Ein einziges Foto hatte unseren Verstand in seine Gewalt gebracht. Es handelte sich um eine Luftaufnahme einer Insel im tiefblauem Japanischen Meer. In deren Mitte steht ein einsamer Berg mit schneebedeckten Hängen. Tiefe Furchen ziehen Rinnen, formen weite Hänge, laufen sanft gegen die bewaldete Küste aus. Wir mussten dahin – um heraus zu finden, ob es das wirklich gibt. Eine Irrfahrt quer durch Hokkaido liegt hinter uns. Ein Schneesturm fegt über Japans nördlichste Insel und wir müssen mitten durch, dürfen auf keinen Fall die Fähre, die Insel, das Schönwetterfenster und so den Gipfel verpassen. Die Überfahrt hatte emotional da angesetzt, wo die Autofahrt über die spiegelglatten und mit Schnee verwehten Strassen aufgehört hatte. Wellen donnerten in unregelmässigen Abständen an die Metallwände und Wassermassen schmetterte an die Fenster der Fähre. Mit einem flauen Gefühl im Magen laufen wir endlich im Hafen von Oshidomari, im Norden der Insel Rishiri, ein.
Ankunft
Die ganzen Strapazen der Reise sind in dem Augenblick vergessen, als uns Toshi, unser Gastgeber und Bergführer, bei sich empfängt. Er ist sichtlich froh uns zu sehen und heißt und so herzlich willkommen, als wären wir alte Freunde, die endlich wieder zusammen gekommen sind. Mit seiner dunkelbraun gebrannten, leicht ledrigen Haut und seinem breiten, warmen Lächeln erinnert er mich mehr an einen Sherpa als an einen Japaner. Nur wenig später sitzen wir alle an einem Tisch und lehnen uns über die Landkarte von Rishiri. Toshi spricht einfaches English mit uns, oder japanisch mit seinem Mobiltelefon. Nach einer kurzen Pause ertönt dann jeweils ein digitaler Gong, und eine weibliche Stimme gibt die Übersetzung in englisch wieder. Wir lachen herzhaft, denn nicht selten kommt dabei ein totaler Blödsinn raus. «Tomorrow summit attempt». Ja, das klingt vielversprechend. «Maybe snow is very hard», «Maybe summit only by foot, no skis». Uff, ja wenn es sein muss. Wir möchten einfach da rauf, und zur Not auch ohne Snowboard. Wir hatten ja schon gewusst, dass der Mount Rishiri so seine Launen hat. Im Winter drücken regelmässig Kaltluftfronten aus Sibiren über das japanische Meer und treffen ungebremst auf den Mount Rishiri. Und so war es eigentlich auch die letzten Tage, doch scheint der Wind den Schnee gleich wieder von der Insel geblasen zu haben, erklärt uns der Sensei.
Rückkehr
Die Besteigung des 1792m hohen Mount Rishiri stellt neben dem harschen Wetter alpinistisch keine grossen Herausforderungen da. Die Einschätzung der aktuellen Lawinensituation scheint mir die grösste Hürde an diesem Berg – denn die Bedingungen ändern sich laufend. Kartenmaterial im Massstab 1:50'000 kann zwar online beim geografischen Institut von Japan runter geladen werden, nur gibt es keine englische Übersetzung der Website. Und so sucht man dort vergebens nach der japanischen Download- oder Print-Funktion. Das heisst also, man ist auf Hilfe angewiesen. Beim Kartendownload hatte uns schon ein japanischer Freund in der Schweiz geholfen. Wir hatten also einen ganzen Satz Karten ausgedruckt dabei. Doch für die Einschätzung von Schnee und Wetter ist Toshi der einzige Mensch auf der ganzen Insel, der einem helfen kann.
Vor zwölf Jahren hatte er die Ausbildung zum Bergführer absolviert und ist mit 33 Jahren auf die Insel zurück gekehrt, auf der er geboren wurde und aufgewachsen ist.
