Zum Inhalt springen

Cookies 🍪

Diese Website verwendet Cookies, die Ihre Zustimmung brauchen.

Details finden Sie in unserer Datenschutzerklärung

This page is also available in English.

Zur Powderguide-Startseite Zur Powderguide-Startseite
Safety-Themen

Der Berg ist kein Frosch

FACETS und der Faktor Mensch

von Lea Hartl 14.12.2015
Lawinenunfälle mit Verletzten oder gar Toten sind selten ausschließlich auf Schneedeckenaufbau, Geländeform und Wetter zurückzuführen. Vielmehr spielt ein bestimmtes Element die oft wichtigste Rolle: Wenn Menschen in Gruppen unterwegs sind, werden Entscheidungen getroffen, die nicht immer die besten sind, und im schlimmsten Fall tragisch enden können.

Es geht um den menschlichen Faktor bei Lawinenabgängen und gefährlichen Situationen am Berg. Welche rein subjektiven Entscheidungen passieren, die mit einer objektiven Betrachtung der Gesamtsituation nichts mehr zu tun haben? Lawinenforscher Ian McCammon hat diese heuristischen Fallen – auf Erfahrung basierende, selbstauferlegte Regeln, die Warnsignale oft verblassen lassen – beschrieben. Die Studie 'Evidence of heuristic traps in recreational avalanche accidents' kann man hier als pdf herunter laden.

McCammon untersucht 598 Lawinenunfälle und weist jedem Unfall einen 'Hazard Score' zu. Dieser Wert beschreibt die Anzahl der Gefahrenzeichen, die es zum Zeitpunkt des Unfalls gab – eine Art Proxygröße für die Lawinengefahr, der sich die Verunfallten ausgesetzt haben. Die meisten Unfälle passierten bei einem Hazard Score von 3-4, es waren also zumindest einige Gefahrenzeichen präsent.

Die verunfallten Personen wurden nach ihrem Ausbildungs- bzw. Erfahrungslevel unterteilt, wobei die Kategorien folgendermaßen gestaltet wurden: „Überhaupt keine Ahnung", „weiß, dass es grundsätzlich Gefahren gibt", „hat Kurse auf Einsteigerniveau besucht und grundlegende Sicherheitsregeln beachtet" und „gut ausgebildet, ausführliche Kurse, hat Stabilitätstests ausgeführt und aktives Risikomanagemennt betrieben". Zusätzlich wurden die Gruppengrößen erfasst.

Aus McCammons statistischen Analysen haben sich verschiedene Verhaltensmuster herauskristallisiert, sowie einige Fallen, in die wir immer wieder tappen. Im englischen Sprachraum hat sich hierfür das Acronym FACETS (Familiarity, Acceptance, Commitment, Experts, Tracks/Scarcity, Social Facilitation) eingebürgert. Die Abkürzung funktioniert auf deutsch leider nicht so gut (VREEBUS?).

Trotzdem hat sich wohl jeder schon mal dabei ertappt, wie er in eine der Fallen stolpert. Die meisten finden sich bei fast jedem gemeinsamen Tag im Schnee. Offensichtlich sind sie alle. Rufen wir sie uns in Erinnerung und spicken sie mit eigenen Erlebnissen.

 

Safety-Themen
presented by

Die Vertrautheit des Geländes „Da kenn' ich mich aus." (Familiarity)

Erfahrene, gut ausgebildete und kompetente Skifahrer und Bergführer sind auf ihrem Hausberg in der Lawine gestorben. Das ist kein Klischee sondern Tatsache. Oft werden untypische Gefahrenquellen, zum Beispiel eine unübliche Windrichtung, die normal sichere Hänge giftig macht, ignoriert, weil man diesen Hang schon zu jeder Tages- und Nachtzeit blind gefahren ist und nicht einmal daran denkt, dass der abgehen könnte. (Mir passiert.) Dieser Faktor ist insofern doppelt gefährlich, als er vor allem dann zu tragen kommt, wenn man allein unterwegs ist und so erst recht auf vertrauten Pfaden bleibt.

In McCammons Studie stellte sich heraus, dass 69% der untersuchten Unfälle in Gelände passierten, dass den Betroffenen laut eigener Aussage sehr gut bekannt war. Besonders gut ausgebildete Personen sind laut McCammon's anfällig für den Faktor „Vertrautheit".

Resignation durch Gruppendruck „Die anderen fahren ja auch." (Acceptance)

Resignation bedeutet, dass man sein vielleicht unsicheres Gefühl dem oft unabsichtlichen Druck der Gruppe "weiterzugehen", "einzufahren" oder "das Cliff zu droppen" resignierend hingibt und gegen das Bauchgefühl handelt. Bekannt, gefährlich, wird aber mit den Jahren besser.

In McCammons Statistik spielt die 'social proof' Falle eine wichtige Rolle. Neben dem klassischen Gruppendruck werden hier auch Faktoren wie „sind überhaupt andere Leute da", oder „gibt es schon Spuren" behandelt. Wieder sind gut ausgebildete Personen hier tendenziell anfälliger, siehe auch die FACETS 'scarcity', 'experts' und 'tracks'. 

Entschlossenheit „So eine Chance krieg' ich so schnell nicht wieder." (Consistency/Commitments)

Hier können einige ungünstige Umstände eine Rolle spielen. Freeriden kostet Geld und Aufwand, zudem hat man nicht immer an genau jenen seltenen freien Tagen jene epischen Verhältnisse, die laut Medien eigentlich jeden Tag herrschen. Passt dann einmal alles zusammen, ist man ungern gewillt, wegen dem bisschen Lawinengefahr kurz unterm Gipfel umzudrehen oder nicht in das gnadenlos schöne Colouir zu droppen. Also geht man oft wider besseren Wissens unnötiges Risiko ein. Geht alles gut, ist man ein harter Hund. Geht es nicht gut, ist man ein toter Hund. Es gibt zu diesem Punkt ein nicht unpassendes Sprichwort in unseren Kreisen, das so oder so betrachtet wahr ist: Ein Berg ist kein Frosch. Er wird dir nicht davonlaufen.

