GPS Tracks zur Risikobestimmung
Die neue Studie aus der Schweiz nutzt zu diesem Zweck GPS Tracks aus der Datenbank von Skitourenguru.ch. Die GPS Daten werden mit den Unfällen, den Gefahrenstufen und den Lawinenproblemen der Bulletins der jeweiligen Tage kombiniert, um das Risiko als Verhältnis von Unfällen zu Befahrungen in Abhängigkeit von der Gefahrenstufe und dem Gelände zu quantifizieren. So sollen unter anderem folgende Fragen beantwortet werden:
- Wie ändert sich das Risiko von Gefahrenstufe zu Gefahrenstufe?
- Wie unterscheidet sich das Risiko in den im Lawinenbulletin erwähnten Höhenlagen und Expositionen vom Risiko in den übrigen Geländeteilen?
- Ist das Risiko abhängig vom vorherrschenden Lawinenproblem?
- Sind die Reduktionsfaktoren der regelbasierten Methoden zutreffend, oder ändern sie sich, wenn die Anzahl der Befahrungen mit berücksichtigt wird?
Um das Optimum aus den Daten herauszuholen, und um nicht Ă„pfel mit Birnen zu vergleichen, mussten die Daten zuerst vorbereitet und gefiltert werden:
- Ausgewertet wurden Daten fĂĽr die Winter 2005/06-2018/19, davor gibt es keine GPS-Tracks.
- Die GPS-Tracks stammen von Ski- oder Snowboardtouren im freien Gelände. Deshalb wurden auch nur Unfälle von Touren verwendet, und Unfälle aus dem Variantengelände ausgeschlossen.
- Zudem wurden Nass- und Gleitschneelawinen ausgeschlossen, die Studie bezieht sich also auf trockene Lawinen, bzw. die Lawinenprobleme Neuschnee, Triebschnee, Altschnee und "kein ausgeprägtes Lawinenproblem".
- Bei den meisten der 784 Unfalllawinen (mindestens eine Person erfasst) ist nur der Anrisspunkt, also der höchste Punkt, bekannt. Um das Gelände besser zu berücksichtigen, wurde jeweils eine ungefähre Sturzbahn errechnet und daraus ein mittlerer Wert für Exposition und Steilheit bestimmt.
Über 7000 aufgezeichnete Touren fließen in die Auswertung ein. Nach Ausschluss von dichtem Wald und sehr flachem Gelände ergeben sich daraus gut 2 Millionen einzelne GPS Punkte im potentiellen Lawinengelände.
Für alle Punkte, also Unfälle und GPS-Punkte, wurde anhand der archivierten Bulletins die damals dort gültige Gefahrenstufe, das Lawinenproblem und die besonders kritischen Expositionen und Höhenbereiche ermittelt, sowie die Geländeeigenschaften (Steilheit, Exposition). Ein gewisser Bereich um die einzelnen Punkte herum wurde mitberücksichtigt (gleiche Methode wie bei Skitourenguru.ch).
Dem Argument, dass die Gefahrenstufe nicht für einen Punkt oder Einzelhang gelten kann, begegnen die Autoren der Studie mit einer Art Gesetz der großen Zahlen: Für sehr viele Punkte (bzw. Einzelhänge) muss es trotz räumlicher Variabilität einen Zusammenhang zwischen der regionalen Stufe und der lokalen Gefahr geben, sonst wäre die Gefahrenstufe als Konzept nutzlos.
Für die Berechnung des Risikos wurde jeder GPS Punkt als „Nicht-Unfall“ gewertet. Somit entspricht das Risiko in dieser Auswertung der Anzahl der Lawinen geteilt durch die Anzahl der GPS Punkte, jeweils für bestimmte Bedingungen (zB: Stufe 3, >30°, Nordsektor, im kritischen Höhenbereich des Bulletins).
Da nicht alle WintersportlerInnen ihre Touren aufzeichnen, spiegeln die GPS Tracks nur einen Bruchteil der tatsächlichen Befahrungen wider. Das Risiko wird also überschätzt. Unter der Annahme, dass unabhängig von den Bedingungen immer der gleiche Prozentsatz der Touren als GPS Tracks den Weg zum Skitourenguru fand, lässt sich dennoch ein relatives Risiko für verschiedene Bedingungen bestimmen. Beispielsweise: Wie unterscheidet sich das Risiko bei „Stufe 3, >30°, Nordhang, im kritischen Höhenbereich des Bulletins“ vom Risiko bei „Stufe 3, >30°, Südwesthang, im kritischen Höhenbereich des Bulletins“?
