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Schnee von morgen

Schnee von morgen | Wild, wild Alps - oder doch nicht?

Sind die Alpen die Wildnis, für die wir sie halten?

von Lisa Amenda 11.01.2021
Wilde, unberührte Natur fernab menschlicher Zivilisation: In unserer Idealvorstellung sind die Alpen noch heute dieser menschenleere Raum. Doch warum sehnen wir uns so nach der sogenannten Wildnis und wann sind die Alpen zum Kulturraum geworden?

Jetzt ist alles ruhig. Alles still. Der Lärm der Motoren ist im Tal geblieben. Das Rattern der einfahrenden Gondeln in die Liftstation – kilometerweit entfernt. Einzig das Rascheln meiner Hardshell-Hose erinnert mich an Zivilisation. Das Streichen meiner Felle und das Knacken meiner Bindung an Technologie. Menschengemachte Technologie, die es mir ermöglicht, ohne große Hindernisse hier hoch zu laufen. Auf die Rotspitze im Montafon. Wie das damals wohl bei Ernest Hemingway war? Er hat hier Mitte der 20er-Jahre seine Winter verbracht. Um Skitouren zu gehen, zu schreiben, die malerische Berglandschaft der Silvretta zu genießen und dem Trubel zu entfliehen. Dem Alltag. Der Stadt. Ab in die unberührte Wildnis der österreichischen Alpen. 

Die Alpen: Mitteleuropäische Wildnis?

Und auch für mich sind die Alpen Sinnbild mitteleuropäischer Wildnis. Wenn ich auf dem Gipfel der Rotspitze stehe, gibt es für mich in diesem Moment nur die Berge und mich. Wenn ich mich mit meinen Stöcken abstütze und in den Hang einfahre, existiert nur der nächste (hoffentlich) Powderschwung und das Gefühl des schmelzenden Schnees auf meinen kalten Wangen. Meine aufschwimmenden Skispitzen in einem unverspurten Hang. Keine andere Skifahrerseele weit und breit. Beziehungsweise nicht in meiner Sichtweite. 

Denn was in den verschneiten Wintermonaten aussieht wie unberührte Wildnis gleicht in den Sommermonaten einer innerstädtischen Baustelle. Stahlstützen ragen aus den Felsen. Karge Schneisen sind in den einstigen Wald geschlagen und Hütten, Restaurants, Apres-Ski-Bars in die Hänge gezimmert. Die pure Wildnis. Die Einsamkeit. Existiert so nicht mehr. 

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Der Traum von Wildnis 

Und doch üben die Alpen diese Anziehungskraft auf viele Menschen aus. Kilometerweise stellen sie sich heute dafür an den Wochenenden von den Städten in den Stau. Um die Einsamkeit der Alpen mit vielen Gleichgesinnten zu erleben. Die Alpen boomen, könnte man wohl sagen, und das in jeglicher Hinsicht. Skifahren, Wandern, Mountainbiken. Ganz egal. Hauptsache raus aus der Stadt und Hauptsache jedes Wochenende. Wissenschaftler interessieren sich bereits weltweit für dieses Phänomen und dafür, welche Auswirkungen die Natur auf Köper und Geist der Menschen hat: Laut National Geographic fanden sie heraus, dass regelmäßige Aufenthalte in der Natur das Risiko für Krankheiten mindern, die geistige Leistung stärken und psychischen Stress senken. Aber was erzähl ich dir das. Skifahren ist für uns ja auch vor allem mit dem Ziehen von Schwüngen in Gebirgsketten verbunden. Ich würde mal behaupten, dass die Skihalle nicht so einen Reiz auf uns ausüben würde.

Doch was ist diese Wildnis, nach der wir uns neuerdings so sehr sehnen? Die Deutsche Umwelthilfe definiert sie als: „Wildnis – das sind weitläufige Gebiete, in denen die natürlichen Prozesse unbeirrt ihren Lauf nehmen können.“ Und das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm hat dazu festgehalten: „unbewohnte, unwegsame Gegend […], auch eine raue oder verwilderte Kulturgegend.“ Doch die Alpen, wie wir sie heute kennen, sind nur noch zu rund vier Prozent diese sagenumwobene Wildnis. Der Rest ist Kulturlandschaft. Wovon auch die Gebrüder Grimm schon sprachen. 

Die Alpen als Kulturraum

Laut der Internationalen Alpenschutzkommission CIPRA ist die heutige Landschaft in den Alpen das Resultat einer engen Beziehung zwischen menschlichen Aktivitäten und natürlichen Entwicklungen. Das Landschaftsbild der Alpen ist seit mehr als tausend Jahren geprägt von Land- und Almwirtschaft. Die Alpen sind ein gewachsener Kulturraum, der auch auf den Tourismus als Wirtschaftsform angewiesen ist. 

Nach Jägern und Sammlern folgten Hirten, die bereits in der Jungsteinzeit die ersten Schaf- und Ziegenherden über die Wiesen trieben. Laut CIPRA sind einige Botaniker sogar der Meinung, dass die Waldobergrenze in den französischen Südalpen so niedrig ist, weil bereits früh dort Hirten mit Kleinviehherden waren, die die Entstehung des Walds verhinderten. Auch die Wälder selbst wurden seit jeher bewirtschaftet: Fichten wurden bevorzugt und Nadelbäume generell im erwachsenen Alter gefällt, so dass eher sogenannte gepflegte Wälder statt ein natürlicher Wald entstehen konnten. Parallel dazu nahm die Zahl der Bevölkerung zu und damit auch die Ackerflächen. Seit der Jungsteinzeit ist Getreide die Nahrungsgrundlage der Alpenbevölkerung. Um 1850 gab es einen Höchststand der Bevölkerungszahl in den Dörfern der Alpen. Im Anschluss kam es zu Abwanderungen aus dem Berggebiet. Und damit zur Zunahme der Rinderhaltung. Die Ackerflächen wurden zu Heuwiesen und somit zu den uns heute bekannten Almwiesen. 

Unter dem Einfluss des Menschen

Seit dem 18. Jahrhundert sind die Alpen Sehnsuchtsort, in dem die Natur eine überproportionale Rolle spielt. Allerdings hat der Mensch seit dem Rückzug der Gletscher einen entscheidenden Einfluss auf das Erscheinungsbild der Alpen. Natürlich ist in den Alpen die Bevölkerungsdichte nicht so hoch wie anderswo und die schroffen Gipfel, die weiten Täler, engen Schluchten und vor allem die Kleingliedrigkeit der verschiedenen Landschaftstypen ist eindrucksvoll. Es ist verständlich, dass sich viele Menschen von der Rauheit der Berge, dem Ungewissen, Exotischen angezogen fühlen. Bei uns ist es doch nicht anders. Selbst wenn wir uns seit Jahren mit unseren Ski in den Bergen bewegen, ist es vor allem die Natur, die uns immer wieder auf die Bretter zurückholt. Es ist dieses Gefühl, dass man mit jedem zurückgelegten Höhenmeter auch die Zivilisation ein Stück hinter sich lässt. Das hat die Menschen im 18. Jahrhundert angezogen und das zieht sie noch heute an. Nur sollten wir uns darüber bewusst sein, dass wir genau mit diesem Verhalten die Alpen nicht in ihrer Ursprünglichkeit belassen, sondern dass auch wir sie mit jedem unserer Schritte beeinflussen. 

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