Auf der Insel Rishiri wohnen heute etwa 5000 Menschen, die meisten leben vom Seegurken und Algen sammeln, vom Fischen, von einem Handwerk oder vom Tourismus. Gemeinsam mit seiner Schwester, einer exzellenten Köchin, und seiner Frau baute Toshi eine nette, kleine Unterkunft mit rund 10 Gästezimmern am Fuß des Mount Rishiri. Im Sommer läuft der Familienbetrieb auf Hochtouren. Wenn von Juli bis September rund 6000 Wanderer auf den Berg pilgern, holt sich Toshi einen befreundeten Bergführer zu Hilfe. An besonderen Tagen im Shinto-Kalender kann es sein, das bis zu 300 Menschen an einem Tag zum kleinen Schrein auf dem Gipfel pilgern. «Toshi very busy», meint er mit einem nasalen Nachdruck, und zeigt uns stolz ein Buch mit der lokalen Botanik, das er selbst geschrieben hat. Im Winter ist die Insel aber sehr ruhig und auf den Berg gehen nur ganz wenige – fast alle mit Toshi als Führer.
Aufstieg
Der Himmel ist grau und der Berg mit tiefen Wolken verhangen. Doch das Wichtigste ist - es ist beinahe windstill. Nach zwei bis drei Stunden erreichen wir die Schulter des nordwestlichen Grat-Ausläufers. Es ist bitter kalt und wir tragen alle mitgebrachten Kleiderschichten an unseren Körpern. Der Schnee ist total verblasen, und oft mussten wir unsere Harscheisen sehr sorgfältig über zugefrorene Büsche navigieren, die das Gehen stellenweise fast unmöglich machten. Auf rund 1200m zeigt uns Toshi stolz eine Schutzhütte, die er selber gebaut hat. Er befreit mit seinem Pickel eine Luke von den Eisfahnen am Holz, öffnet die Läden und führt uns hinab ins Dunkle. Wir trinken Grüntee, essen getrockneten Fisch, Reisbällchen und Schokolade zu gleich. Es ist das Licht von draußen, das mich auf einmal neugierig macht. Ich klettere also aus dem Loch und spähe geblendet mit den Händen vor meinen Augen zwischen meinen Fingern hindurch.
Das Licht wirft auf einmal Schatten, der Nebel über mir leuchtet hell und verschwommene Konturen drücken aus dem Grau – ist das der Gipfel? Gegen Westen hin bricht der Grat, auf dem die Hütte steht, steil ab und Nebelschwaden geben einen riesigen Hang darunter frei. Immer weiter lösen sich die Schwaden auf und egal wo ich hinschaue, ich sehe nur noch die riesigen, perfekt geschwungenen rund 30–35° steilen, mit Powder gefüllten Hänge. Ich höre auf einmal Stimmen hinter mir, und dann ein «Ohhhhhh, ahhhhhh, today, very special day!». Toshi war schon über 500mal auf dem Gipfel, und doch ist er heute so richtig begeistert von den Bedingungen. Je höher wir steigen, und umso mehr Neuschnee er mit seinen Skiern spuren muss, umso öfter wiederholt er, welches Glück wir doch haben heute.
Selbständig
Im hauseigenen Onsen mit Blick auf den Gipfel vom Mount Rishiri sprudeln wir zufrieden dahin. Vom Gipfel direkt in diese Hänge stechen zu können, Pulverschnee von oben bis unten und perfektes Wetter, das hätten wir uns nie erträumen lassen. Den Rest der Woche unternehmen wir selbständig Touren auf allen Seiten vom Mount Rishiri. Toshi zeigt uns jeweils am Vorabend in welchen Sektor wir gehen sollen, wo er guten Schnee vermutet und wo wir uns vorm Wind in Acht nehmen müssen. Er breitet einen Stapel Fotografien vor sich aus. Seine Bildersammlung zeigt verschiedene Geländekammern am Mount Rishiri. Fein säuberlich hat Toshi darauf mit einem roten Stift Abfahrtslinien eingezeichnet und all die Vorgipfel und Spitzen benannt. «Tomorrow, here, here and here maybe very good snow.»
