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Bergwissen

Welt der Wissenschaft | Neue Perspektiven zu Reduktionsmethode und Co

SLF Studie zu Lawinenrisiko in Abhängigkeit von Gefahrenstufe und Gelände

von Lea Hartl • 06.01.2022
Eine aktuelle SLF-Studie nutzt GPS-Tracks aus der Datenbank von Skitourenguru.ch um Lawinenunfälle in Bezug zur Anzahl der unfallfreien Befahrungen zu setzen. Daraus lässt sich berechnen, welche Gefahrenstufen und Geländeeigenschaften besonders risikoreich sind. Es ergeben sich einige interessante Unterschiede zu den aus der Reduktionsmethode nach Munter bekannten Reduktionsfaktoren.

Regelbasiertes Risikomanagement

Regelbasierte Entscheidungshilfen sind für viele WintersportlerInnen ein zentraler Teil des Risikomanagements. Die Reduktionsmethode von Munter in ihren verschiedenen Variationen, sowie verwandte Anwendungen wie die SnowCard oder Stop-or-Go, erlauben es uns, einen potentiellen Lawinenhang anhand verschiedener positiver oder negativer Faktoren einzuordnen. Wir erhalten eine „Stop“ oder „Go“ Empfehlung.

Alle etablierten regelbasierten Methoden beruhen auf Expertenwissen und der Auswertung von Unfalldaten: Bei welcher Gefahrenstufe gab es in welcher Hangsteilheit und Exposition wie viele Lawinenunfälle? Daraus ergeben sich die bekannten Systeme, mit denen wir anhand von Reduktionsfaktoren (Steilheit, Exposition, Gefahrenstufe, etc.) einen Hang „herunter rechnen“ können, oder auch nicht.

Das Ergebnis der regelbasierten Methoden stellt eine Information darüber dar, wie oft bestimmte Bedingungen bei Unfällen gegeben waren. Beispielsweise: Besonders viele Unfälle passieren bei erheblicher Lawinengefahr im Nordsektor in Gelände steiler als 30°. Also empfiehlt die Methode, diese Situation zu vermeiden.

Risiko – was bedeutet das konkret?

Eine Aussage über Unfallhäufigkeiten ist durchaus nützlich, beinhaltet aber an sich noch keine Information über das Risiko eines Lawinenabgangs in diesem Hang unter gegebenen Bedingungen. Dank der Unfalldaten wissen wir, wo und wie oft etwas passiert ist. Wir wissen aber nicht, wie oft im gleichen Gelände und bei gleicher Gefahrenstufe Skigefahren wurde, ohne dass etwas passiert ist. Somit können wir die Unfälle nicht in ein Verhältnis zur Anzahl der unfallfreien Befahrungen setzen.

In der SLF-Studie wurde "Risiko" definiert als statistische Wahrscheinlichkeit, auf einer Skitour an einem bestimmten Punkt von einer Lawine erfasst zu werden, die Eingang in die Schadenlawinendatenbank des SLF gefunden hat. Somit kann das Lawinenrisiko mit dem Verhältnis Unfälle vs Nicht-Unfälle gleichgesetzt werden, und es gilt:

Risiko bei Stufe 3, >30°, Nord =

Anzahl Lawinenunfälle bei Stufe 3, >30°, Nord  /

gesamte Anzahl Befahrungen bei Stufe 3, >30°, Nord

An sich keine sehr komplizierte Rechnung, wenn wir alle Variablen kennen würden! Unfälle werden oft ans SLF gemeldet und dort in der Schadenlawinendatenbank erfasst, unfallfreie Befahrungen aber nicht. Soll das so definierte Risiko berechnet werden, brauchen wir also trotzdem die Anzahl der Befahrungen.

