Am Anfang war das Bild. Und zwar das einer seltsamen Gebirgsformation bei Nacht, wie wir sie so noch nie gesehen hatten. Matthias war darauf gestoßen, als er im Internet nach neuen Wintersportmöglichkeiten im Kaukasus suchte. Doch das hier konnte nicht der Kaukasus sein. Einer Mondlandschaft ähnlich, formierten sich aufgefaltete Bergketten um einen Kessel herum, der mit einem See aus Licht gefüllt zu sein schien. Die flachen Gipfelrücken stürzten zum Betrachter hin jäh ab, und die gleichmäßig abfallenden Grate senkten sich fast geometrisch geordnet in die Vegetationszone hinunter. Die Berge waren massiv schneebedeckt – eine markante Flanke im Vordergrund sogar mit einem Eispanzer überzogen. Der Entschluss war schnell gefasst: Da müssen wir hin!
Bei der Ankunft in Sankt Petersburg fegt ein schneidend kalter Wind zwischen den frisch herausgeputzten Prachtbauten über die breiten Straßen, als wir uns am Abend auf den Weg zu einem der zahlreichen Clubs machen. Alles ist hell erleuchtet. Es schneit, in den vielen Kanälen treiben dicke Eisschollen und unterstreichen die Atmosphäre von Kälte und Frost noch. Es hat -10 ?C. und wir sind völlig durchgefroren. Wie wird das erst in Kirovsk, mehr als 1000 km nördlich von hier? In gut gefüllten Clubs stoßen wir mit vielen Gläsern auf neue Freundschaften an und rufen „Nastrovje!“.
Den Kater am nächsten Morgen bekämpfen wir mit einem Spaziergang entlang der gefrorenen Neva. Es ist zwar immer noch kalt, aber der Schneesturm ist vorüber, und die Sonne strahlt vom Himmel.
Als wir die Festungsmauern des Bollwerks der Peter-und-Paul-Festung entlang zum Nevastrand schlendern, stoßen wir auf ein skurriles Bild: Viele fast nackte Menschen haben sich hier an der Mauer aufgereiht und nehmen stehend ein Sonnenbad. Nur mit Unterhosen oder Badesachen bekleidet halten sie mit großem Ernst ihre Haut der Sonne entgegen. Auf dem schneebedeckten Strandstück neben der zugefrorenen Neva, tragen ein paar ältere Herren, nur mit Unterhosen und Lederhalbschuhen bekleidet, ein Beach-Volleyball-Match aus. Strandtreiben mitten im Winter. Zwar ist es hier sonnig und windgeschützt, aber wärmer als -5?C. dürfte es nicht sein. Ein Stückchen weiter wurde ein Loch in die Eisschicht des Flusses gebrochen. Ob zum Eisbaden oder zum Angeln, erfahren wir nicht mehr. Wir müssen zum Packen ins Hotel. Außerdem ist uns kalt geworden
Vom Ladoga-Bahnhof aus soll es mit dem Zug nach Norden weitergehen. 23 Stunden lang, bis Apatity, kurz vor Murmansk, und ab dort mit dem Auto nach Kirovsk. In der Bahnhofshalle stoßen wir auf andere Wintersportler: Schwer bepackte Jugendgruppen mit museumsreifen Skiausrüstungen bevölkern den Bahnhof. Holzskier mit Riemenbindungen und Schraubkanten, Skistöcke aus Holz und schrille Polyesteranzüge mit wattierten Fütterungen sind der Standard. Einige haben zusätzlich noch Kochgeschirr an die dicken Rucksäcke geknotet.
Da nichts anderes mehr frei ist, haben wir erste Klasse gebucht, und obwohl wir nur jeweils zu zweit in einem Abteil sind, ist der Platz recht begrenzt. Die mürrische Schaffnerin kontrolliert beim Einsteigen sehr genau unsere Fahrkarten und überwacht mit strengem Blick, wie wir mühsam unser sperriges Gepäck in den Abteilen verstauen. Leider lassen sich die Abteilfenster nicht öffnen und auch die Heizung widersteht allen Versuchen, sie herunterzudrehen, sodass schon bald tropische Temperaturen im Abteil herrschen. Nur mit T-Shirt und kurzer Hose bekleidet sehen wir die frostige Landschaft im Abendlicht am Fenster vorbeiziehen. Nach vereinzelten Datschen verlieren sich die Anzeichen menschlichen Lebens bald im gleichförmigen Birkenwald und machen den verschneiten Bäumchen und Büschen der Taiga Platz. Bis auf einige Bahnhöfe und Siedlungen wird sich dieses Bild die ganze Fahrt über nicht mehr ändern. Der Weg zum Speisewagen am anderen Ende des Zuges offenbart eine Dreiklassengesellschaft und macht uns deutlich, wie luxuriös wir reisen. Der Unterschied von der Ersten zur zweiten Klasse hält sich noch in Grenzen. Hier reisen immer vier Leute pro Abteil mit jeweils zwei Liegen übereinander. Aber erst beim Betreten der dritten Klasse sehen wir, wie es auch hätte sein können: Ein Großraumwagen mit Massenlager in zwei Ebenen erstreckt sich vor uns. Hier sind auch die Jugendgruppen untergekommen, und es ist uns ein Rätsel, wo sie ihr ganzes Gepäck verstaut haben. Die Luft ist zum Schneiden, die Geräuschkulisse besteht aus leiser Radiomusik, gedämpften Gesprächen, Schnarchen und Ächzen: Eine Jugendherberge auf Rädern. Wir schieben uns vorsichtig zwischen den eingepferchten Mitreisenden hindurch und haben das beschämende Gefühl, bei Fremden durchs Schlafzimmer zu schleichen.
Das Essen ist erstaunlich frisch und ausgezeichnet zubereitet. Der Fisch wird bei den Zwischenstopps fangfrisch von Händlern auf dem Bahnsteig eingekauft und schmeckt fantastisch. Während des Essens werden wir von zwei ziemlich angetrunkenen jungen Männern mit ein paar Flaschen Wodka zu einer spontanen Verbrüderungsfeier überredet. Die Stimmung wird immer ausgelassener, auch der Nachbartisch beteiligt sich. Wir stoßen an auf die Freundschaft, das Land, die Reise – und auf die Wälder in Sibirien. Dazu wird folgende Geschichte erzählt: Vor langer Zeit sei ein böser Zauberer durch Russland gereist, der alle hübschen Frauen im Land in Bäume verwandelt habe. Na dann Prost!