Und so erleben wir den Berg noch von all seinen Facetten: lange Zustiege durch den flachen Wald und damit verbundene Orientierungsschwierigkeiten, Wetterumbrüche, orkanartige Winde und heiterer Sonnenschein am gleichen Tag, aber auch Rinnen in denen wir meterhohe Staubwolken in der Luft stehen lassen.
Abschied
Ein tiefes Seufzen stößt die Fähre aus ihrem Horn beim Auslaufen aus dem Hafen. Der Himmel ist beinahe wolkenlos, das Meer von kleinen, kurzen Wellen gezeichnet und Toshi winkt uns seit bald zwei Minuten hinterher. Er winkt so lange, bis er nun noch ein kleiner Punkt auf der Hafenmauer ist. Jetzt sehen wir den Berg noch einmal in seiner vollen Pracht und wissen auch wieder, wieso wir ursprünglich hergekommen sind. Mit nach hause nehmen wir aber nicht nur die Erinnerungen an den Mount Rishiri, sondern genau so an seinen Sensei.
Weitere Infos:
Anreise / Transport:
Auf der Insel gibt es keine öffentlichen Verkehrsmittel. Die Maruzen Pension Rera Mosir bietet Transporte inkl. Abholdienst vom Fährenhafen in Oshidomari. Wer mit dem eigenen Mietauto von Wakkanai (Hokkaido) mit der Fähre übersetzt, zahlt zwar einen stolzen Aufpreis für das Fahrzeug, ist allerdings viel unabhängiger. Am schnellsten ist die Anreise mit einem Flug von Saporro direkt auf die Insel. Skitouren:
Es können beinahe in allen Expositionen vom Mount Rishiri Skitouren unternommen werden. Die Schwierigkeiten im Aufstieg reichen dabei von der relativ einfachen Normalroute über den Nordwest-Grat, bis zu sehr steilen Anstiegen über die Ostseite. Die Abfahrten sind alle ziemlich anspruchsvoll und steil. Besonders auch die langen Waldpassagen verlangen eine sehr gute Skitechnik. Einfache, kurze Touren können am Ponyama, dem kleinen Hausberg von Oshidomari unternommen werden.
Es ist sehr ratsam den Berg mit einem ortskundigen Bergführer kennenzulernen. Toshiya Watanabe führt auch grössere Gruppen auf den Gipfel. Der Aufstieg kann mit Schneemobilen um rund 500hm verkürzt werden. Die Normalroute auf den Mount Rishiri über den Nordwest-Grat: Länge: 1700hm bzw. 1200hm mit Unterstützung von Schneemobilen
Dauer: 6–7 Stunden bzw. 4–5 Stunden
Schwierigkeiten: Da die Grate oft abgeblasen sind, ist das gehen mit Skis anspruchsvoll. Harscheisen, Steigeisen und Pickel ratsam. Je nach Einfahrt in die Abfahrtsroute, muss mit Stellen um 35–40° grad gerechnet werden. Unterkunft:
Maruzen Pension Rera Mosir
Toshi und seine Familie sind sehr nett und bieten einen super Service. Hauseigenes Onsen. Spitzen Küche mit viel lokalen Köstlichkeiten. Japanische Zimmer mit Futon und Tatami oder schöne Zimmer mit normalen Betten.
+81 163 82 2295
www.maruzen.com/tic/oyadoEssen und Trinken:
Entweder in der Pension auf Voranmeldung, oder in einem der wenigen Restaurants in Oshidomari (Japanisch-Kentnisse von Vorteil). Bergführer:
Toshiya WatanabeJapanisches Kartenmaterial:
Text: Nicolas Fojtu / Helvetic Backcountry