„If ya got twennythousand bucks, ya can fucking slam that fucking door!“ Jean-Marc ist außer sich vor Wut und wir schauen ziemlich belämmert drein. Jean-Marc ist der Hubschrauberpilot. Klein und untersetzt, mit einer Öl verschmierten Fliegerjacke aus rotem Polyester mit dem Aufdruck: „Klondike Heliskiing“ bekleidet, schaut er uns wütend durch seine verspiegelte Pilotenbrille an.
Unser Pilot hat uns gerade in sehr deftigem kanadischem Slang darauf hingewiesen, dass die Einstiegstür des Helikopters bitte vorsichtig zu öffnen und zu schließen sei, da sie den Gegenwert eines Kleinwagens hat. Betreten schauen wir uns an, wie wir hier mit unseren Profi-Snowboard-Ausrüstungen und brandneuer, 3-Lagen-Outdoorbekleidung vor dem Hangar in der Morgensonne stehen. Klarer Fall: Der erste Tiefschlag – und wir sind noch keinen Meter geflogen. Dabei sind wir doch hergekommen, weil wir uns bereit fühlen für die Erfüllung des ganz großen Traums. Bereit für die letzte große Herausforderung im Leben jedes Snowboarders. Bereit für ganz große Berge und steile Hänge. Bereit für die Wildnis und die raue Natur – und natürlich bereit für das Hubschrauberfliegen und epische Pulverschneeabfahrten im feinsten „Champaign-Powder“. Dafür haben wir die lange Reise hierher, nach Atlin, British Columbia, Kanada auf uns genommen und nicht, um uns schon vor dem ersten Flug als Greenhorns zu outen.
Atlin ist ein kleines, ehemaliges Goldgräber-Nest mit nur 400 Einwohnern, knapp zwei Autostunden südwestlich von Whitehorse. Direkt an der Grenze zu Alaska, liegt es auf der Meer abgewandten Seite der Coast Mountain Range und bietet dadurch deutlich stabilere Wetterbedingungen und somit mehr Chance auf effektive Flugzeit – und damit auch auf Powder-Runs. Das Gebiet, das wir anfliegen können, ist weitgehend Wildnis und so groß wie Tirol. Da Atlin immer noch so etwas wie ein Geheimtipp zum Heliboarden ist, sind wir die einzigen Wintersportler vor Ort und haben die Berge für uns allein. Und was keiner auch nur zu hoffen gewagt hatte: erst zwei Tage zuvor hat es ergiebig geschneit und heute, an unserem ersten Flugtag, strahlt die Sonne aus einem tiefblauen Himmel. Nachdem die Schimpftirade von Jean-Marc zu Ende ist und wir eine erneute, gründliche Einweisung bekommen haben, geht’s endlich los. Das gleichmäßige Flappen der Rotorenblätter steigert sich zu einem lauten Knattern, die Turbinen beginnen laut zu Pfeifen und ein Zittern geht durch die ganze Maschine bevor sie mit lautem Dröhnen, aber trotzdem ganz sanft abhebt. In Sekunden verwandeln sich die Handvoll Holzhäuser Atlins in ein kleines, buntes Spielzeug-Dörfchen weit unter uns und mit einem weiten Schwenk breitet sich die weite Eisdecke des Lake Atlin als gleichmäßig marmorierte Fläche bis zu den schneebedeckten Gipfeln am Horizont aus. Da wollen wir hin!
Fast unwirklich gleiten die ersten Vorberge auf uns zu und eine ganze Sammlung verwegen geformter Fels- und Wechten-Formationen zieht unter uns hindurch. Die Fichten und Birken werden kleiner und spärlicher und immer höher schwingen sich sanfte Schneerücken und steile Wände vor uns, in den stahlblauen Himmel empor. Elegant steuert Jean-Marc den Helikopter den Geländeformen nach und nutzt geschickt die Aufwinde. Das hat er beim Segelfliegen gelernt, erklärt er knapp: „Safes a lot of kerosine and makes a smooth flight.“ Das mit dem sanften Flug stimmt, nur ist es gar nicht so leicht, den Bezug zur Umgebung zu behalten, um schon jetzt potentielle Abfahrten auszuspähen. Natürlich versuchen jetzt schon alle ihre Lines zu erspähen. Aber wie groß ein Hang ist, oder wie steil lässt sich eigentlich nicht sagen. Neigt sich der Heli zum Berg hin, scheint alles unfassbar steil und hoch aufzuragen, bei einer Kurve in die andere Richtung wirken die Hänge sanft und flach. Plötzlich schiebt sich eine hohe Felswand mit zackiger Gratkrone vor uns ins Bild und nähert sich schnell. Von zwei Felstürmen eingerahmt öffnet sich, ganz oben am Bildrand, eine kleine Kerbe im Grat. Jean-Marc zieht den Hubschrauber stramm nach oben und steuert schnurstracks auf diese viel zu kleine Öffnung zu. Sieht er denn nicht, dass wir da auf keinen Fall durch passen?
