Ob und wie rasch es europaweit gelingt, die Gefahrenstufe 4 ähnlich zu verwenden, wird sich zeigen. Die Schweiz und das SLF jedenfalls unterscheiden seit dieser Saison mehr oder weniger explizit zwischen dem reinen "Verkehrsvierer", der die Gefährdung von Infrastruktur definitionsgemäß beinhalten muss, und dem "Skifahrervierer". Letzterer soll in Zukunft vergeben werden, wenn zwar nicht unbedingt Straßen und exponierte Gebäude gefährdet, wohl aber Skifahrer besonders betroffen sind. Das könnte beispielsweise der Fall sein, wenn die Auslösebereitschaft sehr hoch und die Gefahrenstellen sehr zahlreich sind, die Lawinen aber nicht groß genug werden, um Straßen oder Gebäude zu erreichen. Bisher wurde in solchen Fällen in der Schweiz die 3+, der dunkelorange Dreier, vergeben.

In der Sprache der Karteikarten betrifft die Änderung Situationen, in denen "spontane Lawinen mittlerer Grösse typisch" sind, oder in denen "Fernauslösungen typisch sind und Personen sehr leicht kleine und mittlere Lawinen auslösen können, auch wenn die spontane Lawinenaktivität klein ist".

Vom Klassenzimmer in den Schnee

Am nächsten Morgen geht es in Kleingruppen nach draußen. Über Nacht hat es geschneit: was im Dorf für Postkartenwinteridylle sorgt, wurde am Weißfluhjoch kräftig verblasen. An windexponierten Geländekuppen ist kaum Schnee übrig, in Rinnen und Mulden im Lee dafür umso mehr. Für den Raum Davos wurde heute die Gefahrenstufe Mäßig ausgegeben, weiter im Süden hat es mehr geschneit und das Bulletin gibt einen Dreier.

Während eines kurzen Aufstiegs ermuntert Duerr uns, in die Gegend zu schauen und zu besprechen, was wir sehen. Er erklärt den frischen SLF Praktikanten und mir zwar auch die umliegenden Gipfel und beliebte Davoser Freerideabfahrten, aber eigentlich will er hören, was wir vom Schnee halten. Der Blick des Lawinenwarners bleibt nicht (oder, im Fall von Lawinenwarner/Bergführer/Skifahrer Duerr, nicht nur) an den schönen Lines in der Umgebung hängen, sondern an überschneiten und frischen Anrisskanten, Windgangeln und Dünen, Rauheis an Pistenbegrenzungspfosten, Gleitschneerissen in den steilen Südhängen und der Schmelzkruste, die der Wind wieder freigelegt hat.

Ob wir mit dem Zweier heute einverstanden sind? Hmmmm. War schon sehr windig, und der Neuschnee... Andererseits fehlen deutliche Alarmzeichen, daher wird das schon seine Richtigkeit haben.

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Wir machen uns auf die Suche nach einem geeigneten Profilstandort. Auch das ist gar nicht so einfach und wir diskutieren eine Weile, ob wir uns in einen relativ großen, eingewehten Hang hinein trauen. Irgendwann wird allen klar - wenn man so lange diskutieren muss, sollte man sich lieber nicht trauen. Gestern im "Klassenzimmer" wurde den Beobachtern eingebläut: Bitte möglichst überhaupt nicht verschüttet werden, aber schon gleich gar nicht beim Profilgraben für den Lawinenwarndienst. Solche Fälle gab es schon und die Bilder der Unfalllawinen haben wir noch eindrücklich im Kopf. Wir fahren einzeln ab und finden weiter unten eine bessere Stelle.

Nach der Aufnahme des Schichtprofils wird ein ECT gegraben. Beim 15. Schlag bricht der ganze Block. Der anschließende Rustchblock geht als Ganzes ab, als SLF Praktikant Dylan vorsichtig mit Ski von oben drauf steigt. Wir sind froh, dass wir uns gegen den größeren Hang weiter oben entschieden haben und doch nicht mehr so sicher, was den heutigen Zweier angeht.

Am Nachmittag vergleichen wir unsere Beobachtungen mit denen der anderen Gruppen. Außer uns hat nur eine Gruppe ihren Rutschblock überhaupt komplett auslösen können. Alle anderen hatten Teilbrüche oder gar kein Ergebnis. Für uns kommt das überraschend. Unser Rutschblock war doch eher unheimlich und danach hatten wir alle das Gefühl, dass wir lieber etwas vorsichtiger sein sollten, als wir es vielleicht wären, hätten wir nur den Zweier im Bulletin registriert. 

Zwingt man sich, dem eigenen, nicht so tollen, Rutschblock nicht mehr Bedeutung zuzumessen als in der Beurteilung einer ganzen Region angebracht und betrachtet alle Beobachtungen in Summe, ist schnell klar: Doch, der Zweier war schon in Ordnung. Unser Rutschblockergebnis und die der anderen passen zu den Karteikarten "Alarmzeichen können vereinzelt auftreten", und "Lawinen können vor allem in sehr steilen Hängen .... ausgelöst werden", beziehungsweise zur Definition der Stufe 2 nach Gefahrenstufenskala: "Die Schneedecke ist an einigen Steilhängen nur mäßig verfestigt, ansonsten allgemein gut verfestigt".

Für mich persönlich hat unser Rutschblockergebnis und die anschließenden Diskussionen in den Gruppen und mit den Kursleitern zu folgender Erkenntnis geführt: "können vereinzelt auftreten" und "an einigen Steilhängen nur mäßig verfestigt" sind reale Beschreibungen der Lage, die reale Konsequenzen haben können. Orientiert man sich an Munters Reduktionsmethode, ist das das Restrisiko, was man sich zwar kleinrechnen, aber nicht ganz abschaffen kann. Wenn uns das Restrisiko leibhaftig als ungünstiger Rutschblock oder gar als Lawine begegnet, finden wir (also, ich zumindest) das immer irgendwie überraschend - "so ein Ruschblock bei einem Zweier, das kann doch nicht sein!" Dabei ist das ganze System ja genau auf den Wahrscheinlichkeiten aufgebaut, die Formulierungen wie "vereinzelt" und "einige Steilhänge" beschreiben.

Es wird rasch klar: Weder eine einzelne Beobachtung, noch die Gefahrenstufe allein sind für eine Einzelhangbeurteilung ausreichend, besonders bei den Stufen Mäßig und Erheblich (bei Groß und Sehr Groß kommt man ja in der Regel gar nicht erst in die Verlegenheit). Zum Glück enthält das Lawinenbulletin mehr als nur die Gefahrenstufe! Dieses "Mehr" an Information erstens im morgendlichen Powderfieber wahrzunehmen, im Gelände mit allen möglichen Beobachtungen zu verifizieren und sich dann noch entsprechend zu verhalten, ist eine Herausforderung, die uns als Skifahrern kein Lawinenwarndienst der Welt abnehmen kann.

PowderGuide bedankt sich beim SLF und insbesondere bei Lukas Duerr für die Möglichkeit, am Fortbildungskurs "Beobachten und Beurteilen" teilzunehmen! Wir hoffen, wir dürfen irgendwann mal wieder vorbei schauen!

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