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Schneegestöber

SchneeGestöber 9 2016/17 | Lawinenunglücke: Homo homini lupus oder der Wolf im Schafspelz?

Die Schuldfrage: Werwolf oder der verkleidete Canis lupus?

von Lukas Ruetz 29.12.2016
Die Einschätzungen der Lawinenlage im großen Maßstab übernimmt der Lagebericht für uns. Die Einschätzung vom lokalen Gefahrenpotential müssen wir mit dieser Grundlage selbst übernehmen. Das kann heute sehr einfach sein, morgen sehr schwierig und übermorgen kaum möglich.

Der Schneestöberer erfreut sich derzeit ungemein seines Schullateins. Bevor man nun wild auf dieses mehr oder weniger bekannte Zitat drauflosgooglet: „Homo homini lupus“ bedeutet „Der Mensch ist des Menschen Wolf“ und wird oft freier übersetzt als „Der größte Feind des Menschen ist der Mensch selbst.“ Der Satz wurde im 17. Jahrhundert in der relativ bekannten Staatstheorie „Leviathan“ von Thomas Hobbes salonfähig. Legen wir diese Aussage auf die Schneedecke und Lawinen um, stellt sich die Frage, wer an Lawinenunglücken „schuld“ ist – der Mensch selbst oder die unberechenbare Schneedecke? Skipionier Mathias Zdarsky stempelte zweitere zu Beginn des 20. Jahrhundert als „Der so unschuldige weiße Schnee ist nicht ein Wolf im Schafspelz, sondern ein Tiger im Lammfell.“ ab. Die Antwort ist naturgemäß nicht besonders einfach. Begeben wir uns deswegen auf eine Spurensuche.

Status quo – So schaut’s aus

Es gibt Lawinenlagen, wo die Einschätzung sehr leicht möglich ist: Das Gefahrenpotential ist relativ gering und es gibt kaum Warnhinweise in der Natur, die Auslösung einer Lawine durch die Zusatzbelastung eines Menschen ist unwahrscheinlich. Findet man typischerweise nur im Bereich der Gefahrenstufe „gering“. Dann gibt es Situationen, wo das Gefahrenpotential sehr hoch ist und man beispielsweise durch Windeinfluss, Setzungsgeräusche, spontane Lawinen gut gewarnt wird – meist gar Angst und Zurückhaltung eingeflößt bekommt. Die Zusatzbelastung eines Menschen kann zwar auch ausschlaggebend sein, aber die Schneedecke ist derart instabil, dass sie bereits von selbst Lawinen erzeugt – typisch für den Sportler bei einer Gefahrenstufe "erheblich" im oberen Bereich (3) und einer Gefahrenstufe "groß" (4). Und dann gibt es alles dazwischen. Die Situationen, wo genau die Zusatzbelastung eines Sportlers langt, um Lawinen auszulösen, bleibt in ihrer räumlichen wie zeitlichen Verteilung am schwierigsten einzuschätzen. Sie kann relativ umfangreich warnen, offensichtliche oder versteckte Warnungen aussprechen oder praktisch keine Warnungen aussprechen (Oh, Altschnee, oh Altschnee!). Sie ist aber vor allem im Hochwinter am häufigsten vertreten: Zusammengefasst in den Gefahrenstufen "mäßig" (2) und "erheblich" (3). Dabei ist es nicht überall bzw. großteils gefährlich, aber auch nicht überall sicher. Es kommt bei diesen Gefahrenstufen eben noch stärker auf die Verteilung der Gefahrenbereiche an. Die Grafik ist aus dem Lernportal unter https://www.avalanche.ca/cherry-bowl/ entnommen und fasst das Ganze gut zusammen.

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Mea culpa – meine Schuld?

Die Rahmenbedingungen sind also entscheidend – wie immer. Dazu gesellen sich die human factors wie Gruppendynamik, HeuteistnichtmeinTag, Pulvergeilheit, … und lassen damit die Beantwortung der Schuldfrage kaum zu. Da von den Schuldzuweisern im Regelfall nie jemand selbst dabei war und damit nur Teile der Gesamtsituation erfasst werden können, sind Schuldzuweisungen eigentlich fehl am Platz und bringen niemanden weiter. Sinnvoll dagegen ist, sich Gedanken zu machen über seinen eigenen „Schuldteil“: was hätte ich (als Überlebender) besser machen können? Was habe ich übersehen? Warum habe ich es übersehen?

Ein Teil der Unglücke fußt auf die Verkettung unglücklicher Umstände, ein anderer Teil ist selbst mit guter Expertise nicht zu verhindern. Denn: Wir rechnen bezüglich Lawinen immer nur mit Wahrscheinlichkeiten. Ein Teil der Unfälle wäre dadurch eben verhinderbar wenn man seine Fähigkeit zum Einschätzen der Eintrittswahrscheinlichkeit von Lawinen auf ein höheres Niveau hebt – oder seine Risikobereitschaft senkt. Dazu gehört auch Vertrauen zu jenen, die sich tagtäglich mit der Situation beschäftigen und deren Einschätzungsvermögen zur Eintrittswahrscheinlichkeit von Lawinen um mehrere Sphären über dem vom durchschnittlichen Sportler liegt – den Lawinenwarnern.