Wahrscheinlich wird unser „smoother“ Flug und damit auch das ganze Abenteuer schon gleich wieder zu Ende sein… Und das, bevor wir überhaupt einen Fuß in den Schnee setzen konnten. Schnell kommt die Lücke näher, wird aber nicht wirklich größer. Dafür aber die Felstürme, die rechts und links davon aufragen und ein seitliches Ausweichen nun auch verhindern. Kollektiv versteifen wir uns in den Sitzen und ziehen die Schultern hoch, bis die Hosenträgergurte spannen. Dann rasen wir punktgenau durch die schmale Lücke im Grat und es wird schlagartig still. Kein Geräusch vom Zerschellen der Rotorblätter und keine umherfliegenden Trümmerstücke. Um sich darüber zu wundern bleibt keine Zeit, denn jetzt geht’s jetzt in irrsinniger Geschwindigkeit auf der anderen Bergseite kopfüber nach unten. Die Schwerkraft setzt aus und wir schweben schwerelos, nur von den Gurten gehalten, über unseren Sitzen. Wir fallen immer schneller und der Boden kommt rasch näher. Jetzt müssten wir gleich aufschlagen! Doch urplötzlich setzt mit lautem Donnern der Rotor wieder ein und die Schwerkraft kehrt mit Übermacht zurück als Jean-Marc grinsend den Heli wieder in die normale Fluglage zieht. Alles klar – das war wohl die Revanche für den Vorfall mit der Heli-Luke vom Morgen. Damit sollten wir nun quitt sein! Kaum haben wir dieses „Späßchen“ verdaut, heißt es auch schon Bereitmachen, denn eine kleine weiße Kuppe schiebt sich langsam unter uns. Vom Aufsetzen spüren wir nichts, aber als die Tür offen ist und alle eilig, aber geordnet die Kabine verlassen, schlägt uns ein wahres Inferno aus Lärm, Wind und fliegendem Schnee entgegen und jeder beeilt sich, ein sicheres Plätzchen zum Wegducken zu finden. Nur bloß nicht dem Rotor zu nahe kommen! Daumen hoch, alle sind raus und jetzt gut das Snowboard festhalten als der Heli mit Sturm-Getöse abhebt, einen kleinen Linksschwenk einleitet um dann Nase voraus, senkrecht ins Tal zu stechen. Kaum ist der Heli verschwunden, ist es schlagartig still und kein Lüftchen regt sich mehr.
Wir stehen über einer riesigen, unberührten Welt aus Felsen, Eis und Schnee. Hinter uns erstreckt sich kilometerweit, die strahlend weiße Fläche des Juneau-Eisfeldes, das mit seinem Hunderte Meter dicken Eispanzer ganze Gebirgstäler ausfüllt und die Grenze zu Alaska markiert. Vor uns verbreitert sich unsere Landekuppe zu einem steilen, dick mit Pulverschnee bedeckten Rücken, der sich in weitem Bogen zu einem großen Kessel öffnet und über einen weiteren Steilhang ganz unten in den Talboden mündet. Kaum zu fassen, dass wir jetzt wirklich hier sind und das alles nur für uns sein soll! Es ist so viel Platz zum fahren, das jeder problemlos seine eigene Line fahren kann, ohne eine andere Spur zu kreuzen. Anfangs noch verhalten, finden wir schnell die Brettsicherheit wieder und lassen es laufen, dass der Powder in meterhohen Staubwolken aufstiebt. Cutbacks, Drops, kleine Rinnen oder langgezogene Turns – das Gelände bietet für jeden etwas und als wir unten am Helikopter ankommen, spricht das breite Grinsen in jedem Gesicht für sich: Alle Kosten und Mühen haben sich schon allein für diese Abfahrt gelohnt! Und das ist ja erst der Anfang.
