Die Station liegt mitten in der Taiga an einem kleinen Fluss und ist gemütlich ausgestattet. Es gibt sogar eine Blockhaus-Sauna mit einem kleinen Steg zum Fluss, wo ein Loch zum Eisbaden in die mächtige Eisdecke geschlagen ist. Valentina, die resolute Köchin, eine Seele von Mensch, begrüßt uns mit einer heißen Suppe.
Kaum haben wir es uns gemütlich gemacht, da geht die Tür auf, und zusammen mit einem eisigen Windhauch stolpert ein Grüppchen junger Menschen mit frostroten Gesichtern in den Raum. Mit ihren altmodischen Polyester-Skianzügen sehen sie genauso aus wie die, die wir in St. Petersburg am Bahnhof getroffen haben. Angeführt werden sie von einem Hünen, der Alexander heißt, wie wir schnell erfahren. Sein breites Gesicht ist rußgeschwärzt und mit kleinen Wunden versehen. Um die rechte Hand, die er allen im Raum für einen kräftigen Händedruck zur Begrüßung entgegenstreckt, trägt er einen alten, blutdurchtränkten Verband. Mit donnernder Stimme dirigiert er seine Begleiter zu uns an den Tisch, und noch bevor alle Platz genommen haben, stehen die Flaschen da und eine lautstarke Verbrüderungsfeier ist im Gange. Wir erfahren, dass sie nur kurz zum Aufwärmen in die Station gekommen sind, eigentlich wohnen sie in Zelten im Wald wie weitere rund Tausend Jugendliche aus St. Petersburg und Moskau. Das Ganze nennt sich „Sapoljarnaja“ und ist eine Art Abenteuerurlaub mit Skitouren, Orientierungslauf und vielerlei andern Übungen in der winterlichen Natur. Das ist vergleichbar mit den Pfadfindern bei uns und hat dort Tradition seit der Sowjetzeit. Diese Pionierkultur ist beliebt und findet immer noch großen Zuspruch.
Wir wundern uns, dass sie in Zelten übernachten, schließlich fällt die Temperatur hier nachts bis unter -30?C. Wegen der Kälte haben sie natürlich versucht Feuer zu machen, da stammen auch die Verletzungen her, doch leider gibt der niederwüchsige Wald hier kein vernünftiges Brennholz her, besonders, da meterhoch Schnee liegt. Mit Kerosin ist es auch nicht optimal. Das rußt sehr stark und gibt kaum Wärme. Aber mit der richtigen Einstellung und viel guter Laune ist alles halb so schlimm. Die Gruppe ist mittlerweile aufgetaut und kichert zustimmend. Wir sind beeindruckt und etwas beschämt. Schließlich sind wir mit unserer High-Tech-Expeditionsausrüstung weit besser ausgerüstet und wohnen hier im Warmen. Ab jetzt wird sich keiner von uns mehr über die Kälte beschweren.
Während der nächsten Tage erkunden wir mit den Motorschlitten die Berge rund um die Station. Wie schon im Umland von Kirovsk finden wir perfektes Snowboardgelände und beste Schneebedingungen – nur ohne rauchende Industrieanlagen. Eigentlich würde man meinen, dass man sich hier in völliger Abgeschiedenheit und Wildnis bewegt, aber das Wissen um Hunderte von Jugendlichen in eisiger Kälte beim Zelten in den Wäldern, nimmt unserem Unternehmen doch viel von seiner Abenteuerlichkeit. Umso mehr, da wir immer wieder Gruppen auf Skiern treffen. Irgendwo im Nirgendwo und kilometerweit von der Geostation entfernt. Manchmal sogar noch in der empfindlich kalten Abenddämmerung, was bei uns daheim in den Alpen fast schon ein Grund wäre, die Bergwacht zu alarmieren. Der Respekt vor unseren russischen Freunden steigt, zumal uns Valodja zu verstehen gibt, dass nichts Besonderes dabei sei. Wenn ihnen kalt würde, wären sie doch in ein paar Stunden Fußmarsch an der Station…
Unsere Zeit geht allmählich zu Ende. Wir versuchen, die letzten Abfahrten besonders bewusst zu genießen. Am Tag unserer Abfahrt, bei 30 cm Neuschnee und strahlendem Sonnenschein mit einem großen Haufen Gepäck vor unserem Gästehaus, bereuen wir die Entscheidung, einen Tag für Sightseeing in Murmansk eingeplant zu haben: Atom U-Boote und Eisbrecher anstatt meterhoher Pulverschneewolken? Doch da biegt der Kleinbus schon um die Ecke…