Dieser Faktor betrifft laut McCammon alle Gruppengrößen und Ausbildungslevels gleichermaßen.

Die Experten „Der weiß schon was er tut." (Experts)

Hier spreche ich nicht von geführten Freeride Trips, wo man zu Recht dafür bezahlt, dass man einen Großteil der Verantwortung abgeben kann, um entspannt den besten Powder zu genießen. Dafür sind Freeride Center und gut ausgebildete Leute ja da. Bei unserem Beispiel geht es darum, dass sich in fast jeder Kleingruppe, die am Berg selbständig unterwegs ist, eine Führungspersönlichkeit herauskristallisiert. Das muss nicht absichtlich passieren, und es kann jeden treffen. Vielleicht ist es die lauteste Person, oder der Local, oder diejenige, die vor zwei Jahren eine Lawinenschulung beim Alpenverein gemacht hat und gerade eine neuen Lawinenairbag gekauft hat. In heiklen Situationen, die rasche Entscheidungen fordern, kann das alle Beteiligten in eine ungute Position bringen. Hier gilt es, vorab oder auch unterwegs offen zu diskutieren, wer – wenn überhaupt – welche Kompetenzen mitbringt und auch einsetzen kann. Ein wichtiger Punkt.

Bestätigung „Zwei Spuren im Schnee führ'n herab aus steiler Höh' also ist alles sicher." (Tracks)

Ein Klassiker. "Da sind Spuren, da kann ich fahren." Zum Einen sollte sich inzwischen herumgesprochen haben, dass frische Spuren kein Indikator für die Sicherheit des Hanges sind. Sicherer wird ein Hang erst, wenn er regelmäßig den ganzen Winter über befahren wird und so das Bilden von Gleitschichten verhindert wird. Zweitens und häufiger werden Spuren gerne von Geländeunkundigen als Wegweiser hergenommen. Und das kann leider dumm enden, denn niemand weiß, ob die ursprünglichen Spuren ins Nirvana oder ins Nirgendwo führen. Sehr oft passiert das an einem der berüchtigtsten Berge der Freireiterei, dem Krippenstein. Hier werden an guten Tagen verirrte Freerider im Stundentakt vom Helikopter aus Felswänden geholt, weil sie einer unbekannten Spur nachgefahren sind. (Eventuell steht dann der erste verwirrte Freerider sogar noch da, und man wartet zu zweit auf das teure Lufttaxi. Billiger und weniger blöd wird es dadurch aber auch nicht.)

Ungeduld aufgrund einer außergewöhnlichen Situation „Erster!" (Scarcity)

Und dann kommt es zu jener eher seltenen Situation, in der man sich mit seinem ganzen aufgestauten
Powderfanatismus vor einem unverspurten Hang wiederfindet und zappelig so schnell wie möglich wegstarten möchte. Hinten geiern die Verfolger. Vor dir das weiße Paradies. Jetzt oder nie. In diesem Falle werden oft alle rationalen Entscheidungsstrategien ignoriert. Das ist nachvollziehbar und verständlich, ändert allerdings nichts daran, dass man gerade jetzt für wenigstens ein paar Minuten den Kopf einschalten muss, bevor man sich dem Adrenalinrausch hingibt. Das fällt schwer, ich weiß.

Auch dieser Faktor betrifft alle Gruppen. McCammon weist zudem darauf hin, dass das eigene Empfinden, es stünde einem irgendwas zu, und der Drang dieses etwas gegenüber anderen zu verteidigen, tief in der menschlichen Psyche verwurzelt ist und sich auch in anderen Gesellschaftsbereichen häufig wieder findet.

Soziale Psychotricks (Social Facilitation)

Hier handelt es sich um die seltsame menschliche Angewohntheit, sich in Gegenwart anderer anders zu verhalten, als man es allein tun würde. Im Schnee ist das laut McCammon vor allem für sehr gut ausgebildete und erfahrene Personen relevant. Eine fitte Gruppe ambitionierter und erfahrener Tourengeher lässt sich von einer anderen, ebensolchen Gruppe leichter pushen und man geht quasi gemeinsam ein höheres Risiko ein, bloß weil die anderen auch da sind.

Es ist eingangs erwähnt worden: Viele, wenn nicht sogar alle Punkte dieser (durchaus erweiterbaren) Liste sind ziemlich offensichtlich. Und doch ist es kein Fehler, hin und wieder drüber nachzudenken wenn man draußen unterwegs ist, und Unsicherheiten vor der Gruppe auszusprechen. Gute Freeskier und Skialpinisten entwickeln auch aus diesen psychologischen Aspekten das oft beschriebene Bauchgefühl, das ihnen hilft, zu guten alten Freeskiern und Skialpinisten zu werden.

McCammon über FACETS, aus dem zweiten Teil der sehr empfehlenswerten Powder Magazine features zum Faktor Mensch. 

Stephan Skrobar ist staatlich geprüfter Skilehrer und Skiführer, fährt im Fischer Freeski Team, ist Alpinausbildner für den steirischen Skilehrerverband, Team Manager des Pieps Freeride Teams und Leiter vom Die Bergstation Freeride & Alpin Center. Stephan betreibt auch eine Kommunikationsagentur und liebt gepflegten Punkrock. Beide (Stephan und Punkrock) sind nicht immer ernst zu nehmen.

Fotogalerie

Ähnliche Artikel

Kommentare

Safety-Themen
presented by