Erschreckend schnell gewöhnen wir uns an den Luxus eines Hubschraubers und nach ein paar Runs empfinden wir es schon fast als genauso selbstverständlich hier einzusteigen, wie in einen Sessellift. In den nächsten Tagen reihen sich die Traumabfahrten nahtlos aneinander und wir erkunden das Fluggebiet in seiner ganzen Weite. Auf viele Gipfel hat bisher noch nie ein Mensch seinen Fuß gesetzt und oft ist die Antwort auf die Frage nach dem Namen einer Abfahrt: „Such dir einen aus!“. Mittlerweile haben die Guides auch volles Vertrauen in unsere Fähigkeiten gewonnen, lassen uns die Abfahrten selbst wählen und weisen nur auf Gefahrenstellen und Linienwahl hin. So kommt es, dass wir uns teilweise reihum jeder auf seinen„eigenen“ Berg fliegen lassen. Das ist ein ganz besonderes Erlebnis, da man sich von unten und während des kurzen Fluges, ganz genau die Beschaffenheit der Abfahrt einprägen muss. Von oben sieht dann natürlich alles ganz anders aus: So entpuppt sich die kleine Wechte am Einstieg z.B als riesige Windlip, die erst vorsichtig abgebrochen werden muss, bevor man den gewählten Hang überhaupt erreicht oder der kleine zwei Meter Drop, den man aus der Fahrt einfach so mitnehmen möchte, erweist sich als ernster Stunt mit einem Vielfachen der erwarteten Höhe oder der ganze Hang ist einfach viel steiler als gedacht.
Und so steht man dann öfters, mutterseelenallein und mit wackeligen Knien auf irgendeiner Schneespitze im kanadischen Outback und lugt vorsichtig über eine Kante in einen Steilhang und überlegt sich, ob das jetzt tatsächlich die Line ist, die man sich ausgesucht hat. Aber obwohl wir die Grenzen jeden Tag ein bisschen weiter nach oben schieben, bleibt uns bewusst, wo wir uns bewegen und dass ein Unfall hier ernstere Konsequenzen hätte, als zu Hause in den Alpen.
So ist auch das Barbecue heute ein ganz besonderes Erlebnis. Mit Skidoos wollen wir ein paar Kilometer von Atlin entfernt, an einen kleinen See in den Wald und dort, ganz im Holzfäller-Stil, Elchfleisch am Lagerfeuer grillen. Der Platz ist nur ein paar Meter von der Stelle entfernt, wo erst zwei Tage zuvor ein großer Bär gesichtet wurde. Aber Bären seien grundsätzlich sehr scheu, beruhigt man uns, wir müssten uns keine Sorgen machen. Als große Gruppe würden uns die Bären sowieso früh genug hören und das Weite suchen.
Zum Schutz gegen Kälte und Funkenflug bekommt jeder einen ausgedienten, Öl befleckten Ski-Overall verpasst und in der Dämmerung bewegen wir uns wie ein zerlumptes Ski-Extrem-Team der Neunziger Jahre maskiert zu den Motorschlitten. Leider fehlen die meisten Zündschlüssel, so dass wir in mehreren Fahrten mit zwei Uralt-Schlitten, Mensch und Material im Pendelbetrieb in den Wald schaffen. Für die Rückfahrt in der Nacht werden wir wohl losen müssen, wer zuletzt bis zur Abholung am Feuer ausharren und seine Bärenangst in vollen Zügen genießen darf… Doch jetzt ist erst mal Feiern angesagt. Als die letzte Fuhre an der Grillstelle ankommt, brennt schon ein stattliches Feuer und ein großer Haufen Dosenbier steht im Schnee bereit. Einer der uralten Motorschlitten ist tatsächlich mit einer Musikanlage ausgerüstet und so klingen schon bald die ersten Songs durch die kanadische Wildnis, während die besten Abfahrten der letzten Tage noch einmal wortreich durchgesprochen werden. Was für ein Trip, was für unglaubliche Berge und unfassbare Runs! Während die Kälte von hinten langsam in die Knochen kriecht glühen die Gesichter im Feuerschein immer mehr. Einerseits vom Alkohol, der anfängt Wirkung zu zeigen, aber hauptsächlich vor Begeisterung über das Erlebte hier in Atlin, einem der letzten Außenposten für das ganz große Snowboard-Abenteuer. Text: Jan Sallawitz, Holger Feist | Fotos: Richard Walch