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Schneegestöber

SchneeGestöber 4 2020/21 | Low probability – High consequence

Heimtückische, tief eingeschneite, persistente Schwachschichten

12.12.2020 von Lukas Ruetz
In Tirol gibt es grob gesehen vor allem nördlich des Inns inzwischen ein unfallträchtiges Altschneeproblem, da dort durch den schwächeren Schneefall nun ein perfektes Brett oberhalb der Schwachschichten liegt. Weiter südlich sind die Schwachschichten aber nicht verschwunden, nur gibt es durch die mächtige Auflage viel weniger Stellen, wo man Schneebrettlawinen auslösen kann.

Schneeprofil lesen

Das Schneeprofil wurde am 11. Dezember zur Mittagszeit auf 2790m in einem 32° steilen Osthang aufgenommen. Es ist schwach windig aus Süd und der Himmel ist zu ca. 50% von Wolken verdeckt.

Am Profilstandort liegen 235cm Schnee, in denen eine ganze Reihe verschiedener Schichten herausgearbeitet wurden, die aus allen drei Umwandlungsarten entstanden sind: Schmelzumwandlung, aufbauende Umwandlung und abbauende Umwandlung.

Im Bemerkungsfeld finden wir eine Einschätzung zur allgemeinen Gefahrensituation für die aufbauend umgewandelten Schwachschichten und eine Einschätzung der weiteren Entwicklung sowie die Zuordnung des Entstehungszeitraumes der beiden Schichten von 103 – 89 Zentimeter Höhe.

Es wurden zwei Schneedeckentests durchgeführt: Ein ECT in einer nicht offiziell existierenden Abwandlung: Die Säule wurde bis zu einer Höhe von 145m abgeschaufelt. Das wurde gemacht, weil man die Tendenz zur Bruchausbreitung in der Schicht noch abschätzen wollte aber man bei einem ECT Schwachschichten mit einer derart mächtigen „Original-Auflage“ kaum mehr zum Bruch bringen kann.

Und tatsächlich: In dieser abgewandelten Form des Tests gab es einen Bruch mit Bruchausbreitung über den gesamten Block beim 8. Schlag aus der Schulter – das ist gesamt der 28. Schlag. Das Ergebnis heißt ECTP28.

Zusätzlich wurde ein Propagation Saw Test (PST) durchgeführt. Eine 30cm breite und 1m tiefe, in Falllinie verlaufende Säule wurde freigelegt und hinten abgeschnitten. Dann sucht man sich eine potentielle Schwachschicht heraus und fährt mit einer Schneesäge von unten nach oben in der Schwachschicht entlang. Man erzeugt dabei einen künstlichen Bruch und beobachtet, ob sich dieser irgendwann von selbst nach hinten weiter ausbreitet. In diesem Fall wurde die Säge in der gleichen Schwachschicht wie beim ECT hineingeschoben. Nach 15 Zentimetern Eindringtiefe breitete sich der Bruch von selbst bis zum Ende des Blocks aus. Das Ergebnis lautet somit: PST 15/100 (End).

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Profil interpretieren

Für ein inneralpines Trockental mit durchschnittlich nur 5,50m Neuschnee pro Jahr auf 2000m Seehöhe und einer durchschnittlich meist nur 1,5m mächtigen, gesetzten Altschneedecke im Spätwinter, liegt hier Anfang Dezember schon mehr als ordentlich viel Schnee.

Um ein solches Profil mit 235cm Schneehöhe alleine auszuschaufeln, ist man je nach Schneebeschaffenheit schon eine Stunde beschäftigt. Wenn man des Öfteren Profile gräbt, übt man nicht nur die Handhabung von Schaufel und Sonde sowie die Grabtechnik. Man lernt auch zu verstehen, wie klein die Überlebenschance für ein über 2m tief verschüttetes Opfer wird – auch wenn die Kameraden es sofort orten und auszugraben beginnen. In der Regel bleiben einem Lawinenopfer nur maximal 20 Minuten bis zum Erstickungstod – einige Minuten gehen schon mit der LVS-Suche drauf. Dann bleiben vielleicht noch 15 Minuten zum Schaufeln.

Das ruft einem wieder einmal ins Gedächtnis, dass man eine Lawinenauslösung – und sei sie noch so klein – immer verhindern soll. Der Schneestöberer sieht dadurch einige neue Ansätze in der Lawinenkunde, die Geländeformen mit eher niedrigen Konsequenzen in den Vordergrund rücken, nur weil die Hänge klein sind oder keine Geländefallen vorhanden sind, eher kritisch.