Exempla – Beispiele

Der Wolf im Schafspelz am 06.02.2013

Der Tiroler Lawinenlagebericht lautete: „Die Lawinengefahr in den Tiroler Tourengebieten ist oberhalb etwa 2000m verbreitet als erheblich einzustufen. Die Hauptgefahr geht dabei unverändert von den ständig neu gebildeten Triebschneeansammlungen aus. Diese sind meist spröde und mit dem lockeren Neuschnee darunter nur schlecht verbunden, so dass sie relativ leicht als Lawine ausgelöst werden können. […] Gefahrenstellen liegen in Triebschneehängen und im kammnahen Gelände aller Expositionen, wobei Anzahl und Verbreitung der Gefahrenstellen mit der Seehöhe zunehmen. Da Triebschneepakete inzwischen oft von Neuschnee überlagert sind, können sie im Gelände nur schwer erkannt werden. Skitouren und Variantenfahrten erfordern Erfahrung in der Beurteilung der Lawinensituation.“

Die Situation in den Nördlichen Stubaier Alpen entsprach perfekt dem Wolf im Schafspelz: 20cm ruhig gefallener, lockerer Neuschnee haben umfangreiche, leicht auslösbare Triebschneepakete unter sich versteckt. Doch Bilder sprechen mehr als tausend Worte. Selbst mit Erfahrung lassen sich die verdeckten Triebschneepakete kaum mehr erkennen, defensive Tourenwahl - also das Ausweichen von den großmaßstäbigen Problembereichen steht hier vor dem Ausweichen im Hang oder Gelände selbst – also den Problembereichen im kleinen Maßstab.

Homo homini lupus

genau drei Jahre später am 06.02.2016

Lagebericht von Tirol: „Die Lawinengefahr ist durch den Temperaturanstieg etwas zurückgegangen und oberhalb etwa 2300m häufig erheblich, darunter mäßig, unterhalb der Waldgrenze gering. […] Schwieriger einzuschätzen sind bodennahe Schwachschichten. Vermehrt ist dies oberhalb etwa 2300m im schattigen Gelände, oberhalb etwa 2500m auch in besonnten Hängen denkbar. Dabei sind inneralpine Regionen, wie z.B. die Ötzaler, Stubaier, Tuxer und Zillertaler Alpen häufiger betroffen, als die übrigen Regionen. Aufpassen sollte man da v.a. im Bereich von schneearmen Stellen, wo eine Auslösung am ehesten möglich ist.“

An diesem Tag wurde fast der gesamte, nordexponierte Talkessel in der Wattener Lizum unterhalb des Geiers (Tuxer Alpen) in einem Höhenbereich von 2300m bis 2700m von zwei Gruppen als Schneebrett ausgelöst und es kamen mehrere Personen ums Leben. Das Problem war bekannt und konnte eingegrenzt werden. Welche menschlichen Faktoren waren also dafür ausschlaggebend? Schneeprofile wurden von der Gruppe im Unglückshang vorher erstellt, der Lagebericht vermutlich zusammen studiert. War es falsch interpretiertes Wissen oder Erfahrung? Der Druck auf die Tourenleiter? Das Ignorieren von Warnungen? Oder, oder, oder?

In dubio pro reo – Im Zweifel für den Angeklagten

Die Energie von Schuldzuweisungen ist sinnvoller in Präventionsarbeit investiert. In die Prävention von Lawinenunglücken wird bereits ausgesprochen viel Aufwand gelegt, betrachtet man die gesamten Sicherheitsbestrebungen im Bergsport. Warum rentiert es sich, hier weiter zu investieren? Diese Frage ist einfach zu beantworten: Es kommen nach wie vor Menschen in Lawinen ums Leben, wo die Gefahr relativ leicht erkennbar gewesen wäre. Man kann kein Unglück ungeschehen machen und keinen Toten zum Leben erwecken.

Kein verurteilter Bergführer oder Tourenleiter holt seinen toten Gast zurück zu seiner Familie. Man kann auch nicht absolut eruieren, wie viele Leben durch Präventionsarbeit bereits gerettet wurden. Aber die Anzahl der Lawinentoten pro Saison im Alpenraum bleibt seit Jahren in etwa gleich - bei gleichzeitig stark ansteigender Sportlerzahl und steigender Zahl von Tagen im nicht gesicherten Skiraum. Und das nicht nur auf Moderouten sondern auch in weniger befahrenem und extremem Gelände. Setzt sich dieser Trend fort, kann man eine gleichbleibende Anzahl von Lawinenopfern durchaus weiterhin als „Erfolg“ betrachten – der Schneestöberer wirft in den Raum: Die Zahl der Lawinenopfer langsam zu verringern bei gleichzeitiger leichter Erhöhung oder Stagnierung der Tourentage soll das nächste Ziel sein. Eine Halbierung liegt vielleicht im Bereich des Möglichen - im Mittel betrachtet, nicht auf den einzelnen Winter. Das größte Potential liegt derzeit bei jenen Unglücken, wo die Gefahren - auch mit wenig Erfahrung oder Wissen - erkennbare Warnhinweise aussenden oder das Befolgen der Hinweise im Lagebericht und damit das Meiden von gewissen Expositionen und Höhenlagen bzw. einzelne Tage mit Verzicht auf ungesichertes Gelände bereits genug sind.

In diesem Sinne: Ja, der so unschuldige, weiße Schnee kann ein Wolf im Schafspelz sein - bei anderen Rahmenbedingungen ist allerdings der Mensch des Menschen Wolf.

Notare: Non scholae sed vitae discimus - oder mit Berg-Bezug: Ein Kurs oder eine Ausbildung ist zu wenig, man muss sich selbst weiterentwickeln und mit der Thematik beschäftigen um genug für’s Überleben zu lernen. Auch die hochwertigste Ausbildung wie der Berg- und Skiführer sind zu wenig und können nur eine breitere Basis legen. Es gibt relativ leicht einschätzbare Lawinensituationen und schwer einschätzbare Situationen, die defensives Verhalten erfordern.

Ein unfallfreies 2017! Passt auf euch auf.

Danke an Patrick W. für den Anstoß zum Artikel.

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