Ergebnisse
Über 90% der in der Studie berücksichtigten Unfälle passierten bei Gefahrenstufe 2 oder 3. Fast immer war der Unfallort innerhalb der Kernzone des Bulletins, also in den als besonders kritisch beurteilten Höhenlagen und Expositionen.
Die Auswertung der GPS Daten zeigt, dass unterschiedliche Höhenlagen und Expositionen unterschiedlich oft befahren werden. Die bei der Reduktionsmethode nach Munter implizierte Annahme, dass überall gleich viel gefahren wird, stimmt also nicht. Nordhänge wurden 1.7 Mal öfter befahren als Süd- oder Südwesthänge. Bei Stufe 2 fand 71% der Tourenaktivität innerhalb der Kernzone des Bulletins statt. Bei Stufe 3 sogar 86%. Da bei Stufe 3 größere Höhenbereiche und/oder mehr Expositionen in die besonders kritische Kernzone fallen, heißt das aber nicht zwingend, dass bei Stufe 3 weniger auf das Bulletin geachtet wird.
Das Risiko nimmt mit steigender Gefahrenstufe stark zu: Bei Stufe 2 ist das Risiko ĂĽber 5 Mal so hoch wie bei Stufe 1, bei Stufe 3 etwa drei mal so hoch wie bei Stufe 2.
Laut Studienautor Kurt Winkler korreliert das Lawinenproblem erst in den letzten beiden Wintern (2019/20 und 2020/21) mit dem Risiko, also seit die Lawinenwarnung die Lawinenprobleme regelbasiert und damit einheitlicher einschätzt. Neueste, noch nicht in der Studie behandelte Daten zeigen, dass das Altschneeproblem zu Recht gefürchtet ist: Das Risiko ist bei gleicher Gefahrenstufe 1½ Mal so hoch wie bei den anderen Lawinenproblemen. Im Vergleich zur Gefahrenstufe ist dieser Einfluss jedoch deutlich kleiner.
Abhängigkeit von Höhenlage und Exposition
Im Verhältnis zur Anzahl der GPS Punkte („Nicht-Unfälle“) gibt es mit zunehmender Höhe mehr Unfälle, das Risiko nimmt also mit der Höhe zu. Oberhalb von 2700m wurde keine weitere Zunahme festgestellt. Unterhalb der als kritisch angegebenen Höhenlagen ist das Risiko über 5 Mal geringer als in den kritischen Höhen.
In Nordhängen kam es 3.6 Mal so oft zu Unfällen wie in SW Hängen. Da Nordhänge aber auch öfter befahren werden, ist das entsprechende Unfallrisiko (Unfälle / Befahrungen) „nur“ 2.1 Mal höher – hier wird deutlich, welchen Einfluss die Berücksichtigung der Befahrungszahlen auf die Risikoberechnung haben kann.
Während bei der Reduktionsmethode nach Munter die Vermeidung des Nordsektors (NW-N-NE) oder der Nordhälfte (W-N-E) wichtige Reduktionsfaktoren sind, kommen die Autoren der Studie zu dem Schluss, dass die so erreichte Risikominderung geringer ist als angenommen. Man sollte die Reduktionsfaktoren „Verzicht auf Nordsektor/hälfte“ also nicht ausreizen. Bessere Ergebnisse werden erzielt, wenn man die im Bulletin angegebenen Expositionen meidet.
Nach Munter ist das "Gefahrenpotential" innerhalb der Kernzone des Bulletins 4 Mal höher als außerhalb. Dieses Verhältnis entspricht einem Unterschied von etwa zwei Gefahrenstufen. In der Beurteilung ist die Einstufenregel gängig, also die Annahme einer Reduktion um eine Stufe außerhalb der Kernzone (z.B. in der grafischen Reduktionsmethode oder der SLF-Interpretationshilfe zum Bulletin). Die Ergebnisse der Studie entsprechen ebenfalls eher einer Reduktion um eine Stufe.
Der Risikounterschied zwischen zwischen Hängen innerhalb der im Bulletin genannten Kernzone (also Hänge sowohl innerhalb der angegebenen Höhe als auch Expositionen) ist deutlich. Eine noch bessere Differenzierung ist aber möglich, wenn Höhenlage und Exposition getrennt betrachtet werden: Schon wenig unterhalb der kritischen Höhenzone ist das Risiko wesentlich geringer als in der Kernzone, auch wenn man in der kritischen Exposition bleibt. Die Autoren der Studie schlagen daher eine Methode vor, mit der Höhe und Exposition in regelbasierten Entscheidungshilfen deutlicher voneinander getrennt einfließen.