Mit Händen und Füßen und den wenigen Wörtern aus dem Georgischbuch, die ich mittlerweile gelernt habe versuche ich Temuri, den Vater in unserer Gastfamilie zu fragen, was er denn arbeite. Er erklärt mir dass er im Posten der Grenzpolizei der Region angestellt sei. Was er denn auf der Wache machen muss? Mit einem verschmitzten Lächeln meint er nur: "Ruski, peng peng!" Aha, als ob da jemals ein Russe das Shkhara-Massiv überqueren würde, um nach Georgien zu gelangen. Der Grenzposten hat aber doch eine wichtige Bedeutung für das Dorf, schließlich sind 13 der 15 Familienväter bei der Grenzpolizei angestellt und das ermöglicht ihnen ein kleines regelmäßiges Einkommen, in einer ziemlich verlassenen Gegend.
Wir befinden uns in „Ushguli“, einem kleinen Bergdorf in Nordosten von Georgien in der Provinz Swanetien. Swanetien ist eine wilde Bergregion – zwei Drittel der Dorfgemeinden liegen über 1500 Meter – inmitten einer atemberaubenden Landschaft. Die ländliche Gegend ist gespickt mit kleinen Dörfern, deren Gehöfte sich um Wehrtürme gruppieren. Die meisten dieser Wehrtürme wurden zwischen dem 11. bis 13. Jahrhundert erbaut. Die Türme sind üblicherweise 28 Meter hoch und sind mit Geheimeingängen und Schießscharten versehen, um den Bewohnern im Falle eines Angriffes Schutz zu bieten. Ushguli ist gespickt mit solchen Wehrtürmen und bildet unsere Basis für die nächsten zwei Wochen.
Ushguli ist eigentlich eine Anordnung von drei kleinen Teildörfern und schmiegt sich im swanischen Gebirgszug des Kaukasus in ein wildes Tal. Das Dorf liegt auf fast 2200 Meter über dem Meeresspiegel und gilt als das höchste dauerhaft bewohnte Dorf Europas. Mestia, der nächste größere Ort liegt 50 Kilometer entfernt. Dies bedeutet eine zweistündige Autofahrt auf einer miserablen Schotterstraße. Bis vor einigen Jahrzehnten konnte das Ushguli noch auf mehr als tausend Einwohner stolz sein, mittlerweile leben noch ungefähr 65 Personen in 15 Familien das ganze Jahr dort. Viele Häuser sind verlassen und zerfallen. Das harte Leben im unwirtlichen Hochgebirge, die zusammenbrechende Wirtschaft sowie Naturkatastrophen, wie das Lawinenunglück von 1987 bei dem 70 Menschen umkamen, ließ viele Bewohner wegziehen. Doch seit dem einige georgische NGOs den sanften Tourismus in Swanetien fördern und Ushguli von der UNESCO,, aufgrund der einzigartigen Architektur und des authentischen und unberührten mittelalterlichen Charakters 1996 zum Weltkulturerbe erklärt wurde, gibt es für Ushguli Hoffnung: Der Sommertourismus hat sich in den letzten Jahren wieder etabliert, im Winter jedoch – und das ist einer der Gründe für unseren Besuch – herrscht in den Bergen absolute Einsamkeit.
Von Ushguli führen zwei Täler weg. Am Ende des einen Tales thront das mächtige „Shkhara-Massiv“, dass andere führt zu einem Pass nach Unterswanetien. Der Shkhara ist mit 5193 Metern der höchste Berg Georgiens und im Sommer ein anspruchsvolles Ziel für Alpinisten. Als Freerider sind wir mehr an den umliegenden Gipfeln zwischen 3000 und 3500 Metern mit unzähligen fahrbaren Lines interessiert. Riesige offene Hänge und sanfte Rücken wechseln sich ab mit steileren, fast Alaska ähnlichen Spines und Couloirs. Was die Berge um Ushguli bieten, läßt alle Freerider-Herzen höher schlagen. Dazu kommt, dass die meisten Hänge wahrscheinlich noch nie von einem Wintersportler berührt wurden. Während zwei Wochen unternehmen wir Touren von Ushguli aus. Gehen in ein Seitental zelten, finden guten und schlechten Schnee und genießen zum Teil wunderschöne Abfahrten in einer unberührten Landschaft. Das Skifahren ist gut, was aber der Aufenthalt zu einem wirklich einmaligen Erlebnis macht, ist das Leben mit Einwohnern von Ushguli.