Man erkennt im Profil drei Bereiche:

Rot

In Rot von ca. 235cm bis 115cm Schneehöhe sieht man den Neuschnee seit dem 04.12. Dieser hat sich vor allem im unteren Bereich schon gut gesetzt und verfestigt. Er befindet sich wie der gesamte Rest der Schneedecke derzeit in der abbauenden Umwandlung und verfestigt sich dadurch immer weiter. Das kann man am steilen, also schwach ausgeprägten Temperaturgradienten erkennen – das ist die rote Linie, die die Temperaturmessungen auf verschiedenen Schneehöhen miteinander verbindet.

Außerdem findet in der gesamten Schneedecke, vor allem im unteren Bereich, eine Unterart der abbauenden Umwandlung statt: Die mechanische Umwandlung. Die aufliegende Schneelast von mehreren hundert Kilogramm pro Quadratmeter übt einen massiven Druck auf die unteren Schneeschichten aus. Dadurch bauen sich diese noch schneller und stärker abbauend um.

Grün

In Grün von etwa 115cm bis 70cm sieht man eine Abfolge aus Krusten und aufbauend umgewandelten Schichten. Die aufbauend umgewandelten Schichten sind aber schon großteils dabei, sich in kantig-abgerundete Kristalle zu verwandeln. Zum reinen Rundkorn – also dem eigentlichen Endprodukt der abbauenden Umwandlung – werden sie kaum mehr. Dafür sind sie meist schon zu groß. Als Endprodukt bleiben etwas größere, kantig-abgerundete Kristalle. Weil die abbauende Umwandlung im Grunde nur die Kugelform entstehen lässt und nicht zwingend möglichst kleine, rundkörnige Kristalle.

Die Schichten im grünen Bereich stammen vom wechselhaften, schneereichen aber teils auch warmen Oktober und November mit Föhn und hochreichenden Regenfällen. Die härteste Kruste mit dem weitesten Ausschlag des blauen Balkens nach links ist Regeneinfluss und vor allem der lang anhaltenden, warmen Hochdruckphase Mitte November geschuldet. Die Sonne scheint mehrere Stunden auf diesen Osthang – auch im Dezember.

Blau

In Blau sehen wir den starken Schneefall von Ende September, eventuell auch gemeinsam verkrustet mit dem Schneefall von Anfang Oktober. Es hat sich eine Schmelzkruste gebildet, die sich eine Zeit lang aufbauend umwandeln konnte. Die aufbauend umgewandelten Kristalle sind aber bereits wieder vom kantigen zum kantig-abgerundeten Kristall geworden.

Lawinengefahr

Durch die mächtige Schneeauflage ist eine Auslösung in den Altschneeschwachschichten unwahrscheinlich geworden. Dazu muss man eine Stelle mit weniger mächtiger Auflage treffen. Da man diese Stellen aber im Gelände nicht sehen kann, kann man nur den gesamten Bereichen, also den Höhenlagen und Expositionen, die die Lawinenwarndienste dem Altschneeproblem zuordnen, weiterhin ausweichen. Von 100 schneearmen Stellen, die man betritt oder überfährt, kann man maximal 10% als schneearme Stelle erkennen – der Rest ist schwer bis gar nicht im Gelände erkennbar. Treffsichere Schneehöhenschätzungen für einzelne Punkte im Gelände sind durch die ausgleichende Wirkung der Untergrundformen durch die Schneedecke einfach kaum möglich. Die Bruchausbreitung ist aber noch gut bis sehr gut in den Altschneeschwachschichten. Das heißt, wenn man eine Stelle trifft, wo man auslösen kann, können riesige Lawinen daraus werden.

In den neuschneereichsten Regionen südlich des Alpenhauptkammes sind für Skifahrer geeignete Auslösestellen extrem selten geworden und kaum mehr denkbar. In den Übergangsregionen mit immer noch satten Neuschneemengen weiter nördlich, bis etwa zum Inn, gibt es schon wesentlich mehr Auslösestellen. In den Regionen mit weniger als 1m Neuschnee gibt es potentielle Auslösestellen wie in einem Fleckerlteppich: Regelmäßig verteilt über die betroffenen Expositionen und Höhenlagen mit einer relativ hohen Dichte.

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