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GPS Tracks zur Risikobestimmung

Die neue Studie aus der Schweiz nutzt zu diesem Zweck GPS Tracks aus der Datenbank von Skitourenguru.ch. Die GPS Daten werden mit den Unfällen, den Gefahrenstufen und den Lawinenproblemen der Bulletins der jeweiligen Tage kombiniert, um das Risiko als Verhältnis von Unfällen zu Befahrungen in Abhängigkeit von der Gefahrenstufe und dem Gelände zu quantifizieren. So sollen unter anderem folgende Fragen beantwortet werden:

  • Wie ändert sich das Risiko von Gefahrenstufe zu Gefahrenstufe?
  • Wie unterscheidet sich das Risiko in den im Lawinenbulletin erwähnten Höhenlagen und Expositionen vom Risiko in den ĂĽbrigen Geländeteilen?
  • Ist das Risiko abhängig vom vorherrschenden Lawinenproblem?
  • Sind die Reduktionsfaktoren der regelbasierten Methoden zutreffend, oder ändern sie sich, wenn die Anzahl der Befahrungen mit berĂĽcksichtigt wird?

Um das Optimum aus den Daten herauszuholen, und um nicht Ă„pfel mit Birnen zu vergleichen, mussten die Daten zuerst vorbereitet und gefiltert werden:

  • Ausgewertet wurden Daten fĂĽr die Winter 2005/06-2018/19, davor gibt es keine GPS-Tracks.
  • Die GPS-Tracks stammen von Ski- oder Snowboardtouren im freien Gelände. Deshalb wurden auch nur Unfälle von Touren verwendet, und Unfälle aus dem Variantengelände ausgeschlossen.
  • Zudem wurden Nass- und Gleitschneelawinen ausgeschlossen, die Studie bezieht sich also auf trockene Lawinen, bzw. die Lawinenprobleme Neuschnee, Triebschnee, Altschnee und "kein ausgeprägtes Lawinenproblem".
  • Bei den meisten der 784 Unfalllawinen (mindestens eine Person erfasst) ist nur der Anrisspunkt, also der höchste Punkt, bekannt. Um das Gelände besser zu berĂĽcksichtigen, wurde jeweils eine ungefähre Sturzbahn errechnet und daraus ein mittlerer Wert fĂĽr Exposition und Steilheit bestimmt.

Über 7000 aufgezeichnete Touren fließen in die Auswertung ein. Nach Ausschluss von dichtem Wald und sehr flachem Gelände ergeben sich daraus gut 2 Millionen einzelne GPS Punkte im potentiellen Lawinengelände.

Für alle Punkte, also Unfälle und GPS-Punkte, wurde anhand der archivierten Bulletins die damals dort gültige Gefahrenstufe, das Lawinenproblem und die besonders kritischen Expositionen und Höhenbereiche ermittelt, sowie die Geländeeigenschaften (Steilheit, Exposition). Ein gewisser Bereich um die einzelnen Punkte herum wurde mitberücksichtigt (gleiche Methode wie bei Skitourenguru.ch).

Dem Argument, dass die Gefahrenstufe nicht für einen Punkt oder Einzelhang gelten kann, begegnen die Autoren der Studie mit einer Art Gesetz der großen Zahlen: Für sehr viele Punkte (bzw. Einzelhänge) muss es trotz räumlicher Variabilität einen Zusammenhang zwischen der regionalen Stufe und der lokalen Gefahr geben, sonst wäre die Gefahrenstufe als Konzept nutzlos.

Für die Berechnung des Risikos wurde jeder GPS Punkt als „Nicht-Unfall“ gewertet. Somit entspricht das Risiko in dieser Auswertung der Anzahl der Lawinen geteilt durch die Anzahl der GPS Punkte, jeweils für bestimmte Bedingungen (zB: Stufe 3, >30°, Nordsektor, im kritischen Höhenbereich des Bulletins).

Da nicht alle WintersportlerInnen ihre Touren aufzeichnen, spiegeln die GPS Tracks nur einen Bruchteil der tatsächlichen Befahrungen wider. Das Risiko wird also überschätzt. Unter der Annahme, dass unabhängig von den Bedingungen immer der gleiche Prozentsatz der Touren als GPS Tracks den Weg zum Skitourenguru fand, lässt sich dennoch ein relatives Risiko für verschiedene Bedingungen bestimmen. Beispielsweise: Wie unterscheidet sich das Risiko bei „Stufe 3, >30°, Nordhang, im kritischen Höhenbereich des Bulletins“ vom Risiko bei „Stufe 3, >30°, Südwesthang, im kritischen Höhenbereich des Bulletins“?

