Die gemeinsame Sprache als Grundvoraussetzung der Lawinenwarnung
Anders als etwa in Österreich wird der Lawinenlagebericht für die gesamte Schweiz zentral in Davos erstellt. Die Lawinenwarner in Davos können sich zwar anhand von Wetterstationsdaten einen ungefähren Überblick über die Lage verschaffen, aber mindestens ebenso wichtig wie die automatischen Messungen sind die Einschätzungen und Rückmeldungen des menschlichen Beobachternetzwerks, welches das SLF in der gesamten Schweiz unterhält.
Es gibt verschiedene Arten von SLF Beobachtern, die unterschiedliche Daten generieren: die Flachfeldbeobachter messen täglich Neuschnee- und Schneehöhe, machen verschiedene Beobachtungen zur Einschätzung der Lawinengefahr und graben regelmäßig in abgesteckten Messfeldern in der Ebene Profile. Dabei geht es vor allem darum, wertvolle, lange Messzeitreihen fortzuführen. Zudem kann in Extremsituationen, wenn es nicht möglich ist, anderswo Schneedeckenuntersuchungen durchzuführen, immer noch auf die Flachfeldprofile zurückgegriffen werden.
Ausgewählte Bergführer melden ihre Beobachtungen aus dem Gelände über eine speziell dafür entwickelte App, mit der sie ihre Einschätzungen dem SLF mitteilen und sich untereinander austauschen können. Neben allgemeinen Beobachtungen, beispielsweise zu Gefahrenzeichen oder der Wetterentwicklung, nehmen die Beobachter Schichtprofile auf, führen Stabilitätstests durch und übermitteln eine Gefahreneinschätzung. Skigebietsangestellte und Lawinendienste melden ebenfalls Beobachtungen und Gefahreneinschätzungen aus ihren Regionen.
Besonders bei den Gefahreneinschätzungen ist es nicht so einfach, einerseits auszudrücken, was man genau sagen will und andererseits die Aussagen anderer Leute richtig zu interpretieren. Welche Stufe würde ich heute geben? Warum? Und, stimmt meine Einschätzung mit dem Bulletin überein? Wenn Beobachter A meldet, "heute ist es gefährlich", meint er damit unter Umständen etwas ganz anderes als Beobachter B.
In einer Studie der SLF Forscher Frank Techel und Jürg Schweizer wurden diese Unterschiede genauer analysiert: die Auswertung von 10 000 lokalen Gefahrenstufeneinschätzungen von SLF Beobachtern zeigt, dass sich die Beobachter in 22% der Fälle untereinander nicht einig sind, auch bei geringer räumlicher Entfernung. In 76% der Fälle stimmen die lokalen Gefahrenstufeneinschätzungen der Beobachter mit jener des Bulletins überein, wobei es deutliche Unterschiede zwischen einzelnen Beobachtern gibt – manche schätzen die Gefahr konsistent höher oder niedriger ein als andere. Auch zwischen verschiedenen Beobachtergruppen zeigen sich gewisse Unterschiede. So schätzen etwa Flachfeldbeobachter und Skigebietsangestellte die Gefahr tendenziell höher ein als Beobachter, die selbst im freien Skiraum unterwegs sind (Bergführer, SLF Angestellte).
Um solchen Unterschieden entgegenzuwirken, stehen die Teilnehmer des SLF Fortbildungskurses "Beobachten und Beurteilen“, allesamt Beobachter für das SLF, nun mit ihren Karteikarten im Seminarraum.
Manche begeben sich zielstrebig an ihren Platz, andere zögern, beraten sich, vergleichen die Karten und stellen sich dann zu einer der Gruppen. Am Ende stehen deutlich mehr Leute auf der linken Seite des Raums, bei den geringeren Gefahrenstufen. Zu Stufe 4 und 5 zugehörig fühlen sich nur wenige.
Kursleiter Lukas Duerr geht die Karten einzeln durch, bis sich die Gruppen richtig angeordnet haben und bei jeder Gefahrenstufe 5 Leute stehen. Die allgemeine Erkenntnis aus der Ăśbung ist: "Doch alles gar nicht so eindeutig, aber auf den zweiten Blick logisch."
Die Übung macht deutlich, wie wichtig ein einheitliches Verständnis der Gefahrenstufendefinitionen ist und unterstreicht Duerrs Bitte, Gefahreneinschätzungen immer auch möglichst detailliert zu begründen und dafür eine einheitliche Sprache zu finden. Aus "heute ist es gefährlich" wird "heute ist es gefährlicher als gestern, weil sich frischer Triebschnee gebildet hat. Folgende Alarmzeichen waren zu sehen..." Wer Gefahreneinschätzungen inklusive Gefahrenstufe abgibt, denkt vielleicht in Zukunft genauer nach über den Unterschied zwischen "typisch" und "häufig", oder den zwischen "Lawinen sind möglich" und "Lawinen sind zu erwarten".
SkifahrerVierer vs. VerkehrsVierer
Dass sich das Verständnis der Gefahrenstufen im Laufe der Zeit auch ändern kann, zeigt der nächste Tagesordnungspunkt. Duerr präsentiert eine Karte des Alpenraums, auf der zu sehen ist, wie oft in den unterschiedlichen Ländern und Warnregionen die Gefahrenstufe Groß zum Einsatz kommt. Die Schweiz erscheint als eine Art Insel. Vor allem in Frankreich wird Groß relativ oft vergeben, aber auch die meisten anderen Alpenländer nutzen die Stufe 4 erkennbar häufiger als die Schweiz.
Diese Unterschiede sind allein durch Unterschiede in der Schneedecke nicht zu erklären, sondern begründen sich eben in der unterschiedlichen Auffassung der Bedeutung der Stufe. Die Verwendung der Gefahrenstufe 4 wird bestimmt auch die Gruppe der EAWS (European Avalanche Warning Services) in nächster Zeit beschäftigen.