Hotels sind in Georgien nur in größeren Städten zu finden. Auf dem Land gibt es, wenn überhaupt, ein Guesthouse, wenn’s auch das nicht gibt, wohnt man einfach bei einer Familie. Wobei „wohnen“ das falsche Wort ist, man lebt mit einer Familie. Man wird herzlich empfangen und sogleich in das Familienleben integriert, man wird Teil der Familie. Man isst mit ihnen zusammen, versucht sich auszutauschen, wenn man kränkelt sorgen sich alle um dich. Einzig wenn’s um die Mithilfe im Haushalt geht, fühlt man sich als Gast, da wir kaum einen Finger rühren durften. Am Anfang war sogar das zusammenstellen der Teller nach dem Essen zu viel, mit der Zeit und genügend Frechheit konnten wir immerhin mal beim Abwasch mithelfen. Die Familien besitzen nicht viel, manche Familien gestalten ihr ganzes Leben in einem einzigen Raum. Trotzdem scheinen sie zufrieden zu sein. Wenn man durch die Dörfer läuft wird man angesprochen und oft eingeladen. Ich habe noch nie zuvor solche Gastfreundschaft erlebt. Wenn wir von unseren Touren zurückkommen erwartet man uns oft am Dorfeingang. Sobald wir unsere Bretter abgeschnallt haben, werden sie von den anwesenden Einwohnern beschlagnahmt, die unbedingt alle ihre Künste als Snowboarder und Skifahrer unter Beweis stellen wollen. Es herrscht eine ausgelassene Stimmung und alle lachen über die Missgeschicke der anderen.
Die Regierung treibt den Wintertourismus in Swanetien voran. Der georgische Präsident Saakaschwili unterstützt die Region stark. Erst vorletzten Sommer ließ er oberhalb von Mestia einen Sessellift bauen, um ein neues Skigebiet zu eröffnen. Er möchte aus Mestia eine Winterdestination im modernen Stil machen. Ob das funktioniert ist zweifelhaft, denn Mestia ist schlecht erreichbar. Zwar hat man mit dem Lift auch gleich eine Fluglinie Tbilisi – Mestia eröffnet, der Flug kann aber nur bei guten Witterungsverhältnissen durchgeführt werden. Die einzige Alternative dazu: eine acht bis neun Stunden dauernde Autofahrt. Das Skigebiet ist bei unseren Besuchen dann auch mehrheitlich leer.
Ushguli ist eine beinahe perfekte Basis, um Skitouren zu starten. Nur bei schlechtem Wetter sind die Möglichkeiten eingeschränkt. Wir haben ein kleines persönliches Winterparadies gefunden, dessen Potential wir erst an der Oberfläche angekratzt haben. Hier kann man seine Freiheit und Ruhe finden, sich von den Zwängen des Alltags befreien und ein Abenteuer erleben wie es in den „populären“ Alpen kaum noch möglich ist. Unberührtes Freeride-Gelände so weit das Auge reicht. Im nächsten Sommer soll die Straße nach Ushguli asphaltiert und befestigt werden. Dadurch könnte Ushguli viel von seinem abgeschiedenen Charme verlieren, andererseits ist es vor allem eine Erleichterung für die Einheimischen und könnte den Wintertourismus in dieser abgelegenen Region fördern. Hoffentlich laufen die Russen nicht der Grenzpolizei von Ushguli in die Hände …
Kurioses und Erlebnisse Part II:
- In Swanetien besteht ein Brauch: Will ein Mann eine Frau heiraten, muss er einen ungefähr 100 Kilogramm schweren, runden Stein auf die Schulter stemmen können, um seine Würdigkeit zu beweisen. Der Stein ist so groß, dass man ihn nicht mit den Armen umfassen kann. Die Einheimischen sind froh dass das Ritual gelockert wurde. „Sonst wären die Dörfer heute ausgestorben.“
- Der erste Skitag in Mestia: Mich laust der Affe. Oder besser gesagt Meister Petz. Da rennen doch tatsächlich Braunbären im Skigebiet herum. Die beiden Bären wurden als Jungtiere hierhergebracht und gefüttert. Mittlerweile haben sie an die Menschen gewöhnt und tollen ungestört auf dem Parkplatz rum.
- Am Schluss des ersten Skitag in Mestia hielt an der Talstation des Skigebiets das Pistenfahrzeug und fragte uns ob wir noch mal nach oben möchten. Cool, dachten wir, noch eine zusätzliche Abfahrt. Denkste. Kaum oben wurden wir ins Restaurant geschleppt und uns massenweise „Chacha“, gebratene Wurst und Käse aufgetischt. Dann zeigte man uns im letzten Abendlicht einen versteckten „Localrun“ durch den Wald. Wir hatten zuvor mit einem der Typen für ungefähr fünf Minuten gesprochen. Das ist georgische Gastfreundschaft.
- In Mestia rammte Sergio mit dem Knie einen Metallpfosten, der unter dem Schnee begraben war. Es blieb eine tiefe Schnittwunde zurück, die genäht werden musste. Die Großmutter der Gastfamilie arbeitete als Krankenschwester im Spital und organisierte die Behandlung. Nach dem Nähen wollte vom Arzt wissen was das denn koste. Er meinte, 20 Lari (~ 10 SFr) und verließ den Raum. Da kam die Großmutter und sagte mit einem Augenzwinkern, er solle doch einfach gehen ohne zu bezahlen, das sei schon in Ordnung…