Ergebnisse

Über 90% der in der Studie berücksichtigten Unfälle passierten bei Gefahrenstufe 2 oder 3. Fast immer war der Unfallort innerhalb der Kernzone des Bulletins, also in den als besonders kritisch beurteilten Höhenlagen und Expositionen.

Die Auswertung der GPS Daten zeigt, dass unterschiedliche Höhenlagen und Expositionen unterschiedlich oft befahren werden. Die bei der Reduktionsmethode nach Munter implizierte Annahme, dass überall gleich viel gefahren wird, stimmt also nicht. Nordhänge wurden 1.7 Mal öfter befahren als Süd- oder Südwesthänge. Bei Stufe 2 fand 71% der Tourenaktivität innerhalb der Kernzone des Bulletins statt. Bei Stufe 3 sogar 86%. Da bei Stufe 3 größere Höhenbereiche und/oder mehr Expositionen in die besonders kritische Kernzone fallen, heißt das aber nicht zwingend, dass bei Stufe 3 weniger auf das Bulletin geachtet wird.

Das Risiko nimmt mit steigender Gefahrenstufe stark zu: Bei Stufe 2 ist das Risiko ĂĽber 5 Mal so hoch wie bei Stufe 1, bei Stufe 3 etwa drei mal so hoch wie bei Stufe 2.

Laut Studienautor Kurt Winkler korreliert das Lawinenproblem erst in den letzten beiden Wintern (2019/20 und 2020/21) mit dem Risiko, also seit die Lawinenwarnung die Lawinenprobleme regelbasiert und damit einheitlicher einschätzt. Neueste, noch nicht in der Studie behandelte Daten zeigen, dass das Altschneeproblem zu Recht gefürchtet ist: Das Risiko ist bei gleicher Gefahrenstufe 1½ Mal so hoch wie bei den anderen Lawinenproblemen. Im Vergleich zur Gefahrenstufe ist dieser Einfluss jedoch deutlich kleiner.

Abhängigkeit von Höhenlage und Exposition

Im Verhältnis zur Anzahl der GPS Punkte („Nicht-Unfälle“) gibt es mit zunehmender Höhe mehr Unfälle, das Risiko nimmt also mit der Höhe zu. Oberhalb von 2700m wurde keine weitere Zunahme festgestellt. Unterhalb der als kritisch angegebenen Höhenlagen ist das Risiko über 5 Mal geringer als in den kritischen Höhen.

In Nordhängen kam es 3.6 Mal so oft zu Unfällen wie in SW Hängen. Da Nordhänge aber auch öfter befahren werden, ist das entsprechende Unfallrisiko (Unfälle / Befahrungen) „nur“ 2.1 Mal höher – hier wird deutlich, welchen Einfluss die Berücksichtigung der Befahrungszahlen auf die Risikoberechnung haben kann.

Während bei der Reduktionsmethode nach Munter die Vermeidung des Nordsektors (NW-N-NE) oder der Nordhälfte (W-N-E) wichtige Reduktionsfaktoren sind, kommen die Autoren der Studie zu dem Schluss, dass die so erreichte Risikominderung geringer ist als angenommen. Man sollte die Reduktionsfaktoren „Verzicht auf Nordsektor/hälfte“ also nicht ausreizen. Bessere Ergebnisse werden erzielt, wenn man die im Bulletin angegebenen Expositionen meidet.

Nach Munter ist das "Gefahrenpotential" innerhalb der Kernzone des Bulletins 4 Mal höher als außerhalb. Dieses Verhältnis entspricht einem Unterschied von etwa zwei Gefahrenstufen. In der Beurteilung ist die Einstufenregel gängig, also die Annahme einer Reduktion um eine Stufe außerhalb der Kernzone (z.B. in der grafischen Reduktionsmethode oder der SLF-Interpretationshilfe zum Bulletin). Die Ergebnisse der Studie entsprechen ebenfalls eher einer Reduktion um eine Stufe.

Der Risikounterschied zwischen zwischen Hängen innerhalb der im Bulletin genannten Kernzone (also Hänge sowohl innerhalb der angegebenen Höhe als auch Expositionen) ist deutlich. Eine noch bessere Differenzierung ist aber möglich, wenn Höhenlage und Exposition getrennt betrachtet werden: Schon wenig unterhalb der kritischen Höhenzone ist das Risiko wesentlich geringer als in der Kernzone, auch wenn man in der kritischen Exposition bleibt. Die Autoren der Studie schlagen daher eine Methode vor, mit der Höhe und Exposition in regelbasierten Entscheidungshilfen deutlicher voneinander getrennt einfließen.

Fazit

In dem nicht nur die Unfälle, sondern Unfälle im Verhältnis zu unfallfreien Befahrungen betrachtet werden, lässt sich besser quantifizieren, wie das Lawinenrisiko mit der Gefahrenstufe und den Geländeeigenschaften zusammenhängt. Auch wenn noch immer viele Fragen über das Risikoverhalten von WintersportlerInnen offen bleiben, unter anderem weil die Datenlage limitiert ist, liefert die Auswertung der GPS Tracks in Kombination mit Unfalldaten interessante Erkenntnisse und Ideen für weitere Untersuchungen.

Zentrale Ergebnisse sind:

  • Höherer Anstieg des Risikos mit steigender Gefahrenstufe als bei Munter angenommen (Munter: Risiko verdoppelt sich pro Stufe. Neue Studie: Risiko vervierfacht sich.)
  • Risiko steigt stark mit der Seehöhe, die Abhängigkeit des Risikos von der Exposition ist geringer als angenommen.
  • Vermeidung von im Bulletin genannten kritischen Höhenbereichen und Expositionen mindert das Risiko stärker als Vermeidung fixer Bereiche (etwa: Verzicht auf Nordsektor).

Ob sich daraus konkrete, neue Handlungsempfehlungen von Ausbildungsorganisationen oder Alpinen Vereinen fĂĽr den Umgang mit regelbasierten Methoden ergeben, wird sich zeigen.

SLF-Empfehlungen fĂĽr die Praxis:

Die Berechnungen machen deutlich, dass wir anhand des Bulletins das Risiko im Mittel massgeblich reduzieren können. Am besten wählen wir schon von Anfang an ein Gebiet mit günstigerer Lawinensituation. Dort kriegen wir mehr Sicherheit mit weniger Verzicht. Sind wir schon irgendwo und müssen mit den Verhältnissen leben, die da herrschen, dann wählen wir bei "erheblich" am besten eine Tour in den im Bulletin nicht erwähnten Expositionen und Höhenlagen, und nicht zu steil. Was etwa vertretbar scheint, können wir mit der grafischen Reduktionsmethode (GRM) abschätzen, die von den Daten besser bestätigt wird als die professionelle Reduktionsmethode. Oder wir machen es uns bequem und wählen eine grüne Tour von Skitourenguru, dort hat ein Algorithmus für uns das statistische Lawinenrisiko aus noch mehr Faktoren berechnet.

Dieses statistische Risiko, also z.B. die Farbe in GRM oder Skitourenguru, nehmen wir als "Referenzwert" mit in jeden Einzelhang. Es ist zwar alles andere als perfekt, aber schon mal eine gute Annahme. Unterwegs sammeln wir Informationen und korrigieren damit in jedem Einzelhang den Referenzwert. Dies umso stärker, je eindeutiger die Informationen sind und je besser wir sie auswerten können. Für einen sehr steilen Hang innerhalb der kritischen Höhenlage und Expositionen bedarf es bei "erheblich" schon guter Gründe, um ihn zu befahren, denn in solchen Hängen ist das Risiko im MIttel besonders hoch.

Trotz gelegentlicher Fehlprognosen aufs Lawinenbulletin hören, lohnt sich. Und trotz gelegentlichen Fehleinschätzungen unterwegs eine besonnene, lokale Risikoeinschätzung durchführen, lohnt sich natürlich auch.

Vorschlag fĂĽr Gefahrenstufenreduktion als Grafik unten und in der SLF News zur Studie.

Link zur Studie:

Winkler, K., Schmudlach, G., Degraeuwe, B., & Techel, F. (2021). On the correlation between the forecast avalanche danger and avalanche risk taken by backcountry skiers in Switzerland. Cold Regions Science and Technology, 188, 103299.

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